Neun Kilometer Bremsweg; wenn der Kapitän die Jahre Viking von den 30 km/h auf Null bringen wollte, musste er neun Kilometer Bremsweg planen. Wenn ein Hindernis auftauchen sollte, dann war es ratsamer, das Schiff zu wenden, denn der Wendekreis betrug »nur« drei Kilometer (zumindest nach den Video-Aufnahmen, die Jeremy Clarkson und Top Gear 2008 auf der Jahre Viking drehte, siehe YouTube).
Die Jahre Viking war, nach einer Verlängerung in 1980 um 81 Meter, mit 458 Metern das längste Schiff der Welt. Erst hatte ein griechischer Reeder sie bei der japanischen Firma Sumitomo Heavy Industries bestellt. (Sumitomo war 1888 unter dem Namen Kōsakugata gegründet worden, um die Maschinen der Besschi-Kupfermine zu warten. Heute stellen sie Geräte von Teilchenbeschleunigern bis eben Schiffen her.)
Das Schiff lief 1975 vom Stapel, doch dann wollte oder konnte der Besteller es nicht in Empfang nehmen. Erst 1979 kaufte der Unternehmer C. Y. Tung das Schiff und ließ es erstmal strecken. Er nannte es in »Seawise Giant« um, wohl ein Wortspiel mit dem englischen Klang der Initialien »C Y«. Einige Jahre später, 1988, wurde das Schiff von den Irakern beim Iran-Irak-Krieg beschossen (es hatte iranisches Öl an Bord); das Schiff sank, doch zum Glück war das Wasser recht flach und das Schiff konnte in die Bucht von Brunei abgeschleppt werden. (C. Y. Tung kaufte übrigens auch die RMS Queen Elizabeth; während die renoviert wurde, brach auf Deck ein Feuer aus und das Schiff sank in der Bucht von Hong Kong – doch nein, das ist kein Trend: Tung gehörten zeitweilig bis zu 150 Schiffe und man nannte ihn den »Onassis des Ostens«.)
Die Jahre Viking wurde noch einige Male umbenannt (unter anderem in »Happy Giant«, nachdem sie den Bombenangriff gerade so überlebt hatte) und sie wechselte die Besitzer, bis sie schließlich endete, wie viele Schiffe ihrer Größe enden: als »Knock Nevis« wurde Jahre Viking, nach 30 Jahren Dienst, 2010 in Indien in ihre Bestandteile zerlegt (Info: schöner Text mit Bildern bei telegraph.co.uk).
Doch, diese Zahl beeindruckt mich: Neun Kilometer Bremsweg – andere Quellen sagen, dass es etwas mehr als sechs Kilometer waren; so oder so: immens. Um einen solchen Tanker sicher zu steuern, braucht es Planung und Weitsicht. Viele Entscheidungen, die der Kapitän trifft, werden erst etliche Minuten später greifen. Der Kapitän entscheidet nicht darüber, was jetzt passieren wird, vielmehr ist das, was jetzt passiert, stets die Folge dessen, was er früher entschieden hat. Der Kapitän entscheidet in die Zukunft hinein. Die Gegenwart ist wenig mehr als vergangene Zukunft.
Berliner Verhältnisse
In Berlin sterben Menschen. Gut, überall auf der Welt sterben Menschen (außer natürlich dort, wo es verboten ist), aber in Berlin sterben in letzter Zeit auch extra viele Säuglinge; nicht überall in Berlin, sondern besonders dort, wo es besonders bunt, tolerant und weltoffen ist: in Neukölln.
Die Berliner Morgenpost schreibt:
In keinem anderen Berliner Bezirk sterben so viele Säuglinge wie in Neukölln. Von 1000 Babys überleben im Schnitt 5,3 das erste Lebensjahr nicht. Zum Vergleich: In Steglitz-Zehlendorf liegt die Rate bei 1,4, in ganz Berlin bei 3,1. (morgenpost.de, 7.10.2018)
Halten wir für eine Sekunde inne und lesen eine Schlagzeile, wenige Wochen zuvor, aus der Ecke des empörten Dumm-klickt-gut-Journalismus:
Das ist die wohl bislang widerlichste Anfrage, die die AfD gestellt hat – Die Partei will wissen, wie viele Schwerbehinderte einen Migrationshintergrund haben. Die Anfrage erinnert an die düstersten Kapitel deutscher Geschichte. (vice.com/de, 12.4.2018)
Als Autor jenes VICE-Artikels wird übrigens nicht ein Name angegeben, sondern »VICE Staff«, was wörtlich auch als »Laster-Stange« zu übersetzen wäre, aber wohl »Mitarbeiter von VICE« bedeutet. Das Atemlose mit Nazi-Bezug ist dort so selbstverständlich, dass man gar nicht erst einen konkreten Autor braucht; Empörung und Drittes-Reich-Bezug kommen bei linken Webmagazinen vom redaktionellen Fließband (was – wenn man darüber nachdenkt – mehr über die Schablonenhaftigkeit der Leser als über das durch und durch kapitalistische Medium aussagt).
