Tichys Einblick
référendum d’initiative citoyenne

Gelbwesten, Akt V: Demonstranten fordern mehr Mitbestimmung

Die Gelbwesten haben sich nun endgültig politisiert. Längst schon geht es ihnen nicht mehr nur um niedrigere Benzin- und Dieselsteuern, sondern um mehr direkte politische Mitbestimmung. Kai Horstmeier berichtet für TE aus Lyon.

ROMAIN LAFABREGUE/AFP/Getty Images

Das neue Zauberwort bei den Protesten der Gelbwesten in Frankreich lautet “RIC“ und steht für “référendum d’initiative citoyenne“, das heißt soviel wie auf Bürgerbegehren basierende Referenden zu universellen Fragen, die die Franzosen einreichen dürfen sollen, wenn sie per Online-Petition mindestens 700.000 Unterstützer finden. Danach soll die Frage allen Franzosen zur Abstimmung vorgelegt werden. Die Forderung nach mehr direkter Mitbestimmung war an diesem Samstag bei allen Demonstrationen im Land zu sehen, es scheint gegenwärtig der kleinste und zentrale gemeinsame Nenner der Forderungen der Gelbwesten zu sein.

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Mit dem “RIC” sollen Gesetzesvorschläge ermöglicht werden, die Franzosen sollen damit Abgeordnete abwählen und die Verfassung ändern können. Auch internationale Verträge wollen die Gelbwesten zunächst einem Referendum unterziehen. Gefordert haben derartige Volksabstimmungen bereits im Präsidentschaftswahlkampf die Chefin des rechtsextremen “Rassemblement National“, des einstigen “Front National“, Marine Le Pen, oder Jean-Luc Mélenchon, Vorsitzender und Abgeordneter der linken “France Insoumise“. Auch die nationalkonservativen Politiker François Asselineau und Nicolas Dupont-Aignan setzten sich für derartige Volksbegehren ein.

Die Gelbwesten haben sich nun endgültig politisiert. Längst schon geht es ihnen nicht mehr nur um niedrigere Benzin- und Dieselsteuern, sondern um mehr direkte politische Mitbestimmung. Marc diskutiert mit einer Gruppe Gleichgesinnter direkt neben dem Denkmal von Ludwig XIV auf der zentralen “Place Bellecour“ im Herzen Lyons. Der 56-jährige Informatik-Ingenieur ist seit drei Monaten arbeitslos und engagiert sich bei den Gelbwesten. “Heute gibt es eine politische Dimension in der Bewegung“, sagt er, “Europa muss sich endlich zusammen mit den Menschen konstruieren und nicht gegen sie. Wir haben mit den Benzinpreisen angefangen, aber das war nur der Auslöser. Inzwischen ist die Bewegung etwas viel Stärkeres geworden. Europa braucht eine Vision für seine soziale Zukunft.“ Er sei nicht politisch, betont Marc, “aber ich denke, dass ein gewisser Herr Mélenchon den Eindruck macht, dass er den politischen Diskurs fortführen kann.” Die von Präsident Emmanuel Macron gegebenen Zusagen hält Marc – wie die meisten Gelbwesten – für unzureichend.

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Macron hatte sich am vergangenen Montag in einer 13-minütigen Fernsehansprache an die Franzosen gewandt und einen “wirtschaftlichen und sozialen Notstand” ausgerufen. Dabei machte er den Menschen im Land im Wesentlichen vier Zusagen: Der monatliche Mindestlohn soll um 100 Euro erhöht werden, Rentner mit weniger als 2.000 Euro im Monat sollen kaum noch Sozialabgaben zahlen müssen, Überstunden sollen zukünftig abgabenfrei sein. Außerdem sollen profitable Unternehmen ihren Angestellten von Ende 2019 an steuerfreie Zusatzzahlungen leisten.

