Das eigentlich Undenkbare ist denkbar, im doppelten Sinne: die CSU verliert den Posten des Ministerpräsidenten, und das ist nur die erste Ungeheuerlichkeit: Eine Koalition aus Grünen, Freien Wählern, SPD und FDP enthront die Staatspartei.
Eine Liste der Ungeheuerlichkeiten
Weitere Ungeheuerlichkeiten folgen: Ausgerechnet die Grünen stellen den bayerischen Ministerpräsidenten als stärkste Partei in dieser bunten Koalition – nicht die SPD. Das sind die Ungeheuerlichkeiten Nummer 2 und 3. Es muss nicht so kommen, aber es kann so kommen nach der Landtagswahl in Bayern, und die einst so stolze CSU auf ihre Anfänge zurückwerfen. Denn schon von 1954 bis 1957 wurde die CSU in die Opposition geschickt, von einer Vierer-Koalition. Die wurde damals vom Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner angeführt, und dabei waren die FDP, die Bayernpartei und die mittlerweile verschwundene Vertriebenenpartei GP/BHE.
Bayern ohne die CSU? Eine schreckliche Vorstellung, selbst für viele, die sich politisch an ihr abgearbeitet haben. Denn klar ist auch: Kein Bundesland steht so gut da wie Bayern, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Erzkonkurrent Baden-Württemberg zurückfällt, seit dort die Grünen regieren und dass das einst so stolze Land NRW unter der SPD zu einem Land der Minus-Rekorde wurde. Aber Wähler sind undankbar. Sie wählen nicht für die Vergangenheit – sondern die Zukunft, und das komplizierte deutsche Wahlrecht mag ihnen das Gegenteil dessen liefern, was sie gewollt haben: Die CSU verliert ihre Mehrheit wegen der AfD – und deshalb ein grüner Ministerpräsident? Das ist der Preis der Koaltionsbildung, die das Gegenteil bewirken kann von dem, was man gemeinhin als Wählerwillen bezeichnen könnte: Die Wähler gehen nach Rechts – und erhalten eine linke Regierung?
Jedenfalls wird es am Abend in Bayern mehrere Erdbeben geben, erwartet der bayerische FDP-Politiker Albert Duin mit Blick auf die zwei großen Parteien, die bislang nicht nur in Bayern die Geschicke bestimmten:
„Die SPD versinkt mit 12% in der Vertiefung und ihr Nimbus als Volkspartei ist im Arsch. Die ehemalige Partei des sogenannten kleinen Mannes wird mittlerweile, speziell in Berlin, von Akademikern der Richtung Politik- und Sozialwissenschaft geführt, die die Bedürfnisse ihres Klientel nicht mal mehr vom Hörensagen kennen und im ganzen Leben noch nie einen Tag in der freien Wirtschaft gebuckelt haben. Aber sie werden die 12% als Erfolg feiern weil das 1% besser ist als man vorausgesagt hat.
Die CSU hat sich sicher in den Wochen vor der Wahl schon auf ein Ergebnis von 35% eingestellt und intern abgesprochen, wie es weiter gehen soll. Seehofer muss gehen, Söder wird sich innerparteilich mit Ilse Aigner auseinandersetzen müssen. Der Absturz der CSU ist einzig dem Egomanismus der Herren Seehofer, Söder, Dobrindt und Scheuer zu verdanken.“
Der Ludergeruch der Saalschlachten
Noch ist es nicht so weit. Möglicherweise kehren aus Angst vor dieser Vision auch manche Wähler zur CSU zurück. Darüber können Wetten abgeschlossen werden. Aber offensichtlich hat die Einwanderungsfrage Deutschland tief gespalten und die Parteienlandschaft durcheinander geworfen – zurück auf Start, und zurückgeworfen auf sich selbst. Denn es darf in der neuen Politik nicht sein, was nicht sein darf. Die Spitzenkandidatin der bayerischen SPD, Natascha Kohnen, könnte gut in die Geschichte eingehen als die größte jemals lebende Wirklichkeitsverdrängerin: Für sie und ihre SPD gibt es kein Einwanderungsthema. Vielmehr sei jetzt die Zeit, die Themen nach vorne zu bringen, die die Menschen wirklich beträfen: Arbeit, Familienunterstützung, bezahlbares Wohnen. Selbst die annähernde Halbierung der Umfragewerte ignoriert Kohnen: Mehr Lebensferne ist kaum vorstellbar
Das große Beschweigen
Es ist die Hochform dessen, was der Politologe Werner Patzelt als Versuch benennt, Probleme durch „beschreiben“ zum Verschwinden zu bringen. Es klappt bloß nicht ganz so gut. Denn es geht nicht nur um Migration – es geht auch um Themen wie Einbindung in die EU, Globalisierung und Auflösung der Nationalstaaten. In der Auseinandersetzung darüber sieht Patzelt ein neues Parteiensystem entstehen. Und dabei drohen Union wie SPD zu verschwinden, weil sie keine Antworten auf die Fragen ihrer Wähler finden.
