Ziemlich genau vor 30 Jahren, am 1. Juni 1988, setzten die damaligen Führer der USA, Ronald Reagan, und der Sowjetunion, Michael Gorbatschow, einen im Vorjahr ausgehandelten Vertrag über die nukleare Abrüstung in Kraft. INF – Intermediale Range Nuclear Forces – verpflichtete beide Seiten, ihre nuklearen Flugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern zu vernichten und auf die künftige Produktion zu verzichten.
Dieser INF-Vertrag gilt bis heute als Ende des Kalten Krieges zwischen den Blöcken – und sollte insbesondere Europa nach der vorangegangenen Rüstungsspirale dauerhaft Sicherheit und Frieden bringen. Nun kündigte US-Präsident Donald Trump an, dieses Abkommen zu kündigen – mit der Begründung, Russland habe sich nicht an die Vereinbarung gehalten.
Die deutschen Reaktionen darauf waren heftig. Niels Annen, SPD-Berufspolitiker und früherer Dauerstudent, heute Staatsminister im Auswärtigen Amt, schrieb auf Twitter von einer „verheerenden Entscheidung“. Europa müsse nun eine neue Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen verhindern.
Sein Chef, der frühere Justizminister Heiko Maas, nannte Trumps Vorhaben „bedauerlich“ und kündigte an, und unterstrich die „herausragende Bedeutung“ des Abkommens, das eine „wichtige Säule unserer europäischen Sicherheitsarchitektur“ sei.
Die Rüstungsentwicklung ist nicht stehengeblieben
Tatsächlich stellt Trumps Ankündigung nicht nur Annnen und Maas vor ein Problem. Denn ebenso tatsächlich diente der INF-Vertrag maßgeblich den Europäern. In Folge des Abkommens verschwanden SS-20 und Pershing-Raketen vom Boden der Staaten Europas.
Wenig später implodierte die Sowjetunion – und die Bedrohung westlich des Eisernen Vorhangs schien für alle Ewigkeit der Vergangenheit anzugehören. Volker Rühe, damals Bundesminister der Verteidigung, sprach ein Vierteljahrhundert später davon, man habe damals vom Ende der Geschichte geträumt – und fügte hinzu, dass die Politik sich in ihrer Euphorie in eine gefährliche Situation bewegt habe. Man habe nicht erkannt, dass Situationen sich ändern können. Der Blick auf den heutigen Zustand und die Ausrüstung der Bundeswehr zeigt, welche dramatischen Folgen diese Euphorie zeitigte. Denn die Welt dreht sich weiter.
Nuklearbestückte Mittelstreckenwaffen sind Realität
Heute sind beide Seiten von damals längst wieder in der Lage, Atomwaffen-bestückte Flugkörper dieser sogenannten Mittelstrecke einzusetzen. Die NATO-Staaten gehen seit geraumer Zeit davon aus, dass Russland in den besagten Waffengattungen aktiv aufrüstet. Deshalb war Moskau aufgefordert worden, die Zweifel an seiner Vertragstreue auszuräumen. Geschehen ist nichts.
Nun werfen die USA dem früheren Feind vor, mit dem neuen Marschflugkörper 9M729 (NATO-Code SS-C-8) eine Waffe zu entwickeln, die mit ihrer Reichweite von 2.600 Kilometern eindeutig den Vertragsbruch belege. Putin hält dagegen, erklärt, die in Rumänien eingerichteten Abschussrampen für US-Marschflugkörper seien ebenfalls nuklearwaffentauglich.
Recht haben dürften beide Seiten. Mit der späten Weiterentwicklung der V1 der Wehrmacht hat sich das Raketenzeitalter auf der Mittelstrecke partiell erledigt. Denn die modernen Marschflugkörper, ausgestattet mit hochleistungsfähiger Technik, können mit Atomwaffen bestückt werden – müssen es aber nicht. Die Frage, ob es sich bei diesen neuen Waffen um einen Vertragsbruch handelt, ist insofern eher akademisch. Ja, da sie atomwaffenfähig sind – nein, so lange sie nicht damit bestückt und nicht ausschließlich für diesen Zweck gebaut werden.