Das würde nach Schätzungen der Regierung rund zehn Milliarden Euro kosten – und die französische Neuverschuldung im kommenden Jahr wohl über die Drei-Prozent-Defizitmarke des EU-Wachstums- und Stabilitätspakts treiben. Dabei hatte die EU-Kommission in diesem Jahr erstmals seit neun Jahren das Defizitverfahren gegen Frankreich eingestellt. Nach Auffassung von Macrons Regierungspartei “La République en Marche” sind das enorme Zugeständnisse, und tatsächlich sank die Zustimmung der Franzosen zu den Protesten der Gelbwesten in der vergangenen Woche von 75 auf “nur” noch 54 Prozent. Das französische Meinungsforschungsinstitut IFOP stellte allerdings auch die Frage nach der Popularität Macrons. Demnach würden, wären jetzt Europawahlen, 27,5 Prozent der Franzosen für Macrons Partei stimmen – genauso viele wie für Le Pens “Rassemblement National“. Nur noch 23 Prozent der Franzosen zeigen sich zufrieden mit der Politik des Präsidenten.

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Dazu kommt: In der vergangenen Woche hielten die Franzosen die Luft an, ein Terroranschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt erschütterte die Nation. Fünf Todesopfer und zwölf Verletzte führten dazu, dass Innenminister Christophe Castaner die Gelbwesten dazu aufforderte, ihre Proteste abzubrechen oder zumindest auszusetzen. Und tatsächlich könnte man meinen, dass viele Anhänger der Bewegung dem Aufruf gefolgt sind. Nach Angaben des Innenministeriums gingen an diesem Samstag landesweit nur noch 66.000 Gelbwesten auf die Straße, am Samstag zuvor waren es noch 123.000. Auf Bilder von brennenden Autos und Gewaltexzessen wartete man vergebens. In Paris wurden 179 Demonstranten vorübergehend festgenommen. Zum Vergleich: Am 8. Dezember waren es gut 1.400.

Keine Spur von Resignation hingegen auf der “Place Bellecour” in Lyon. Gut 1.000 Gelbwesten haben sich hier versammelt, sie geben sich weiterhin kämpferisch. Giselle ist 50 Jahre alt und betreibt eine Autowerkstatt in Lyon. “Macron wirft uns Krümel hin, darauf fallen wir nicht herein“, sagt sie. “Er hat nichts Konkretes vorgeschlagen, wir machen weiter, solange es nötig ist.“ Auch Marc nennt die Zusagen Macrons “Schaum auf dem Bier“. Robert ist Rentner. Der 63-jährige erregt Aufmerksamkeit mit seinem Pappschild. Die Gelbwesten auf dem Platz amüsieren sich darüber, viele wollen ihn fotografieren. “Ich bin so wütend, dass ich ein Spruchband gemacht habe”, hat er draufgeschrieben. Auch Robert sagt, die Zugeständnisse Macrons hätten für ihn nicht viel geändert. Das sei doch alles Blabla. “Ich meine, dass seit Beginn des Konflikts viele Menschen das Gleiche denken: Wir haben genug, wir können nicht mehr menschenwürdig leben. Man muss etwas tun, er muss uns zuhören. An unseren Forderungen hat das nichts geändert. Wir werden bis zum Ende weitermachen“, zeigt er sich entschieden.