Die Bundestags-Anfrage selbst ist eine Provokation, kein Zweifel, doch es ist eine der Provokationen, mit denen die AfD noch lange viel Erfolg haben wird. Es wird ein reales Problem angesprochen, das aber schmerzhaft ist und deshalb von Etablierten so lange wie irgend möglich ignoriert wird.
In der Anfrage der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag heißt es, unter anderem:
4. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl der Behinderten seit 2012 entwickelt, insbesondere die durch Heirat innerhalb der Familie entstandenen (bitte nach Jahren aufschlüsseln)?
5. Wie viele Fälle aus Frage 4 haben einen Migrationshintergrund? (bundestag.de, 22.3.2018)
Die Empörung war natürlich groß: Wie kann man so etwas fragen? Will die AfD gar, wie einst die Nazis, via »Euthanasie« gegen Behinderte tätig werden? Etc, pp. – Probleme haben die Eigenschaft, nicht dadurch zu verschwinden, dass man sich über ihre Erwähnung aufregt.
Als Grund, warum in Neukölln auffallend viele Säuglinge schwerbehindert auf die Welt kommen und/oder bald sterben, vermuten Experten schlicht: Heirat unter Verwandten, konkret: Cousin und Cousine.
Im erwähnten Bericht heißt es, nach viel Rhetorikslalom, schlicht:
… bei konsanguinen Partnern verdoppelt sich die Gefahr, dass Kinder behindert auf die Welt kommen. (morgenpost.de, 7.10.2018)
»Konsanguin« bedeutet: blutsverwandt. Dank Toleranz und Buntheit lernte Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten neue Fakten und neue Wörter; wir lernen den Unterschied zwischen Beziehungstat und Ehrenmord (zeit.de 2009), wir lernen über die Vereinbarkeit von Scharia und Demokratie (zeit.de 2011), und wir lernen neue Wörter, heute: »konsanguin« (Stand 10.10.2018 noch immer keine Fundstelle bei zeit.de – was ist da los?!)
Wenn Blutsverwandte ein Kind zeugen, vergrößert sich die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Kind behindert geboren wird oder bald stirbt. Anders als Gutmenschen glauben, sind Physik und Biologie von unserem Wunschdenken erstaunlich wenig beeindruckt.
In Berlin ist man aufgrund dieser neuen Erkenntnis nun bestürzt. Kann es gar sein, dass die Prägung durch archaische Kulturen auch zu toten oder behinderten Babys führt?! Kann es gar sein, dass die Empfänger unserer Toleranz auch mehrere Generationen später ganz und gar nicht tolerant sind, dass sie, auch und besonders bei der Ehe, lieber »unter sich« und »in der Familie« bleiben?
Selbes Wasser, anderes Jahrzehnt
Erlauben Sie mir, Ihnen mit Hilfe von 4 Ziffern zu belegen, dass der Deutschland-Tanker unter den linksgrünen Meinungsoffizieren so schwankend wie zielsicher mitten in die See der praktischen Blödheit fährt.
Ein Zitat, von welt.de:
Immer mehr Kinder im Berliner Stadtteil Neukölln kommen mit angeborenen Behinderungen zur Welt. Als Grund wird Inzest vermutet. Die Ehe zwischen Verwandten unter türkischen und arabischen Migranten ist weit verbreitet und ein Tabuthema.
Sie mögen jetzt sagen: »Ja, das haben wir eben gelesen, nur von der Morgenpost, was belegt das?« – Ich würde Ihnen zustimmen, …
… aber …
Hier kommen die 4 Ziffern, welche die Verblödung der letzten Jahre belegen.
Der eben zitierte Artikel ist von 2007: welt.de, 25.2.2007.