Nachdem im 19. Jahrhundert die Liberalen gegen die klerikal-monarchistischen Konservativen antraten und im 20. Jahrhundert die Parteien der entstehenden Arbeiterklasse gegen das Bürgertum, sei nun ein neuer Großkonflikt entstanden, „quer über Europa, und schichtet die Parteiensysteme um: Was soll die Rolle von Nationalstaaten samt ihren Kulturen, Grenzen und Bevölkerungsdynamiken im 21. Jahrhundert sein – unter dem Druck europäischer Unterjüngung und großem Migrationsverlangen in Ländern mit sehr jugendlicher Bevölkerung und schlechten Lebensaussichten?“ Was bleibt vom Nationalstaat, der sich vom aggressiven Konstrukt zu einem Bewahrer der Lebensstile und Lebensmöglichkeiten breiter Bevölkerungsschichten gemausert hat? Politik wird längst nicht mehr von diesen Gruppen und für diese Gruppen gemacht, sondern von einer neuen Kaste von Globalpolitikern. Sehr schnell ist, wer dazugehört, von den Widrigkeiten des Lebensunterhalts befreit und kann als NGO-Vertreter, Parlamentarier oder sonst wie Delegierter durch die Welt jetten. Globale Katastrophen und letzte Winkel der Erde werden zu polittouristischen Ereignissen für eine neue globale Elite, die sich berufen fühlt, all diese Themen ständig zu behandeln. Denn um so größer ein Problem, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dafür haftbar gemacht zu werden oder verantwortlich zu sein. So trennt sich die Bevölkerung in solche, die sich von der Globalisierung bedroht fühlen und zuschauen müssen, wie ihre unmittelbaren Lebensumstände in Stadt, Dorf und Schule sich rapide verändern – und dem Jet-Set der Globalisierungsverhandler, die genau daraus ihren Unterhalt beziehen.
Der Konflikt klafft vielfach aus; führte in den USA zum Triumph Trumps, in Großbritannien zum Brexit, in Italien zum triumphalen Sieg randständiger Parteien über das alte Establishment.
Der große Profiteur der gern beschwiegenen Dynamik in Deutschland ist die AfD. Mit 13,5 Prozent im Bundestag und bald in allen Landtagen vertreten, kämpft sie gegen wilde Zuwanderung und den Kontrollverzicht des sich selbst aufgebenden Nationalstaats. Sie will das Gewohnte, die ererbte und erarbeitete Kultur schützen, das gut eingerichtete Puppenhaus Bundesrepublik und seinen hoch entwickelten Lebensstil bewahren – die klassische Rolle der Konservativen.
Das macht sie zum erbitterten Gegner der CDU, deren pragmatischer Konservatismus Deutschland immer wieder vorangetrieben, aber unter Merkel den Kontakt mit den Wählern verloren hat: In vielen Fragen steht die AfD dort, wo die CDU vor Merkels „Modernisierung“ stand. Heute ist kaum noch vorstellbar, was für rechte Recken vom sogenannten „Stahlhelm-Flügel“ um Alfred Dregger in der Kohl-Union eine führende Rolle spielten.
