Der Hausarzt weiß das: Senioren leben jahrelang unauffällig im kleinen Kreis von Wohnung, Familie und Nachbarschaft, versorgen sich selbstständig und gewöhnen sich rituell an die kleinen Zipperlein und die enge Umgebung. Aber der Eindruck täuscht. Innerlich werden sie schwächer, „höhlen“ quasi aus, und dann – eines Tages – genügt eine kleine Verletzung beim Zwiebelschneiden, und schon überstürzen sich plötzlich die Befunde. Das System „Körper-Organe-Kreislauf“ bricht kaskadenartig zusammen. Die Ärzte sind hilf- und fassungslos.
Die Partei, die in den 1970er-Jahren den Muff der Adenauer-Kiesinger-Ära mit einer modernen Gesellschaftspolitik lüftete. Die Partei, mit der Gerhard Schröder eine blockierte Gesellschaft lockerte und Reformen durchkämpfte, die „den kranken Mann Europas“ auf die Beine brachten und den Sozialstaat vor der Überforderung bewahrten.
Es tröstet nicht, dass sämtliche Sozialdemokratien Europas ihr Schicksal teilen oder vom Wähler schon schlimmer abgestraft wurden. Dies, obwohl doch Kernziele ihres Genoms wie noch nie in der Geschichte auf breiter Ebene verwirklicht wurden. Das Bekenntnis zur Marktwirtschaft, gepaart mit der sozialdemokratischen Überzeugung, dass niemand mit dem gemeinsam Erwirtschafteten durchgehen darf, ist gesellschaftlicher Konsens.
„Niemand liebt dich – wieso ich?“
Offenbar gibt es auf der Sachebene kaum Gründe. Trotz lähmender Selbstfindungsprozesse der Großen Koalition sind Ergebnisse vorzuweisen. Es gibt aber ein Problem ganz anderer Logik. Die Beziehungsebene ist gestört. Man kann machen, was man will, es kommt nicht an. Im Ruhrgebiet sagt man: „Niemand liebt dich – wieso ich?“ Man setzt fleißig Segel, aber es herrscht Flaute. „Als wir unser Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengung“ (Mark Twain).
Kommunikation ist nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts. Menschen machen Geschichte. Menschen und das Menschliche, selbst das allzu Menschliche, sind entscheidend. Auch besten Absichten unterstellt man schlechte, wenn man den Boten nicht mag, ihm nicht mehr traut.
Dabei haben Sozialdemokraten doch ein Herz für die Beladenen. Warum haben just sie ein größeres Übersetzungsproblem als andere? Ihre Botschaften zünden nicht. Ihre Selbstbezogenheit irritiert. Das kann nur eines bedeuten: Entfremdung. Entweder man spricht nicht mehr die Sprache der Leute, oder man bietet Lösungen für Probleme, die sie nicht haben, oder ignoriert die, die sie haben. Das begründet das Unverständnis und Misstrauen. Einen Satz höre ich im Volke ständig: „Auf uns hört ja keiner.“ Wenn Volksparteien dem Volk nicht zuhören, hört das Volk auf andere.
Da hilft keine „Wir meinen es doch gut“-Beteuerung. Da hilft auch keine emsige Suche nach Schuldigen. Da hilft nicht, nach jedem Wahldebakel mantrahaft die brutalstmögliche Kurskorrektur zu fordern. „Jetzt muss alles auf den Tisch“, glaubt niemand mehr, wenn tags darauf alles wieder unter dem Teppich landet. Im Albtraum ist es zwecklos, dem Verfolger mit erhöhter Anstrengung entkommen zu wollen. Es hilft nur der Umstieg auf eine andere logische Ebene. Es hilft nur Aufwachen.
Es geht nicht mehr um Konzepte, die in die Krise geraten sind, sondern um die Krise, aus der sich Konzepte ergeben müssen. Das Konzept gegen Angst ist nicht „Sei offen für Neues und fürchte dich nicht!“, sondern einladende Freundlichkeit, gelebte Zuversicht, mitreissender Schwung, leidenschaftlicher Gestaltungwille, ein „New Deal“ aus realen Elementen mit verlockendem Ziel.
Wem Leidenschaft abhandengekommen ist, der kann bei anderen keine wecken. Die Dinosaurier sind behäbig und traurig geworden. Vor dem Bau eines Schiffes stehen nicht ein Haufen Holz, Eisen und Leinwand, auch nicht ein ödes Geschacher um Posten, sondern die Sehnsucht nach neuen Ufern.
Den Wähler gibt es nicht mehr, der nibelungentreu sein Kreuzchen setzt, wo schon Vater und Großvater es setzten. Historische Verdienste sind ihm schnuppe. Große Namen machen ihn nicht mehr andächtig. Für ihn gilt „hire and fire“. Er fragt nicht nach Zeugnissen, Titeln und Referenzen, aber nach Kompetenzen, er fragt nur noch: „Can you do the job?“ Verkündigungen und Verkünder gibt es im Übermaß – Bindung, Identifikation und Kompetenzzuweisung weniger.
Lust auf charismatische Neulinge
Es gibt eine junge Generation, die für ihre Lebensplanung neue Akzente setzt. Es gibt einen unbändigen Hunger auf interessante Konzeptionen. Wieso sind Christian Lindner und Joachim Stamp eigentlich einsam, wenn sie eine ganze kluge „FAZ“-Seite zum drängenden Thema Zuwanderung abliefern? Wo bleiben andere Kluge, die ihre Konzepte offenlege] Es gibt eine Lust auf charismatische Neulinge, die für Überraschungen gut sind. Es gibt einen Widerwillen gegen leere Worthülsen und selbstgefällige Machtspielchen. Der offenbar nicht altersmilde CDU-Grande Wolfgang Schäuble komponiert auf dem Notenblatt einer Schweizer Zeitung das Halali auf seine Vorsitzende. Deren Fortune zerbröselt. Man ist mitgefangen, will aber nicht mitgehangen werden. Gegen Sigmar Gabriel konnten Journalisten seit Langem die gehässigsten Kommentare und Geschichten bei Parteifreunden abholen. Seine Demontage hat wie Schmierseife auf der Wählerrutschbahn nach unten gewirkt.
