Ja, man darf wirklich fragen: Geht es noch verlogener beim Spiegel? Die Redaktion schwingt sich im flattrigen blütenweißen Büßerhemd auf, nun an sich selbst investigativ tätig geworden zu sein, während das Blatt rund um diese scheinheilige Inszenierung bloß einfach so weiter macht wie bisher. Nichts hat sich verändert, nichts wird sich verändern.
„Ein Alptraum“ – peinliches Getue ums Gemurkste
Es ist „Ein Alptraum“, eröffnet der Spiegel vermeintlich tief gebeugt und selbstschuldig die große Sause rund um die medienwirksame Selbstbeschmutzung. Und die erste Frage muss hier gleich sein: Wie viel Pathos darf man sich eigentlich noch glaubwürdig aus dem Oberstübchen wringen, während man vorgibt sich gerade brutalst möglich selbst zu geißeln, wenn man besagte Ouvertüre mit einem dramatischen ganzseitigen Foto eröffnet mit der Bildunterschrift: „Blick aus dem Spiegel-Gebäude“? Eine Aufnahme mit Blick auf ein düster verhangenes Hamburg, ganz nebelig und in bedrohlicher Unschärfe.
Wer sich erinnert fühlt an die Volkswagen-Affäre, damals, als die Chorgesänge des Vorstandes darüber nicht aufhören wollten, dass man alles tun werde für eine lückenlose Aufklärung, darf man sich in der aktuellen Spiegel-Affäre auch an den Umgang der Kirche mit ihren Missbrauchsfällen erinnern, als die Bischofskonferenz erklärte, mit einem Bericht wolle man „die Fälle sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche (selbst) aufarbeiten“?
Vorstellbar ist heute alles. Der Spiegel gibt als Produkt ein Versprechen an seine Leser ab. Wäre es also analog zu den VW-Klagen vorstellbar, dass Abonnenten in Sammelklage die Rückerstattung ihrer Abos einklagen könnten nebst Schadensersatz bzw. die Aufkündigung ihrer vertraglich festgeschriebenen Abo-Laufzeiten? Hat der Spiegel in der dunkelsten Stunde auch solche abwegigen Szenarien durchgespielt?
Die Verantwortlichen spielen Aufklärer
Eine Szene steht für die Hamburger ganz am Anfang ihrer Aufarbeitung, wenn der Leiter der Rechtsabteilung beim Spiegel mit dem Personalchef, dem Betriebsratschef und einem designierten Chefredakteur im Büro des Leiters der Spiegel-IT-Abteilung die Köpfe über einem Monitor zusammenstecken, wo gerade der dienstliche Mail-Account des Sünders „geöffnet“ wird. Was für eine Szene. Aber wirklich passiert? Oder nur geklaut aus Florian Henckel von Donnersmarck „Das Leben der Anderen“? Das Misstrauen gegen das Blatt ist gerade ins Bodenlose gefallen. Sorgt nun die Neugierde über den Sound der Bußeübung für höhere Auflagen?
Giovanni di Lorenzo kritisiert weiter die Aufarbeitung der Affäre durch den Spiegel und insbesondere durch den designierten Chefredakteur Ullrich Fichtner, der eine Mischung aus Kulturreportage und Essay dafür gewählt hätte, noch dazu, wo er im Text selbst einen jungen Kollegen einfach aufhängen würde. Wohl besonders verwerflich für di Lorenzo: „Wenn man aber schon so schreibt, dann hätte ich mir gewünscht, dass der Autor, der einer der großen Förderer von Claas Relotius war, auch beschreibt, welche Rolle er selbst dabei hatte und warum er selbst auf diese Art der Schreibe reingefallen ist.“ Ein Satz, der das ganze Versagen zusammenfasst.
Das Interview schließt ab mit einer Frage, die fast versöhnlich auf die Fälschungen von Relotius schaut, wenn der fragende Spiegel bereits die Mitschuld anderer, die Schuld des Lesers sucht: „Das Publikum erwartet heute vielleicht auch große Dramaturgie, weil es das von großen Fernsehserien wie bei Netflix gewohnt ist.“ Für di Lorenzo liegt da tatsächlich der Ansatz zur Deformation, wenn ihm mal ein berühmter Reporter (hoffentlich nicht Relotius selbst) gesagt hätte: „Ich habe seit Jahren keine Geschichte mehr gelesen, bei der ich geweint habe.“ Der Chefredakteur der Zeit hatte geantwortet: „Auch ich habe länger nicht mehr geweint oder gewütet beim Lesen einer Reportage.“
Eigentlich sind die Leser daran schuld…
Ein Spiegel, der sich nur um sich selbst dreht? Auch das nicht. Besonders abstoßend im Fahrwasser dieses desaströsen Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlustes ist noch etwas anderes. Auch diese Ausgabe im Büßerhemd zeichnet vor allem eines aus: Die Redaktion ist keineswegs gewillt, sich zu verändern. Es sieht vielmehr so aus, als ginge es zunächst einmal darum, den Aufruhr um den Betrug am Leser auch noch gewinnbringend für sich zu vermarkten. Doch, doch, so verhalten sich exaltierte Dandys auf einem untergehenden Schiff, dann, wenn es keine Rettungsboote gibt, man sich aber zu fein ist, selbst ein paar Züge im Haifischbecken der anderen zu schwimmen: So stellt man sich halt an die Bar und trinkt noch ein paar Flaschen vom teuersten Champagner, bevor man elend absäuft und schön besoffen von sich selbst verendet.
Was gibt es noch rund um die große Bußeübung? Der Berichterstattung in der gedruckten Ausgabe vorangestellt ist beispielsweise eine Chronologie der Ereignisse von Chemnitz. Und es ist sofort entsetzlich peinlich, wenn der Eindruck sich verstärkt, es ginge auch hier nur um ein Alibi, darum, endlich einmal zu zeigen, dass man auch faktisch berichten kann, so wie ganz früher, eben getreu dem diese Ausgabe vorangestellten Motto des Blattgründer: „Sagen, was ist.“ Peinlich, weil eben in den letzten Jahren andere übernommen haben. Die Leerstelle dort, wo Rudolf Augstein gesagt haben wollte, was ist, wurde einfach zu groß. Die Idee, Meinung zu machen, indem man sagt, was ist, wurde beim Spiegel dahingehend pervertiert, das man Meinung machte und so vom eigenen Einfluss überzuckert war, das man meinte, diese Meinung von dem was sei, würde dann schon automatisch zu dem werden, was ist.
Und die Verleumdungsmasche geht weiter
Das gleiche dort, wo man sich der Kritik an den Fälschungen stellen wollte und seitenweise angebliche Kritiker zu Wort kommen lässt, Portale wie Übermedien eines ehemaligen Mitarbeiters zitiert werden ebenso, wie die Zeitung „Der Freitag“ ihres Miteigentümers Jakob Augstein. Besser kann man die Farce hinter dieser Selbstreinigung kaum erzählen: Der Adlige stinkt ungewaschen. Er pudert sich die Nase. Aber nur ein bißchen. Und wenn er einfach nur weiter stinkt, zeigt er empört mit dem Finger auf andere.
Statt zu „Sagen, was ist“ spielen die betrogenen Betrüger jetzt Aufklärer.