Es ist nicht übertrieben, wenn wir festhalten, dass sich Deutschland in den letzten zehn Jahren, aber speziell mit der Zuwanderung zahlreicher Asylsuchender seit 2015, ziemlich verändert hat. Das stellte natürlich bis heute auch die Behörden und Verwaltungen der Städte und Kommunen vor neue Herausforderungen. Dass das Rechtssystem in Deutschland weltweit immer noch so hoch angesehen ist, liegt auch daran, dass die Verwaltungsfachleute immer auf dem neuesten Stand ausgebildet werden, im Studium sowie in der Praxis. Die Verwaltungen in Deutschland funktionieren noch gut, obwohl der Druck steigt, sich mit neuen Gegebenheiten, auch interkultureller Natur, täglich auseinander zu setzen. Damit das so bleibt, dafür tragen auch Personen wie Professor Christian F. Majer und dessen Kollegen Verantwortung.
Als Grundlage nehmen wir die gut besuchte Tagung „Parallelgesellschaften und die Herausforderung für die Kommunen“, die Professor Majer konzipierte, und auf der auch Ali Ertan Toprak (Tichys Einblick berichtete) sowie Professor Dr. Ralph Ghadban teilgenommen haben. Die Resonanz war groß.
Dass es Parallelgesellschaften definitiv gibt, ist unbestritten, Ertan Toprak sprach sogar von Gegengesellschaften, die es sich auf die Fahnen geschrieben haben, die DITIB und Erdogan-Politik auch in Europa und Deutschland, zu unterstützen und auch in die Tat umzusetzen.
Bleiben wir aber bei den Definitionen von Parallelgesellschaften und Paralleljustiz innerhalb Deutschlands. Die Medien haben das Thema auch aufgegriffen, weil Stadtteile in Berlin und ebenso in Nordrheinwestfalen, von gut organisierten libanesischen (Familien-)Clans quasi nach „mafiosen“ Strukturen beherrscht wurden, bis hinein in Immobilien-und anderen Wirtschaftszweigen. Oft auch als eine Art der Schattenwirtschaft. Professor Christian F. Majer gab Giovanni Deriu Einblicke ins gängige Rechtssystem der Bundesrepublik.
Hallo, Professor Majer, wo erreichen wir Sie gerade?
Professor Majer: Heute, am Samstagvormittag an meinem häuslichen Schreibtisch, oder, wie man heute sagt, im „home office“.
Als Dozent und Fachmann für Rechtsfragen, bilden Sie angehende Verwaltungsfachleute aus. Haben die Fragen im Bereich Ausländer- und Asylrecht in den vergangenen fünf Jahren zugenommen, musste der Lehrplan geändert oder modifiziert werden, auch im Blickpunkt der Zuwanderung seit 2015?
Die Bedeutung und Komplexität dieser Themen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, wobei sie schon früher einen hohen Schwierigkeitsgrad aufwiesen. Die Materie ist durch ständige Änderungen zudem sehr schnelllebig geworden.
Wir sind damals auch auf Ihre ausgeschriebene Tagung aufmerksam geworden, sowie auf Ihr höchst interessantes Impulsreferat, „Parallelrecht und Paralleljustiz – Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen“. Was hatte Sie zu diesem Thema bewogen?
Das Thema bewegt die Öffentlichkeit seit langem und stellt auch die Rechtsordnung vor eine neue Herausforderung. Insbesondere besteht meines Erachtens ein erheblicher Bedarf an einer rechtlichen Würdigung der Thematik jenseits von politischen Standpunkten, was im Übrigen für viele andere Fragen auch gilt. Leider neigt man in bestimmten Bereichen oftmals dazu, den eigenen politischen und moralischen Standpunkt anstelle von rechtlichen Wertungen zu setzen.
Der Zusatz, „Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen“, macht uns etwas nachdenklich – heißt das, dass sich unser Rechtssystem neuen kulturellen und strafrechtlichen Gegebenheiten anpassen muss? Oder dass sich die Gäste unserem Rechtsstaat gegenüber respektvoll verhalten sollen? Wo wären tatsächliche Grenzen gesetzt?
