Mein erster Impuls zum Titel: Wieder scheitern die Deutschen. Typisch Spiegel. Meine erste Frage: Ist Revolution etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Die nächste Frage: Was haben die großen Revolutionen – die französische, die russische, die amerikanische – bewirkt und in welchem Zeitraum? Ist Revolution ein Erfolgsmodell? Und – hätte eine Revolution in Deutschland 1918 den Nationalsozialismus verhindern können?
Wer die zahlreichen Bücher zu Kriegsende und Neuanfang 1918 in Deutschland – Ausgangspunkt für den Beitrag – scheut und dennoch klug mitreden möchte, auch mit Blick auf andere Neuanfänge nach umwälzenden politischen Ereignissen, für den bietet Dirk Kurbjuweits Titelgeschichte „Wir Zahmen“ einen unterhaltsamen Ritt durch 250 Jahre Revolutionsgeschichte. Geschichtsunterricht im Schnelldurchlauf. Warum nicht? Kurbjuweits roter Faden: „Es geht los, dann fehlt die Entschlossenheit, etwas wirklich Neues zu beginnen.“ Was mich dabei gestört hat: Ein bisschen zu viel strapaziert der Autor das Lenin-Zitat über die Unmöglichkeit einer Revolution in Deutschland. Stichwort: Bahnsteigkarte kaufen. Und heute? Die deutsche Revolutionsmentalität, schreibt Kurbjuweit „kommt von oben, von denen, die die Macht schon haben und dann radikal nationale autoritäre Politik einsetzen.“ Der Autor empfiehlt mit Blick auf die Amerikanische Revolution: „Man muss Protest ernst nehmen.“ Und ausdrücklich an Angela Merkel richtet er die Leseempfehlung „Washington“ von Ron Chernow.
Apropos Revolution (1): Ich war etwas überrascht, als ich neulich in der Axel-Springer-Biographie von Hans-Peter Schwarz las, Springer habe es bedauert, dass es 1945, nach der Niederlage im zweiten Weltkrieg nicht zu einer richtigen Revolution in Deutschland gekommen sei. Was er sich unter Revolution vorstellte, wurde leider nicht ausgeführt.
Apropos Revolution (2): Deutschland verschläft die digitale Revolution, warnt Spiegel-Urgestein Armin Mahler. Im Beitrag „Die Reifeprüfung“ fährt er großes Geschütz auf, nimmt die Politiker und Unternehmen in die Pflicht mit spiegelüblichen Gemeinplätzen wie „für die Zukunft schlecht gerüstet und „Politiker und Unternehmer müssen umsteuern“. Man hat gut reden, wenn man selbst keine Verantwortung übernehmen muss. Ja, es gibt in Sachen Digitalisierung viel zu tun. Erst recht hinkt der Großteil der öffentlichen Verwaltungen hinterher. Die Einführung der Datenschutzgrundverordnung hat das wieder einmal deutlich gezeigt. Digitalisierung ist als Schlagwort zu einem Hype geworden – in den Medien und den Unternehmen.
Nur, Hypes bringen nicht weiter. Es fällt auf, dass die großen Unternehmen– beraten von einer Heerschar von Consultants – alle ihr Heil in den gleichen Mechanismen suchen: Labs errichten, am besten in Berlin, wo man nah am Geld aus öffentlichen Mitteln ist, Startups kaufen, gerne auch in den USA, und am besten noch das eigene Unternehmen zu einem Startup erklären. Selbst Konzerne scheuen sich nicht, sich verbal so zu geben, obwohl sie allein schon aus Größe die Wendigkeit eines Tankers haben. Vieles, was Mahler beschreibt, ist nur neu angestrichen. Das gab es schon in der Phase des neuen Marktes. 20 Jahre ist das her. Neu ist auch nicht, dass digitale Player sich in etablierten Geschäftsmodellen ansiedeln. Das Thema hat die Beratungsbranche schon seit zehn Jahren auf dem Schirm. Es ist einer dieser spiegeltypischen Beiträge, die mir keinen Erkenntnisgewinn bringen, aber geeignet sind beim Leser Zukunftsangst zu schüren.
Apropos Revolution (3): Im Kanzleramt. Das Bild ist aufgetaucht, das vom Treffen Angela Merkels mit rund drei Dutzend SPD-Bundestagsabgeordneten vom 12. September. Bei der SPD war das Vorhandensein des Fotos zu einem Politikum geworden. Der Sonntagsleser berichtete vorige Woche.
Apropos Revolution (4): Die liberale Gesellschaft sei in Gefahr, wenn sie sich in viele kleine Gruppen spalten lasse. Das schreibt der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama in seinem Debattenbeitrag „Identitätspolitik“. Die heutige Politik werde weniger als früher durch wirtschaftliche oder ideologische Belange bestimmt als vielmehr durch Identitätsfragen. Die Linke richte ihr Augenmerk nicht mehr primär darauf, ökonomische Gleichheit herzustellen. Vielmehr gehe es ihr darum, „die Interessen einer breiten Vielfalt benachteiligter Gruppen zu fördern, etwa die von ethnischen Minderheiten, Einwanderern, Flüchtlingen, Frauen und der LGBT-Community. Der Rechten liegt vor allem der Patriotismus am Herzen, der Schutz der traditionellen nationalen Identität, die häufig explizit mit Rasse, Ethnizität oder Religion verknüpft.“
Demokratische Gesellschaften zersplitterten, so Fukuyama, „in Segmente mit immer enger gefassten Identitäten, was die Möglichkeiten gesamtgesellschaftlicher Erwägungen und kollektiven Handels zunehmend bedroht. Eine solche Entwicklung führt unweigerlich zum Kollaps und zum Scheitern des Staates. Wenn die liberalen Demokratien es nicht schaffen, die Menschenwürde wieder umfassend zu begreifen, verdammen sie sich selbst und die Welt zu einem ständigen Konflikt.“ Der achtseitige Beitrag ist anspruchsvoll, aber brillant geschrieben und hat mich neugierig gemacht auf Fukuyamas im kommenden Februar auf Deutsch erscheinendes Buch „Identität“.