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Auf der “Place Bellcour” sitzt man in der Falle. Noch bleibt es friedlich, die Gelbwesten marschieren von einem Ende des Platzes zum anderen, denn die Gendarmerie hat sämtliche Aus- und Zugänge blockiert. Während wir darauf warten, dass der Protestzug sich doch noch in Bewegung setzen kann, nehmen wir noch ein Flugblatt der “UPR” mit. Darin verweist die rechtsnationale “Union Populaire Républicaine” des einstigen Präsidentschaftskandidaten François Asselineau auf ihre Stellungnahme zum Migrationspakt von Marrakesch. “Was denkt die Armee?“, heißt es darin. Unterzeichnet haben mehrere Generäle, Asselineau verlangt, dass Präsident Macron den Migrationspakt nicht unterzeichnet, er müsse einem Referendum unterzogen werden. Es handle sich um “Verrat an der Nation“. Die Finanzen Frankreichs erlaubten die Aufnahme weiterer Migranten nicht, mit der Unterzeichnung des Paktes gieße Macron nur weiteres Öl ins Feuer. Man komme ja wohl nicht umhin, die Sicherheit für die französische Bevölkerung zu gewährleisten. Es sei unmöglich, Menschen völlig verschiedener Kulturkreise zu intergrieren, Macron dürfe nicht im Alleingang darüber entscheiden, dass den Franzosen ihr kulturelles Erbe genommen werde. Asselineau erhielt knapp 0,9 Prozent bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr. Das Flugblatt wird seinem Parteigenossen aus der Hand gerissen.

Noch ist es friedlich auf der “Place Bellecour”. Die Gelbwesten laufen im Kreis, gegen 15 Uhr öffnen die Sicherheitskräfte dann doch ein Schlupfloch und lenken den Protestzug über die Uferstraße der Rhône in die Innenstadt. Die Gelbwesten wollen zum Rathaus, zur “Place des Terreaux”, um dort ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Doch die Rechnung geht nicht auf: Noch vor der Ankunft auf der Geschäftsstraße “Rue de la République“ teilen die Sicherheitskräfte die Demonstration in zwei Teile. Die eine Hälfte erreicht die “Place des Cordeliers“, von dort aus sind es nur noch wenige hundert Meter bis zum Rathaus. Wer gemeint hat, der Rest gehe nun ganz einfach, der hat sich geirrt. Erste Tränengas-Granaten fliegen. Die Polizei will die Demonstration zunächst zersplittern, dann ganz auflösen.

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Das Viertel um Oper und Rathaus ist komplett abgeriegelt. Wie eine Wurst haben die Sicherheitskräfte den Zug der Gelbwesten zunächst in der Mitte durchteilt und dann in Scheiben geschnitten. Die Demonstranten wollen sich wieder zusammenschließen, ein Durchkommen gibt es aber nicht. Die Gelbwesten versuchen zu verhandeln. Friedlich. Und fordern die Sicherheitskräfte auf, sich ihnen anzuschließen. Vergeblich. Sie knien nieder auf dem Asphalt, heben die Hände über den Kopf, um so ihren Pazifismus zu bekunden. Langsam steht die Gruppe von 30, 40 Gelbwesten auf und nähert sich mit erhobenen Händen den Polizisten, die ihnen in voller Rüstung gegenüber stehen. Die Antwort: Tränengas. Die Augen brennen, Hustenreiz. Die Demonstranten versuchen, sich in die Seitenstraßen zurückzuziehen und dem Tränengas zu entkommen. Aber auch die Seitenstraßen sind zum Ende hin blockiert, man sitzt in der Falle. Mehr Tränengas. Eine Festnahme. Schließlich gelingt es einer kleinen Gruppe doch, eine der Seitenstraßen zu erreichen. “Das ist die Freiheit Macrons“, sagt einer, der ein Tuch über Mund und Nase gezogen hat, um sich vor dem Tränengas zu schützen.

In den Seitenstraßen beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, das Ziel ist offenbar, die Gelbwesten aus dem Viertel zu jagen. Nach einer halben Stunde ist der Spuk vorbei. Ein paar Geschäfte haben vorübergehend ihre Eisengitter heruntergelassen. Jetzt öffnen sie wieder. Lediglich der Busverkehr bleibt noch eine gute Stunde lang unterbrochen. Die Weihnachtseinkäufe können unbehelligt weitergehen. Die Bilanz in Lyon: neun vorübergehende Festnahmen, sechs verletzte Polizisten. Sachschaden gab es nicht. Die Gelbwesten haben indes zu Akt VI aufgerufen. Am kommenden Samstag in Lyon, zwei Tage vor Weihnachten.


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