Es ist exakt dasselbe Problem, schon vor über einem Jahrzehnt. Dieselben Hauptdarsteller (türkische und arabische Migranten). Dieselben Nebendarsteller (tote und behinderte Kinder). Derselbe Ort (Berlin-Neukölln). Gleiche Statisten (hilflose Staatsdiener et cetera). Es ist nicht ein ähnliches Problem, es ist nicht ein verwandtes Problem (wohl aber ein Verwandten-Problem), es ist dasselbe Problem, nur eben ein Jahrzehnt früher.
Damals durfte man noch über das Problem sprechen, sogar im Staatsfunk (z.B. rbb-online.de, 31.7.2008). Das Thema war schon einmal im öffentlichen Bewusstsein! Was ist seither passiert? Merkel war damals schon an der Macht, doch die Auswirkungen des von Merkel gekaperten linksgrünen Kreuzzugs hin zur politisch korrekten Blödheit brauchten noch etwas Zeit – und so lange starben eben Säuglinge oder wurden schwerbehindert geboren.
2004 brannte die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, doch die Auswirkungen der unseligen Kombination aus FDJ-Sekretärin und 68er-Antirealismus erinnern mich an den Brand der labyrinthischen Bibliothek in Umberto Ecos »Der Name der Rose« – Aristoteles’ Schrift über die Komödie … verbrannt! (Man könnte auch den Brand der Bibliothek von Alexandria erwähnen, doch der ist wohl genauso fiktiv.) – Wir waren einst klüger, bedächtiger, vorsichtiger, und, vor allem: ehrlicher.
Jedes Mal, wenn in einer Debatte einem Gutmenschen die Argumente ausgehen (also: jedes Mal), greift er auf Vergleiche mit dem Dritten Reich zurück. Wenn alles nichts mehr hilft, sucht man nachzuweisen, dass das Gegenüber etwas sagt, das auch Hitler sagte, und damit »literally Hitler« sei. (Jüngste Blamage: tagesspiegel.de hält einen Gauland-Text für von Hitler inspiriert, doch womöglich diente in Wahrheit der Tagesspiegel selbst als Vorlage!) – Wir sollten die heutige Zeit eher mit dem Mittelalter vergleichen: Profi-Empörte mit »Haltung« wickeln Aufklärung und Demokratie wieder ab und im Namen des Dogmas und der Credos wie #metoo lebt die Hexenjagd wieder auf, diesmal auf weiße Männer, wo Menschen nach Verdacht und allgemeiner Hysterie vom Mob (politisch/wirtschaftlich) gelyncht werden – und auch die Politik spielt mit, wenn es ihr nutzt.
Diesmal drehen sich die Uhren dann wohl doch schneller. Nach eineinhalb verheerenden Merkel-Jahrzehnten später stellen wir fest, das wir gerade Dinge neu entdecken, die wir früher schon gewusst haben. Politiker wie Helmut Schmidt haben uns ja einst vor genau dem gewarnt, was wir heute erleben. (Was würde eigentlich heute passieren, wenn eine Zeitschrift mit dem Titel »Mekka Deutschland – die stille Islamisierung« herauskäme? Antifa würde Kioske anzünden und irgendwelche Berliner Haltungshansel würden den Werbekunden nachstellen, bis diese in den radikalen Anzeigenboykott einwilligten.)
Deutschland entdeckt gerade Dinge neu, die es längst gewusst hat, und einige dieser »Dinge« sind eben, dass wenn Blutsverwandte heiraten, das nicht gut für die Kinder ist. Man fühlt sich heute ein wenig wie in der Renaissance, wo Wissenschaftler zitternd und vorsichtig wiederentdeckten, was einst bekannt gewesen war, nur eben lange Zeit unter Dogma und korrupter Ideologie verschüttet lag.
Tankerbremsweg
Man stelle sich die Wähler vor wie Schiffsbesitzer, die zum größten Teil keine Ahnung von Schiffen haben, also einen Kapitän brauchen, um das Schiff von A nach B zu bringen.
Nach welchen Kriterien werden die Schiffsbesitzer einen Kapitän aussuchen? Bei tatsächlichen Schiffen können Schiffsbesitzer einen Kapitän mit Erfahrung suchen, doch in der Politik ist das schwer: man findet nur selten einen Politiker, der bereits ein anderes Land mit Erfolg leitete.