Kohls Ansichten wären heute undenkbar: Der Kanzler wollte in den 80er-Jahren die Zahl der hier lebenden Türken halbieren. Von Remigrationsplänen solchen Ausmaßes ist aus der AfD nichts bekannt. Die CDU stand damals nicht nur für eine restriktive Immigrationspolitik, sondern auch für Atomkraft, Wehrpflicht, Verweigerung der Homo-Ehe und das klassische Familienbild von Vater, Mutter, Kindern. Davon ist nichts mehr übrig. Der Linksruck hat viele Wähler heimatlos zurückgelassen und früher führende CDU-Politiker wie den AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland zuerst in die Resignation und dann zum Gegenangriff geführt.
Wie viel Nation braucht das Land?
Aber es wäre falsch, die AfD nur als Klub alter weißer Männer zu zeichnen, die abgehängte Kleinbürger hinter sich versammeln. Denn diese Bewegung ist nicht auf Deutschland beschränkt: Wieder ist Deutschland eher die verspätete Nation. In den USA mit Trump, in Großbritannien mit dem Brexit-Votum, in Italien mit den Erfolgen der jetzigen Regierungskoalitionen, in Osteuropa mit betont nationalen Führern und selbst in den sozialdemokratischen Herzkammern wie Dänemark und Schweden: Die klassischen Parteien mit etwas links von der Mitte oder wahlweise rechtsgestricken Varianten haben ausgedient.
Am ärgsten trifft es die SPD. Auf Bundesebene ist sie längst keine Volkspartei mehr und kämpft mit AfD und Grünen um Rang 2 im Parteiensystem. In Süddeutschland und den neuen Bundesländern ist sie nur noch Splitterpartei mit dem beengten Kragen der FDP, in Thüringen gar bloß noch auf Platz 4 hinter Union, AfD und Linken. Ihr Problem ist kaum zu lösen: Der Sozialstaat, an dessen Auspolsterung sie seit Bismarck direkt oder indirekt maßgeblich beteiligt war, ist nun mal an nationale Grenzen gebunden.
Wer dagegen die Grenzen öffnet und neue Billigarbeitskräfte ins Land holt, drückt die Löhne: Knappheit bestimmt den Preis. Während die Arbeitskräfte demografisch bedingt weniger und wertvoller werden, eigentlich eine Traumkonstellation für die Arbeitnehmer, bekämpft die SPD genau diesen Effekt der „demographischen Dividende“. Mindestlöhne sind da nur ein Almosen. Das spürt ihre klassische Klientel in aller Schärfe, weil ihre Löhne mager bleiben, Steuern und Sozialbeiträge steigen, Mieten explodieren und die Schulen implodieren: Da fühlt man sich schnell verraten von den Sozialdemokraten, die das Volksheim nicht mehr luxuriöser ausstaffieren wollen, sondern mit neuer Konkurrenz überbelegen – vom Keller bis zum Dachboden. Natascha Kohnen mag bezahlbaren Wohnraum fordern – aber sie belegt ihn schneller mit Migranten, als realistischerweise gebaut werden kann.
Nicht mehr Schutzmacht der Kleinen
Während die SPD als Schutzmacht der kleinen Leute sich von diesen abgewandt hat und folgerichtig vor sich hin zerbröselt, steigen die Grünen auf und sind dabei zum eigentlichen Gegenspieler der AfD geworden. Selbst in Bayern, wo sie außer mit dem früheren Bürgermeister von Waging, Sepp Daxenberger, bislang noch kaum ein Amt erringen konnten, rangeln sie mit der AfD um Platz 2.
Im neuen Großkonflikt besetzen sie in sich stimmige Positionen: für weltweite Freizügigkeit, für die Überwindung von Grenzen, für den Verzicht auf die Idee nationaler Kulturen. Was anderen Parteien vor Rotzigkeit den Atem raubt, für die Grünen ist der neue Parteichef Habeck gerade richtig: „Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht.“ Die Grünen haben den Nationalstaat konsequent überwunden – außer bei der Gestaltung des eigenen Einkommens. Das darf der Staat schon sichern, er ist ja der Garant ihres Einkommens und insoweit sind sie befreit von Not und Sorge. Für sie zählt nur die Not der Welt; ihre Wähler müssen nur davon überzeugt werden, dass sie es sind, die die Kosten zu tragen haben – oder besser gesagt: Die sie teilen müssen. Denn Gerechtigkeit, die andere schultern, ist die neue Währung der Globalisten.
