Die Visa-Affäre bzw. der „Fischer-Erlass“ (nach dem damaligen Außenminister Joschka Fischer) genannte planmäßige Missbrauch bei der Vergabe von Visa in deutsche Botschaften und Konsulaten unter der rot-grünen Bundesregierung ist auch deshalb noch eineinhalb Jahrzehnte später so gut in Erinnerung, weil diese „unbürokratische” Verteilung von Visa aus der heutigen Perspektive der Massenzuwanderung ab 2015 als so etwas wie eine kleine Generalprobe der Zumutbarkeiten verstanden werden kann: Wie weit treiben es die Behörden des Staates mittlerweile, wenn es darum geht, den Zuzug von Personen aus den außereuropäischen Ausland zu beschleunigen?
Damals hatte das Auswärtige Amt unter Fischer versucht, eine neue Lesart des Rechts zu implantieren, als unter anderem in einem Erlass formuliert wurde: „in dubio pro libertate – im Zweifel für die (Reise-)freiheit.“ Das Ergebnis war eine zehntausendfache Erschleichung von Visa zwischen 1999 und 2002.
Der Erlass wurde erst Oktober 2004 von der rot-grünen Koalition selbst zurückgenommen. Kein Jahr später kam es zu vorzeitigen Neuwahlen und einem Regierungswechsel. Die Ära Merkel begann. Und an ihrem erwartbaren Ende steht nun erneut ein Skandal rund um die Vergabe von Visa, der das Potenzial hat, die Visa-Affäre der 2000er Jahre noch einmal in den Schatten zu stellen.
Der Spiegel will erfahren haben, dass eine Vielzahl von Zuwanderern bei ihren Asyl-Anhörungen geschildert hätten, dass sie ihre Visa in deutschen Konsulaten bezahlt hätten. Um was zu ereichen? Gar eine Rückerstattung der bis zu fünfstelligen Summen? »So beschrieb etwa der Syrer Dlbrien S., dass ein Schleuser, der sich „Kaka“ nannte, ihm im Generalkonsulat von Erbil ein deutsches Visum organisiert habe.«
Ein Fahnder gibt auf Nachfrage des Spiegel zu bedenken, das es „kulturelle Unterschiede“ gäbe: „In einigen Ländern gibt es andere Gepflogenheiten“. Gefälligkeiten gegen Geld seien oft weit verbreitet. „Da könnten sie Flugblätter über dem ganzen Land abwerfen, daran wird sich wenig ändern.“ Soll man nun daraus schließen müssen, dass die Botschaften und Konsulate im Nahen Osten von Botschaftern und Konsuln betrieben werden, die nicht in der Lage oder Willens sind oder nicht Willens sein sollen, ihr Personal soweit zu kontrollieren, dass die erteilten Visa nach zweifelfreier Dokumenten- und Gesetzeslage ausgestellt werden? Wer unterschreibt diese Dokumente final, wenn nicht die verantwortlichen Botschafter und Konsuln?
Eine Frage, die der Spiegel nicht stellt, muss dennoch erlaubt sein: In wie weit mag die Praxis der Fischer-Erlasse diesen Zustand befördert haben? Damals, als eine Reihe von Botschaftern und Konsuln die Anweisung aus Deutschland bekamen, es mit der Vergabe nicht mehr so genau zu nehmen? Wie weit ist es von hier bis hin zur Korruption? Von der Sch….egalhaltung ganz oben bis hin zur persönlichen Bereicherung vor Ort?
Der Spiegel jedenfalls fällt ein eindeutiges Urteil, wenn er so etwas, wie ein Netzwerk des planmäßigen Visa-Betrugs beschreibt: „Interviews (…) mit mehreren auf diese Weise eingereisten Flüchtlinge, Unterlagen aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie weitere interne Dokumente der Behörden zeichnen das Bild eines Netzwerks professionell agierender Schleuser, mutmaßlich bestechlicher Konsulatsmitarbeiter und einiger Helfer in Deutschland.“