INF ist historisch überholt
Aufhalten können wird diese Entwicklung der INF-Vertrag nicht. Denn er ist in die Jahre gekommen – und die Geschichte lehrt, dass auch derart wichtige Verträge durch Zeitablauf ihren Gehalt verlieren. Das Gezeter der bundesdeutschen Außenpolitikdarsteller ist insofern zwar nachvollziehbar – zielführend jedoch ist es nicht. Dieses vor allem auch deshalb nicht, weil Europa sich in eine fragwürdigen Sicherheit eingelullt hatte – spätestens Russlands Politik gegenüber der Ukraine, die zu ihrem späteren Leidwesen auf sämtliche nach dem UdSSR-Zusammenbruch auf ihrem Territorium stationierten Nuklearwaffen verzichtet hatte, machte deutlich, dass das Negligé unter der Eisenrüstung im Zweifel eher Begehrlichkeiten weckt, statt abschreckend zu wirken. Insofern geht nun eine Phase zu Ende, die zwar vor allem den Ländern Europas fast drei Jahrzehnte des Friedens organisierte, aber, wie alles in dieser Welt, nicht für die Ewigkeit taugte.
Auch ein Weiteres macht den Trump’schen Schritt nachvollziehbar. Als 1987 die beiden nicht mehr ganz so kalten Krieger Reagan und Gorbatschow zur Abrüstung bereit waren, saßen damit die beiden einzigen Mächte am Tisch, die ernsthaft über solche Waffen verfügten. Seitdem aber ist mit China mindesten ein neuer „global player“ hinzugekommen – und dieser ist an INF nicht gebunden. Was wiederum sogar als Argument für Amerikaner wie Russen dienen kann, den Verzicht auf derartige Waffen nicht mehr aufrecht erhalten zu können.
Für Europa allerdings ist das keine erfreuliche Entwicklung. Denn die Garantie der USA für die europäische Sicherheit ist brüchig geworden – und sie wird mit jeder Attacke, die Europas Utopisten gegen den von ihnen ungeliebten Trump fahren, brüchiger.
Erkannt hat das bislang nur der britische Außenminister Gavon Williamson, der laut „Financial Times“ erklärt hat, in der INF-Frage vorbehaltlos an der Seite Trumps zu stehen.
Bei Trump zeichnet sich ein Muster ab
Was aber nun hat Trump vor? Ist es ein undurchdachter Amoklauf, wie die Reaktionen deutscher Politiker zu insinuieren scheinen? Ein weiteres „America first“ um jeden Preis, platziert in den aktuellen Wahlkampf der USA? Oder steckt mehr dahinter?
Trump hat parallel zu seiner Ankündigung eine hochrangige Delegation nach Moskau geschickt. Ziel: Neuverhandlungen.
Tatsächlich scheint sich hier ein Muster zu wiederholen, das Trump bereits des öfteren angewandt hat – gegen Nord-Korea, gegen den Iran. Anders als die europäischen Appeasement-Politiker setzt Trump auf das gezielt angesetzte Brecheisen. Er macht das, was man in früheren Zeiten Realpolitik nannte – nicht Wunschdenken auf Kuschel-Kindergartenniveau.
Was also kann nun geschehen?
Der von Trump erzeugte Druck könnte die Tür zu neuen Verhandlungen öffnen. Möglicherweise verknüpft mit einem Moratorium – dem Einfrieren des Ist-Standes und Verzicht auf weitere Aufrüstung bis zum Verhandlungsabschluss.
Sollte das geschehen, wird INF dennoch zu Geschichte werden. Denn die modernen Nuklearwaffenträger werden nicht wieder verschwinden – bestenfalls werden Kontingente und gegenseitige Kontrolle beschlossen werden. Dabei aber – und das verkompliziert die Situation – wird auch China mit am Tisch sitzen müssen. Bilateral war gestern – heute ist trilateral unverzichtbar.
Eine Neuauflage des Hochrüstens
Sollte es zu solchen Verhandlungen nicht kommen oder solche ohne Ergebnis platzen, wird Trump keinerlei Bedenken haben, in eine neue Rüstungsspirale einzutreten. Das schafft in den USA Arbeitsplätze, fördert Innovationen: America first! – „Unbezahlbar“? Das wird Trump nicht interessieren. Der Dollar hat bislang noch jede Verschuldung überlebt.
