Nach der Lehman Pleite vor zehn Jahren schworen Politiker aller Couleur auf globalen Krisentreffen, dass sich eine derartige Krise, die Schockwellen über den gesamten Erdball aussandte, nicht mehr ereignen dürfe. Gegen hochspekulative und intransparente Finanzprodukte sollten starke Brandmauern errichtet werden. Die Risikopuffer im Eigenkapital der Banken etwa sollten auf ein gesetzliches Niveau gezwungen werden, bei dem dann die Anteilseigner haften könnten und nicht die Steuerzahler in die Bresche springen müssten. Man wollte auf ein Trennbankensystem setzen, bei dem das Investment-Banking klar vom traditionellen Bankgeschäft getrennt wird. Und nicht zuletzt wollten viele Politiker das mahnende Wort des weisen früheren US-Notenbankchefs Paul Volcker aufgreifen: „To big to fail!“ Weil die schärfste Waffe gegen riskante Geschäfte im Kapitalismus die Angst vor dem Totalverlust darstellt, müssen selbst große Unternehmen in die Insolvenz geraten können, ohne andere mitzureißen. Deshalb sind Oligopole, ob in der Finanzwelt oder in der Wirtschaft generell, der Feind jeder marktwirtschaftlichen Ordnung. Schützt den Kapitalismus vor den Finanzkapitalisten! Auf diese ketzerische Formel ließ sich die damalige Stimmungslage bringen, als die Welt in den Abgrund schaute und die Wirtschaftsleistung in Deutschland in einem einzigen Jahr um gut 5 Prozent sank.
Doch die Versprechungen von damals haben sich fast überall in Luft aufgelöst. Weder haben die Banken tatsächlich stabile Risikopuffer, die viele Fachleute erst bei einer Eigenkapitalquote von mindestens zehn Prozent für ausreichend halten. Nach wie vor gewichten Banken ihre Asset-Klassen in eigener Regie. Das verführt zu kreativer Buchführung. Staatsanleihen in ihren Portfolios müssen nach wie vor nicht durch Eigenkapital unterlegt werden, obwohl griechische Euro-Anleihen plakativ belegt haben, welchem Wertberichtigungsbedarf auch Staatspapiere unterliegen. Das Trennbankensystem in Europa durchzusetzen, ist auf ganzer Linie gescheitert. Die Bilanzsummen der globalen Großbanken sind weit höher als damals. Die Quelle aller hochspekulativen Gier, die gigantische Sucht nach kreditfinanziertem „Reichtum“, wurde nirgends trockengelegt. Noch nie waren Staaten, Unternehmen und Bürger so hoch verschuldet wie heute.
Die ganze Perversion dieser Verschuldungsdroge spiegelte sich in der Geldpolitik der Notenbanken in diesem Jahrzehnt. Trotz eines langen positiven Konjunkturzyklus pumpt vor allem die Europäische Zentralbank (EZB) immer noch Geld in die Märkte, manipuliert mit traditionellen und unorthodoxen Instrumenten die Zinsen auf oder unter die Nulllinie. Die US-Notenbank koppelte sich zwar in den vergangenen zwei Jahren langsam von dieser ultralockeren Geldpolitik ab, scheint aber jetzt kalte Füße zu bekommen und ihren angekündigten nächsten Zinserhöhungsschritt im Dezember aufzuschieben, weil sie Risiken für die Konjunktur fürchtet. Auch die EZB scheint Vorbereitungen zu treffen, um Italiens maroden Banken mit unorthodoxen langfristigen Refinanzierungstendern zu helfen, falls der Budgetstreit zwischen der EU-Kommission und der italienischen Regierung die Banken zu Wertberichtigungen bei ihren hohen italienischen Staatsanleihebeständen zwingt.
Dass die faktische Abschaffung des Zinses aber gewaltige Nebenwirkungen hat, ist überall zu spüren. Die Kursexplosionen an den Aktienbörsen der Welt lebten jahrelang von der riesigen Liquidität. Auch die Flucht in Immobilienwerte wurde dadurch befeuert. Weil die Kreditaufnahme fast keine Zinsen kostet, kaufen die Leute wie verrückt. Werthaltigkeit spielt kaum eine Rolle. Der Kater wird aber so sicher wie das Amen in der Kirche folgen, wenn die Blase platzt und die Anschlussfinanzierung ansteht. Auch die Politik berauschte sich am billigen Geld. Statt die Staatshaushalte tatsächlich zu konsolidieren, freute man sich über gewaltig sinkende Zinsausgaben und verprasste häufig genug die dadurch entstehenden Haushaltsspielräume für neue dauerhafte Sozialausgaben, statt sie in Zukunftsinvestitionen und Schuldenabbau zu stecken. Auch die vielgepriesene schwarze Null im deutschen Staatshaushalt ist mehr ein Produkt der EZB als Ergebnis solider Finanzpolitik.
Wer Junkies, die an der Nadel hängen, kennt, weiß um die Brutalität einer Entziehungskur. Ähnliches gilt für die Rückkehr zu einer langfristig tragfähigen Finanzierungskultur in den öffentlichen wie privaten Budgets. Denn kreditfinanzierte neue soziale Leistungen, mit denen Politiker wie Olaf Scholz einen „deutschen Trump“ stoppen wollen, stehen dann nicht mehr auf der Agenda. Das gleiche gilt für die Produktentwickler in Banken und Versicherungen, die mit mehrfach „gehebelten“ Produkten den Leuten Schlaraffia auf Erden versprechen, also ob im irdischen Kapitalismus Manna vom Himmel fällt. Wenn die Politik den Finanzkapitalismus nicht durch wirksame Regulierung bändigt, frisst der mit seiner Maßlosigkeit unsere marktwirtschaftliche Ordnung auf.