Das Recht selbst eröffnet Möglichkeiten, die auch von anderen kulturellen Systemen genutzt werden können: so können vermögensrechtliche Streitigkeiten wie etwa Kaufverträge schon heute ohne weiteres unter Einhaltung gewisser Voraussetzungen von einem privaten Schiedsgericht statt einem staatlichen Gericht entschieden werden. Und die Vertragsfreiheit erlaubt dabei auch die Berücksichtigung islamisch geprägter Rechtssätze wie etwa dem Zinsverbot. Entscheidend ist aber, dass hier die Grenzen unserer Grundwerte, welche sich aus dem Grundgesetz ergeben, respektiert werden. Das betrifft vor allem die Gleichbehandlung der Geschlechter. Zudem ist eine Schiedsvereinbarung nicht möglich bezüglich einer Scheidung oder Eheschließung.
Deutschland behandelt, wie es das Grundgesetz und die Verfassung vorschreibt, alle Menschen gleich, das Recht, Fehlverhalten anzuzeigen, die Gerichte zu bemühen, hat jeder Bürger Deutschlands. Der effektive Schutz der Grundrechte von Behörden und Gerichten, soll stets gewährleistet werden. Gibt es denn tatsächlich auch Parallelgesellschaften, die auf ein eigenes Rechtssystem, einer eigenen Rechtsprechung setzen? Weil sich die zugewanderten Bürger auf ihren Kulturkreis, auf ihre Community oder auch auf die Scharia berufen? Welche Beispiele gäbe es dafür …?
Ja, dieses Phänomen existiert. Solche Beispiele gibt es vor allem im Bereich der organisierten Kriminalität, den sog. Clans, aber auch in salafistischen Kreisen. Es ist schwierig, das Phänomen hinsichtlich seiner Verbreitung richtig einzuschätzen. Hier sind weitere Studien nötig.
Wir hörten immer wieder von so genannten „Friedensrichtern“, nur anerkannt von Streitparteien in einigen Communitys aus dem moslemischen Kulturkreis, sind diese Friedensrichter registriert, und wird dann von einer strafrechtlichen Verfolgung nach unserem Recht, Abstand genommen? Oder kommt es trotz Friedensrichtern, zu strafrechtlichen Verfolgung?
Die strafrechtliche Verfolgung funktioniert meist in diesen Fällen dann nicht mehr, da Zeugen nach einer solchen Schlichtung unter Druck gesetzt werden und sich im Prozess dann angeblich nicht mehr erinnern. Die Strafjustiz wird so sabotiert.
Heißt das gegebenenfalls auch, dass das deutsche Rechtssystem „Bagatelldelikte“ den Friedensrichtern überlässt?
Im strafrechtlichen Bereich ist eine private Schlichtung nur bei Antrags- und Privatklagedelikten wie Beleidigung oder einfacher Körperverletzung zulässig. In allen anderen Fällen steht der staatliche Strafanspruch nicht zur Disposition der Beteiligten. Die bekannt gewordenen Fälle betreffen aber auch schwere Delikte.
Wir wären dann ja bereits bei einer Paralleljustiz. Führt diese ein Schattendasein, oder gibt es Erhebungen zur Paralleljustiz in Deutschland?
Es gibt eine Studie des Leiters des Erlanger Zentrums für Islam in Europa, Prof. Dr. Mathias Rohe, aus dem Jahr 2015 für Berlin. Jetzt soll das Phänomen auch in Baden-Württemberg untersucht werden. Es gibt jedenfalls hier weiteren Forschungsbedarf, da solche Fälle schwer zu erkennen sind. Zu nennen ist auch die Monographie von Dr. Kathrin Bauwens aus dem Jahr 2016.
Beschreiben Sie doch bitte das Territorialprinzip, und welchen Gesetzgebungen deutsche Bürger, sowie hier lebende Ausländer, unterstellt sind.
Das Territorialprinzip (oder Territorialitätsprinzip) besagt, dass deutsches Recht und die deutsche Gerichtsbarkeit grundsätzlich für alle in Deutschland lebenden Menschen gleich welcher Herkunft, Nationalität, Religion usw. gilt; Ausnahmen gelten nur aus völkerrechtlichen Gründen etwa für ausländische Diplomaten. Es ist heute weltweit bestimmend. Das war nicht immer so: das Frühmittelalter kannte das Personalitätsprinzip (oder: System personaler Rechte). Jedes Volk lebte nach seinem Recht unabhängig von einem bestimmten Gebiet. Damit nicht zu verwechseln ist die Anwendung ausländischen Rechts durch deutsche Staatsorgane im Einzelfall: sie beruht stets auf einer Anordnung des deutschen oder europäischen Rechts, einer sogenannten Kollisionsnorm (zum Beispiel gilt ausländisches Recht vor deutschen Gerichten, wenn ein Verkehrsunfall im Ausland stattgefunden hat).