Wenn die AfD beinahe 20 Prozent der Wähler mit der Hoffnung, endlich verstanden und angenommen zu sein, bedient, gibt es immerhin 80 Prozent, die davon noch nicht beeindruckt sind. Wer die nicht wahrnimmt, weil er wie das Kaninchen auf die Themen-Schlange der Populisten starrt, verkauft sich unter Wert. Wer die nur verteufelt, die als Problem Empfundenes benennen, stärkt sie. Reale oder gefühlte Probleme suchen Lösungen.
Unruhige Generation misstrauisch
Die unruhige Generation hat Fragen und fordert Antworten. Sie misstraut einem System, bei dem Tricks und Täuschung zum Repertoire des Machterhalts gehören. Sie misstraut auch einem militärisch-politischen Komplex, der mit der Abrissbirne durch die Friedensarchitektur der Welt brettert und an den Pulverfässern zündelt. Sie misstraut zudem einer totalen Industrialisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche, einer „Elite“, die ihre Gewinne privatisiert und ihre Verluste vergesellschaftet, und einer Globalisierung, die wenigen nutzt und zu vielen schadet.
Die neue Generation besteht nicht aus autistischen Smartphone-Junkies. Sie lebt in vielen Gemeinschaften. Sie ist bündnisfähig mit allerlei Kräften und Gruppen, die für eine wohnliche Zukunft im „Raumschiff Erde“ arbeiten. Sie demonstriert zu Hunderttausenden gegen nationalistische Abschottung. Sie fordert soziale Chancengerechtigkeit, zieht dafür aber nicht mehr rote Socken an.
Diese Generation stürmt auch keine Maschinen, denn sie will eine moderne und leistungsfähige Wirtschaft. Sie bestreitet ihr nicht das Recht, sich im nationalen und internationalen Wettbewerb behaupten zu wollen. Aber sie stemmt die Hacken in den Sand, wenn die Freiheit des Marktes parasitäres Verhalten legitimieren soll oder von Monopolen lächerlich gemacht wird.
Stramm Parteiliche sind von Natur aus denkfaul. Sie lieben es ordentlich und übersichtlich. Der unbekannte Wähler ist ihr „Projekt“, und er soll in ein Schema passen. In der „Nacht der langen Gesichter“ sind sie enttäuscht, fast beleidigt, wenn er ihnen mal wieder entkommen ist. Er tickt nämlich völlig anders. Er hat zwei, drei oder noch mehr Seelen in seiner Brust und heute eine andere als morgen. Schwarz-Weiß ist ihm lebensfremd. Seine Wirklichkeit hat bunte Farben und gleitende Übergänge. Er lässt sich ungern aufs Hochseil locken, gern aber in eine freundliche Landschaft, in der er sich entfalten und mit anderen unterhaken kann.
Die Grünen machen es gegenwärtig vor. Sie setzen neuerdings nicht mehr auf den Reinraum politischer Weltrettung und Bevormundung, sondern machen ein Angebot kleiner Schritte auf dem richtigen Weg und zeigen Lebensfreude. Die Führungsriege scheint sich gegenseitig zu mögen. Ein abwägend nachdenklicher Habeck und eine frische Baerbock haben Besseres und Wichtigeres zu tun, als mit dem Dolch im Gewande herumzulaufen.
Markus Söder war sichtlich erstaunt, als sie ihm nach der Bayern-Wahl nicht mit hämischem Triumph begegneten, sondern problemlösende Gesprächsbereitschaft signalisierten. Plötzlich erschien die Option Freie Wähler (dort ging es sofort um Ministerpöstchen) als Klein-Klein eines alten Denkens und nicht als Aufbruch zu neuen Ufern.
Vielleicht gibt es ehrenwerte Motive
Nicht auszudenken, wenn die SPD-Genossen plötzlich den Grünen oder gar Wählern der CSU und den „Freien“ ehrenhafte Motive unterstellten, anstatt sie als „Gottseibeiuns“ an die Wand zu malen. Das heroisch Luther’sche „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ ist angestaubt. Wie wäre es mit: „Hier gehe ich, ich kann nämlich auch anders.“
Alle historisch durchaus verdienstvollen Traditionsparteien stehen vor der Aufgabe, Vertrauen wieder aufzubauen, das sie vergeudet haben; nicht nur Vertrauen in ihre spezielle Kompetenz oder einzelne Personen, sondern in das politische System schlechthin. Das nämlich ist kein Kramladen für Geschenke und schon gar kein Tempel für den Gott des Gemetzels, sondern eine moderne und intelligente Methode wahrheitssüchtiger Kommunikation. Das nennt man auch Aufklärung. Die ist eine Mischung aus Wahrheitsliebe und Popularisierung. Sie wurde mühsam erkämpft, und wir wollen sie behalten.
Bodo Hombach organisierte die wiederholte sozialdemokratische Mehrheit unter Johannes Rau, den erfolgreichen Bundestagswahlkampf von Gerhard Schröder und war Chef des Kanzleramtes, Sonderkoordinator des Stabilitätpakts in Brüssel und Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe. Er ist Präsident der Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik in Bonn (BAPP).