Am Freitag musste die Bundestagssitzung wegen mangelnder Beschlussfähigkeit abgebrochen werden. Auf Antrag der AfD ordnete Petra Pau als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags den Hammelsprung an.
Die Abgeordneten mussten den Saal verlassen und sich mittels Durchschreiten verschiedener Eingangstüren durchzählen lassen.
Für die Beschlussfähigkeit des Hauses müssen 355 der 709 Abgeordneten anwesend sein. Zurück in den Saal kamen mit 154 Abgeordneten allerdings weniger als die Hälfte dieses absoluten Minimums, also zu wenige, um weiter arbeiten zu können. Petra Pau beendete satzungsgemäß die Sitzung – die verbliebenen 154 Abgeordneten konnten nun ebenfalls in das hochsommerliche verlängerte Wochenende eilen.
Ich arbeite seit achtunddreißig Jahren in einem großen Automobilkonzern in Braunschweig. In meinem neuralgischen Arbeitsbereich muss zur Gewährleistung der Produktionsabläufe an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr Personal anwesend sein. Ein Blick am Freitag auf die Wetter-App meines Smartphones abgeglichen mit dem Schichtplan an der Wand, zeigte es unumstößlich: Nix mit Sommerfrische genießen – Spätschicht am Freitag und am Sonnabend und Sonntag auch noch Nachtschicht.
Viele meiner Kollegen befanden sich an besagtem Freitag mit ihren schulpflichtigen Kindern noch in den niedersächsischen Herbstschulferien, so dass wir bereits mit der Mindestanwesenheit an Personal den Betrieb am Laufen hielten. Keine Chance, jetzt spontan oder außerplanmäßig Urlaub zu nehmen.
Ein eventuelles Fernbleiben auf eigene Faust ohne Antrag entfiel, das würde hier unweigerlich die Entlassung nach sich ziehen. Und für einen gelben Schein war es zu spät, auch hätte dann womöglich ein Kollege aus dem Urlaub zurückbeordert werden müssen, mal ganz davon abgesehen, dass ich nicht akut erkrankt war.
Was aber fragte ich mich, droht eigentlich Vertretern des deutschen Volkes, bei Nichterscheinen oder vorzeitigem Verlassen ihres hoch dotierten Arbeitsplatzes? Gar nichts. Im Gegenteil: Anstatt ihre in der Sonne schwänzenden Kollegen mindestens öffentlich bloßzustellen, muss nur eine Fraktion der verbliebenen Parteien die Beschlussfähigkeit anzweifeln und nach Durchzählen per „Hammelsprung“ dürfen dann auch die letzten Abgeordneten ihre Strandmatten ausrollen fahren.
Und sie nehmen sogar ein reines Gewissen mit auf den Weg, wenn sie zunächst kollektiv den ursprünglich nicht erschienen Abgeordneten den schwarzen Peter zugewiesen hatten.
Mich erinnerte das an Schulstreiche von ganz früher: Einige gewitzte Mitschüler fingierten damals einen Stundenausfall, weil die Lehrkraft nicht pünktlich im Klassenraum erschien oder in einem anderen Raum auf uns wartete und nach ein paar Minuten liefen wir alle, so schnell wir konnten, zum nahe liegenden Badesee. Allerdings nicht die gewitzten Organisatoren der Aktion, die warteten brav im Klassenraum bis die Lehrkraft erschien, die nun auch die Verbliebenen wegen mangelnder Beschlussfähigkeit – aber dafür mit drei Blumchen im Betragenbuch – entließ.
In anderen europäischen Ländern geht das übrigens nicht so einfach wie im deutschen Bundestag vorexerziert. Dort drohen für das Fernbleiben am Arbeitsplatz empfindliche finanzielle Einbußen bis hin zum Verlust des Mandats.
In der Slowakei beispielsweise drohen bei Abwesenheit im Plenum der Verlust von Spesen und Zulagen, Griechenland kürzt prozentual nach Abwesenheit die Bezüge, in Rumänien wird ein Monatsgehalt gestrichen und Spanien kürzt ebenfalls rigoros die Bezüge der Schwänzer.
In Deutschland beziehen Millionen Wähler Hartz4-Grundsicherung, Menschen, die ihre Mitwirkungspflicht bei der Suche nach einem Arbeitsplatz immer wieder neu beweisen müssen. Abgehängte, die ihre Termine am Arbeitsamt penibel einhalten müssen, sonst droht eine Spirale von Sanktionen bis hin zur völligen Streichung der sowieso schon schmalen Bezüge.
Wie werden sich diese Menschen fühlen, die hier pflichtgemäß den Anforderungen entsprechen, wenn sie an einem 25-Grad-Freitag im Oktober in einer Schlange vor dem Arbeitsamt warten und während der stundenlangen Wartezeiten auf ihren Smartphones angezeigt bekommen, dass der Bundestag gerade kollektiv entschieden hat, hitzefrei für alle auszurufen und das nicht zum ersten Mal, sondern schon zum wiederholten Mal an einem Freitag im Jahr 2018?
Und wie entschuldigen sich eigentlich die etablierten Parteien für die Abwesenheit ihrer Parlamentarier? Was machen die Medien daraus? Gemeinsam hat man entdeckt, dass die AfD als Hammelsprung-Initiatoren selbst nur unterbesetzt anwesend waren, also vermeintlich aus dem Glashaus heraus mit Steinen warfen. Nun ist es aber auch hier wie immer: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, zeigt dabei mit drei Fingern auf sich selbst, wer also der AfD hinterher twittert, dabei aber schon im erste Klasse Abteil oder der klimatisierten dunklen Panzerglas-Limousine sitzt, der hat ein echtes Glaubwürdigkeitsprobelm. Eines, dass besonders übel dort aufschlägt, wo am Freitag noch geschwitzt und gearbeitet wird, damit die Diäten dieser Sommerfrischler bezahlt werden können.
Gregor Leip ist TE-Leser der ersten Stunde. Er arbeitet seit über 35 Jahren tief im Maschinenraum der Automobilbranche und fragte sich, was drei Jahrzehnte nach dem er zuletzt sein Kreuz bei den Grünen gemacht hat, eigentlich mit diesem Deutschland passiert ist.