Die Schlange bewegt sich vom Schlusslicht her: Berlin und Brandenburg weisen in vielen wirtschaftsrelevanten Bereichen die höchsten Zuwachsraten der deutschen Bundesländer aus – nachdem die Hauptstadt und ihr Umland lange die magerste wirtschaftliche Entwicklung zeigten. Zusammen sind sie unwiderstehlich. Glamour und Glanz Berlins amalgieren mit billigen Gewerbeflächen und Gewerbesteuern in Brandenburg zu einer Erfolgsmischung. Wer in Berlin was geworden ist, zieht nach Potsdam, um mit Blick auf die Havel und dem Rücken zu den Plattenbauten ein neues bürgerliches Arkadien zu pflegen. Es ist ein Erfolg, der der zunächst gescheiterten Länderreform neuen Schwung geben könnte. Und im Westen gibt es mit dem Saarland, mit Rheinland-Pfalz und Bremen noch weitere, die allein zu klein sind, um mit den Großen mithalten zu können.
Die Dynamik in und um Berlin herum ist teuer erkauft: Es gibt wohl sonst keinen Fleck auf Erden, auf dem so viele Hubschrauber so viel Geld herabregnen lassen. Allein im Rahmen des Länderfinanzausgleichs fließen 3,4 Milliarden Euro zu; so viel zahlt allein Bayern ein. Diese Mittel wiederum fehlen, wenn es um die Weiterentwicklung der bayrischen Problemzonen im dortigen Nordosten geht. Der Streit um den Länderfinanzausgleich würde eskalieren, wenn den Bayern bewusst wäre, dass ihr Freistaat solo in der EU von der Größe her in der Mitte, aber beim Wohlstand an der Spitze stünde.
Die Milliarden aus Bayern sind aber nur ein Teil der Unterstützung für die Hauptstadtregion. Langsam entfaltet die Bündelung von Wissenschaft und Forschung ihre Arbeitsmarktwirkung. Die Hofhaltung der Bundesregierung, der wachsende moderne Hofstaat aus Lobbyisten, Verbindungsbüros, Hofberichterstattern und Schickimickis im Dunstkreis von Macht und in ständiger Reichweite von Gratis-Fingerfood – die Zentralisierung von bislang über Deutschland verteilten Funktionen ist ein gigantisches Konjunkturprogramm und sorgt für warmen Geldregen über all den Lebenskünstlern, die öffentliche Alimentierung mit Arbeit gleichsetzen. Je eifriger der Staat sich in die Wirtschaft einmischt und je üppiger die Subventionsquellen sprudeln, umso mehr wird die Nähe zur Macht und die korrumpierende Reibungswärme zum Standortvorteil.
Schwule und Fidschis Quälen
Jenseits der dynamischen Quartiere um die neuen Adelspaläste meist zugezogener Funktionäre in Berlin-Mitte und den gentrifizierten und luxussanierten Vierteln im Osten aber leidet Berlin nach wie vor unter Spannungen, die die Stadt sozial explodieren lassen: Die höchste Arbeitslosenquote, die meisten Hartz-IV-Empfänger, die meisten Straftaten und gleichzeitig eine der niedrigsten Aufklärungsquoten sowie die niedrigste Investitionsquote im Haushalt im Bundesvergleich dokumentieren ein groteskes Versagen der Politik. Das Wegschauen der Polizei bei Drogendelikten in Promilokalen, wenn Autos abgefackelt werden und bei Gewalttaten im Migrationsmilieu Berlins korrespondiert mit der Angst dunkelhäutiger Menschen, die gezwungen sind, in Brandenburg zu leben. Mittlerweile werden in Schöneberg Schwule von arabischen Jugendlichen gejagt, wie im
Osten „Fidschis“ von jungen Rechtsradikalen bedroht werden. Diese Zuspitzung der sozialen Konflikte wird mit der Formel „arm, aber sexy“ verschleiert und von einer lokalpatriotischen Medienindustrie verschwiegen.
In diesem neuen Deutschland stellt sich die Frage nach Visionen auch für andere Regionen. Dass Nordrhein-Westfalen durchweg nur unterdurchschnittliche Werte erzielt, ist erschütternd – es ist das bevölkerungsreichste Land. Die Düsseldorfer Landesregierung ist bislang dazu stumm geblieben. So wird man Schlusslicht.
(Erschienen am 04.09.2010 auf Wiwo.de)