Brutaler kann man die neue Politikformel nicht auf den Punkt bringen: die Welt, das Klima, die Menschen in Afrika. Das ist es, was zählt, für eine Partei, die schwerpunktmäßig vom öffentlichen Dienst gewählt wird, den vielen Halbstaatlichen in den NGOs und den schicken Symbolanalytikern der modernen Welt, die sich in Berlin genau so wohlfühlen wie in Boston oder Bangladesh, das sie allerdings allenfalls aus der Perspektive von Slumbesuchern, nicht Slumbewohnern kennen.
Die kommenden Landtagswahlen werden damit zu Schicksalswahlen für das Parteiensystem: In Bayern wird am 14. Oktober die CSU ihre absolute Mehrheit verlieren – und muss sich in fragwürdige Koalitionen retten. Zur Verfügung stehen FDP, Freie Wähler und eine geschrumpfte SPD. Um die gegensätzlichen Positionen auszugleichen, werden in solchen Bündnissen immer mehr Handlungsfelder ausgeklammert. Politik wird zum Nichthandeln, so wie in Hessen, wo eine schwarz-grüne Koalition in gut gelaunter Agonie vor sich hin dümpelt – und zwei Wochen nach der Bayern-Wahl ebenfalls ihre Mehrheit verlieren wird.
Im September 2019 wählen dann die Sachsen; da liegt die AfD knapp hinter der CDU und hat das Potenzial, den nächsten Ministerpräsidenten zu stellen. In Thüringen hat es der regierende Ministerpräsident der Linken, Bodo Ramelow, geschafft, seine Partei auf Platz 3 zu schrumpfen. Immer schwieriger wird es für die Union, die AfD auszugrenzen, und immer gefährlicher, wenn sie sich in Koalitionen mit den Grünen zu retten versucht, und immer trister für die SPD, die nicht mehr weiß, wozu sie noch gut ist. Acht Wochen vor der Bayern-Wahl waren elf Prozent der Wähler „fest entschlossen“, die AfD zu wählen, insgesamt 14 Prozent hätten sie gewählt, wenn damals schon Wahltag gewesen wäre. Setzt sich die Sicht durch, dass in Chemnitz der Mord von Ausländern an einem Deutschen der Hauptskandal war, dann kann die AfD bei 20 Prozent landen.
Ähnlich stark sind die Grünen. Entscheidend sind die letzten Tage. Stimmungen entscheiden, Gerüchte und die Verschwörungstheorien, die in den jeweiligen Lagern kursieren. Die Grünen setzen auf einen Fernsehwahlkampf; kaum eine Talkshow, in der sie nicht eingeladen sind. Weitestgehend ausgesperrt bleibt die AfD – die sich aber längst ihre eigene, alternative Medienwelt geschaffen hat und gut vom Ruf der Verfolgten lebt und vom rapiden Vertrauensverlust in die klassischen Medien.
Die große Gefahr ist, so Meinungsforscher Binkert, „dass selbst wahre Geschichten nicht mehr geglaubt werden“. Merkels Deutschland zerfällt in abgegrenzte Filterblasen – was war eigentlich wirklich los in Chemnitz?
Wahlwette Bayern:
Wer über alle genannten Parteien hinweg am nächsten an den Ergebnissen landet, gewinnt.
Ihre Wetten nehmen wir ab sofort entgegen.
Annahmeschluss ist der Wahlsonntag (14.10.2018 ) um 16:30 Uhr. Das Wettergebnis wird am Wahlsonntag um 17.45 Uhr veröffentlicht.
Auf die Gewinner wartet:
1. Platz: eine Flasche Champagner von Tante Mizzi
2. Platz: zwei Bücher aus dem Shop nach Wahl
3. Platz: ein Buch aus dem Shop nach Wahl