Wo liegen momentan die Hauptprobleme für die Jurisprudenz, in einem sich stete verändernden Deutschland?
Die Veränderung der Lebenswelten stellt auch die Jurisprudenz vor große Herausforderungen, es gibt zahlreiche neue rechtliche Phänomene, die untersucht werden müssen. Das gilt insbesondere für Erforschung der Anwendung ausländischen Rechts und ausländischer Entscheidungen in Deutschland, wie etwa Eheschließungen und Scheidungen. Die Bedeutung dieses Gebiets (wir nennen es Internationales Privat- und Verfahrensrecht) hat auch für die Verwaltung massiv zugenommen und wird in den nächsten Jahren noch weiter stark ansteigen. An unserer Hochschule wird es daher auch im Bereich „Zuwanderung und Integration“ gelehrt.
Aus den Kommunen bundesweit, sowie durch einen SPIEGEL-TV Beitrag wissen wir, dass viele „Flüchtlingsmänner” bereits wegen einer Zweit- und Drittfrau vorsprachen. Ein Syrer in Pinneberg sprach das sogar offen in die Kameras. Die Zweitfrau war bereits da. Fern jeder Polemik, was ist erlaubt, was nicht. Gibt es da einen (kulturellen) Ermessensspielraum?
Die „Mehr-Ehe“ in der einseitig „polygynen Form“ (also dass ein Mann mehrere Ehefrauen, eine Frau aber nicht mehrere Ehemänner haben darf), ist ein klarer Verstoß gegen die grundrechtlich garantierte Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sie darf in Deutschland nicht geschlossen werden und muss bekämpft werden. Bei bereits im Ausland geschlossenen Ehen muss aber differenziert werden: wenn Dritte oder die Allgemeinheit benachteiligt würden, sind sie nicht anzuerkennen (zum Beispiel beim Ehegattennachzug). Wenn aber die Wirkung rein intern, d.h. zwischen den Beteiligten, bleibt (wenn z.B. die Zweitfrau Trennungsunterhalt verlangt), erkennen wir auch die „Zweitehe“ als wirksam an. Das liegt an unserer Methode: wir prüfen, ob das Ergebnis der Rechtsanwendung gegen unsere Grundwerte verstößt, nicht das Institut an sich. Und ersteres ist in meinem Beispiel nicht der Fall.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass man die Herausforderungen Migration und Integration sachlicher diskutiert und noch viel mehr, dass man im Rahmen unserer Rechtsordnung und unseres Grundgesetzes konkrete Lösungen für auftauchende Schwierigkeiten findet, anstatt sich Schlagworte und Beschimpfungen gegenseitig um die Ohren zu hauen. Dabei gilt natürlich auch, dass unsere Grundwerte und unser Recht gegenüber allen auch im Alltag konsequent durchgesetzt werden müssen. Dieses Recht und die Grundwerte geben auch den Maßstab für die Beurteilung anderer Kulturen und Traditionen vor: sie sind weder pauschal abzulehnen noch pauschal anzuerkennen, sondern insoweit zu akzeptieren, wie sie jenen nicht entgegenstehen.
Zur Person:
Christian F. Majer, 39, verheiratet, war vor seiner Tätigkeit als Professor an der Hochschule in Ludwigsburg als akademischer Mitarbeiter und Rechtsanwalt tätig. Professor Majer firmiert als Direktor des Instituts für internationales und ausländisches Privat- und Verfahrensrecht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen, Ludwigsburg. Außerdem ist der passionierte Wanderer mit seinem Institut dafür bekannt, fakultätsübergreifende Tagungen und Seminare mit seinen Kollegen zu organisieren. Gefragt ist Christian F. Majer besonders bei Rechtsfragen zur Anwendung ausländischen Rechts. Professor Majer hat zudem mit seinen Studierenden gemeinsam ein „Rechtsseminar für Geflüchtete“ konzipiert. An drei Tagen wird den Asylbewerbern das deutsche Gesetz, sowie Rechte und Pflichten vermittelt. Von den Kommunen wird das „Programm“ gut nachgefragt.
Das Interview führte Giovanni Deriu.