Was wäre, wenn ein Schiffsbesitzer nicht den bewährtesten Kapitän einstellte, sondern denjenigen, der ihm die Gefahren der Meere am süßesten schönredet? Der eine Kapitän spricht von Eisbergen und teuren Sicherungsmaßnahmen. Der andere Kapitän verspricht, dass alles super sein wird und dass das Schiff unsinkbar ist, und wer vor Eisbergen warnt, der sei ein Nazi? Welchen von beiden Kapitänen wird der Schiffsbesitzer einstellen? Wenn er klug ist, wird er den vorsichtigen Kapitän einstellen; wenn er ein Trottel ist, wird er den blauäugigen Schwätzer und seine Crew von Phantasten einstellen – Deutschland hat den Kapitän eingestellt, der zuverlässig in die schärfsten Klippen hineinfährt, doch keiner stoppt ihn, denn wer den Kurs kritisiert, den versuchen die treuen Offiziere von Bord zu werfen. »Wir sind mehr« ist ihr Schlachtruf, und im Angesicht des Eisbergs rufen sie mutig: »Wir schaffen das!«
Ein Schiff, das sich Deutschland nennt, fährt durch das Meer der Zeit. Das Ziel, das ihm die Richtung weist, heißt linke Seligkeit. Erreicht es wohl das große Ziel? Wird es nicht untergehn?
Der Eisberg frisst sich längst in und durch den Rumpf des Schiffes. Erstaunlich viele Fanatisierte wollen es noch immer nicht wahrhaben, doch die Stimmen, die öffentliche Sorge wagen, werden mehr und sie werden lauter. Das bringt eben auch mit sich, dass man Dinge aufs Neue entdeckt, die man einst schon längst wusste.
Neun Kilometer
Die Jahre Viking brauchte bis zu neun Kilometern, um von ihrer Höchstgeschwindigkeit aus zu stoppen, und drei Kilometer, um zu wenden. Selbst wenn heute, durch eine spontane Erleuchtung, den Rücktritt des Merkel-Kabinetts und die Auflösung des Staatsfunks plötzlich (und äußerst unerwartet) die verantwortliche Vernunft wieder in Deutschland einkehrte, so würde es Jahre und Jahrzehnte brauchen, den Kurs zu wechseln. Bis Deutschland endlich die Richtung wechselt, wird es noch eine ganze Zeit lang in Richtung der Klippen fahren. Wenn ich wüsste, dass wir morgen auf den Klippen liegen, würde ich heute noch versuchen, den Kapitän zum Einlenken zu bewegen!
Das Schicksal großer Schiffe hat immer etwas Berührendes an sich. Der Bau eines Schiffes ist vergleichbar mit dem Bau eines großen Gebäudes, er verschlingt Rohstoffe und Hunderte oder oft Tausende an Mannjahren (fun fact: dennoch kostete der Bau der Titanic weniger als das Drehen des Filmes), doch anders als Kathedralen oder Hochhäuser ist das Schiff nicht dafür gedacht, ewig zu leben. Eine Zeit lang – die 30 Jahre der Jahre Viking sind eine gute Zahl! – vertrauen Menschen sich und ihre Waren dem Schiff an, und irgendwann wird es zu teuer das Schiff zu warten, dann wird es eben abgewrackt.
Wie ist es mit Deutschland? Wie ist es mit Ländern und Nationen, ganz allgemein? Sumerer, Etrusker, Römer, das alte Griechenland, das alte Ägypten, aber auch die vielen Herrschaftsgebiete des einstigen Europäischen Flickenteppichs – Staaten und Nationen leben nicht ewig. Wenn sie klug sind, bleiben sie etwas länger, doch wenn sie ihren Kurs nur lange genug in die falsche Richtung setzen, bleiben sie eben nur als Namen und Zahlen in Geschichtsbüchern, und sie werden von anderen Staaten zerlegt und ausgenommen wie alte Schiffe auf Indiens Schiffsfriedhöfen. Wird das Schiff Deutschland überleben? Wie lange?
Nun, das alte Schiff, wie es vor Merkel war, das wird es nicht mehr geben, dafür war der Kapitän Angela »Ex-FDJ« Merkel zu planlos unterwegs. Aber noch fährt der Tanker, noch gibt es einen starken Motor, viele motivierte Passagiere und einiges an wertvollem Gut – der Kahn sollte nur dringend die Maßnahmen zum Kurswechsel einleiten (beginnend mit der Auswechslung des Kapitäns und seiner Offiziere).
Es braucht unangenehm viel Zeit, einen Tanker zu wenden, und es braucht noch länger, wenn der Kapitän gar nicht wenden will. Zum Glück gibt es in Demokratien einen ganz legalen Weg zur Meuterei: Geht wählen – und wählt klug!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.