Anders aber sieht das auf russischer Seite aus. Trotz ständiger, propagandistischer Erfolgsmeldungen laufen in Russland die meisten Rüstungsprogramme auf Sparflamme. Putins Haushalt bewegt sich seit geraumer Zeit auf niedrigem Niveau – zusätzlich zum über lange Zeit überaus niedrigen Ölpreis hat das Syrien-Abenteuer hat nicht nur viele Mittel verschlungen, sondern auch Anfälligkeiten des russischen Rüstungszustandes offenbart. So hat der havaristische Ausflug des einzigen russischen Flugzeugträgers „Admiral Kusnezov“ ins Mittelmeer nicht nur bei Militärexperten für mehr als ungläubiges Staunen gesorgt.
Trump hält insofern Putin die Rechte hin, um in Verhandlungen einzuschlagen. Gleichzeitig aber hält er in der Linken die Keule der Rüstungsspirale. Für seine USA betrachtet er diese als Konjunkturprogramm. Für Russland hingegen sieht er darin den finalen Untergang. Denn Trump hat von Reagan gelernt: Ohne die von den Friedensbewegten so heftig und vehement bekämpfte Nachrüstung und die daraus resultierende Rüstungsspirale wäre es weder zum INF-Vertrag noch zum dann doch unerwartet schnellen Zusammenbruch der UdSSR gekommen. Insofern hat Trump die Blaupause auf dem Tisch – und er ist fest davon überzeugt, Putin damit in die Knie zwingen zu können, wenn Verhandlungen erfolgslos bleiben oder erst gar nicht stattfinden.
In Russland ist zumindest diese Botschaft bereits angekommen: Franz Klinzewitsch, Mitglied des Föderationsrates, hat gegenüber Tass diese Möglichkeit bereits offen benannt. Und festgestellt, dass dieses, anders als in den Achtzigern, den USA keinen Erfolg bringen werde. Russland werde immer für seine Sicherheit sorgen können. Aber das dachten die Sowjets damals auch – sie sollten sich täuschen.
Europas Gejammer wird lauter werden
Das Gejammer der Kontinentaleuropäer wird gleichwohl dennoch zunehmen. Denn einmal mehr produziert Trump mit seiner Ankündigung massiven Druck auch auf Europa.
Das rüstungspolitische Wohlfühlmodell der vergangenen Jahre steht vor seinem Ende. Die seit Jahrzehnten betriebene Umverteilung der Steuergelder von Sicherheit in sozialen Wohltatskonsum wird in der neuen, weltpolitischen Situation kaum noch aufrecht zu erhalten sein. Denn wie immer auch die Situation zwischen USA und Russischer Föderation sich entwickeln wird: Die Staaten Europas werden mehr denn je selbst dafür sorgen müssen, militärisch ernst genommen zu werden. Jenseits des Atlantiks ebenso wie an der Moskwa.
Welch Wunder also, dass es ausgerechnet die Wohltatenverteiler der SPD sind, die aus ihren ersessenen Ämtern heraus am lautesten jammern. Denn anders als zu Zeiten von Georg Leber und Peter Struck haben sich vor allem die Sozialdemokraten vom jeglichem Verständnis für die Notwendigkeiten von Verteidigung längst verabschiedet. Bei Grünen und Kommunisten erübrigt sich ohnehin jeder Versuch, Wehrfähigkeit zu begründen. Die darauf basierende Vorstellung – um an dieser Stelle noch einmal auf Annen zurück zu kommen – ausgerechnet Europa könne nun eine neue Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen verhindern, dürfte insofern unter die Merkel’sche Rubrik der durch Geldentzug abzustrafenden „Desinformationen“ fallen.
Doch auch Ursula von der Leyen wird sich umstellen müssen. Oder auch nicht. Denn ihre Tage sind ebenso gezählt wie die von Angela Merkel. Mitgegangen – mitgehangen wirkt immer noch auch in der Politik. Und vielleicht übernimmt dann mal wieder ein Mann den Job im Bendlerblock, der weiß, worauf es bei Verteidigung ankommt.