Nein, keine Schadenfreude. Die Selbstgefälligkeit vieler Kollegen – geschenkt. Ich fühle mich selbst betroffen, solange ich Journalist bin. Der Fall Relotius ist verheerend für den ganzen Berufsstand. Wer nun mit Entsetzen auf die zerbrochene Edelfeder zeigt, schreit: Haltet den Dieb!
I.
Im Fernsehen kann der Reporter weniger leicht erfinden. Ton und Bild sind stets dokumentiert, sollte man meinen. Aber die Realität ist natürlich eine andere. Im Fernsehen wird ganz legal gefälscht, jeden Tag. Die Fälschung ist eine beliebte, allseits anerkannte Gattung. Man nennt sie „scripted reality“. Zu deutsch: Erfundene Wirklichkeit. Abartigkeiten wie „Schwiegermutter gesucht“ gehören ebenso dazu wie „Information“ a lá „Auf Streife“. In meinem Medienwissenschaftsseminar an der TU Berlin referierten in dieser Woche zwei Studentinnen über Scripted Reality und fügten als Beispiel: „Klartext“ hinzu, Bundeskanzlerin Angela Merkel im Gespräch mit Wählern, eine ZDF-Produktion. So wie die Bürger dieser heimeligen Regierungs-TV-Runde gecastet, ihre Fragen vorbesprochen und auf dem Spickzettel des Chefredakteurs tatsächlich bereits zu sehen waren, eine nachvollziehbare Zuordnung.
II.
Die Bildsprache des Fernsehens folgt der Ästhetik der Werbung und des Kinos. Schnittfolge, Musik, digitales Tuning, ständige Kamerabewegungen, permanente Reizüberflutung. Deshalb ist auch „Infotainment“, die verhängnisvolle Kreuzung aus Information und Unterhaltung, längst ein veralteter Begriff. Es gibt gar keine reine Information mehr. Alles ist immer auch Unterhaltung. Der Journalist unter Quotendruck befindet sich im permanenten Abwehrkampf gegen Langeweile. Wir sind süchtig nach Information, weil wir süchtig nach Zerstreuung sind. So kommt die Seichtigkeitsspirale in Gang, nicht weniger gefährlich als die Schweigespirale, (die einst Noelle-Neumann beschrieb).
III.
IV.
Claas Relotius hat das Weltgeschehen in diesem Sinne koloriert. Er ist weiter gegangen als andere, aber er hat im Grunde nichts anderes gemacht. Auch er hat das Lagerfeuer der Gefühle angeblasen. Entsetzen, Betroffenheit, Empörung sind die Hauptzutaten der großen medialen Verwurstung. Relotius war mit allen seinen Geschichten vor allem ein blendender Gefühlsakrobat. Die Verpackung (bei Relotius sagt man feiner: Stil) wird für wichtiger gehalten als inhaltliche Präzision, Logik und Skepsis. Wer mit Emotionen arbeitet, erspart sich Recherche. Gefühle erleichtern die Arbeit und erhöhen die Resonanz. Damit lassen sich Vorgesetzte und Preisjurys ebenso ködern wie Leser und Zuschauer.
V.
Zu den Ursachen: Gute Quoten, Zustimmung, Preise werden zur Droge, wenn journalistische Werte und Überzeugungen fehlen. Die Qualitätspresse verkommt, nicht anders als das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Die Krankheit hat einen Namen: Gefallsucht. Was aber ist Erfolg für guten Journalismus? Allein die messbare Resonanz sicher nicht. Guter Journalismus setzt selbst die Themen, hetzt nicht der Regierungsagenda oder dem Zeitgeist hinterher. Gute Journalisten sind keine Lautsprecher. Es ist jedoch allemal leichter, das Publikum für das zu interessieren, was schon Geräusche produziert. Auch das Weglassen, das Wegschauen ist Fälschung. Wenn etwas nicht gebracht wird, nur weil es nicht emotional, grell und erregend genug ist. Oder nicht in die gewünschte Richtung passt. Am einfachsten sind die Geschichten zu verkaufen, die Vorurteile und aktuellen Gefühlswogen bestätigen. Claas Relotius wurde zum Star, weil er dem Mainstream Zucker gab. Ein hoch begabter Opportunist. Schämen sollten sich die, die ihn dazu anhielten, darin bestärkten und dafür auch noch prämierten.