Tichys Einblick
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Meinungsfreiheit herrscht oder nicht

Die Tatsache, dass wir heute mehr menschenfeindliches Zeug lesen und hören können, ist kein Beweis dafür, dass es mehr Menschenfeindlicheit gibt, sondern lediglich ein Zeugnis dafür, dass es Meinungsfreiheit gibt.

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Der Artikel 5 Club kennt nur eine Aufnahmeregel: Verteidigen Sie das Recht eines Menschen, dessen Meinung Sie verabscheuen, seine Meinung zu sagen. Es darf aber keine Meinung sein, die Sie nur blöd finden oder wo Sie lediglich eine andere Meinung haben, nein, es muss eine Meinung sein, die Ihr Blut regelrecht zum Kochen bringt! Die Meinung muss Sie richtig anekeln und Ihnen Angst machen.

Ich bin seit einiger Zeit Mitglied in diesem Club. Ich habe nämlich am eigenen Leib erleben müssen, dass das Verbieten von Meinungen nichts bringt. Zur Erläuterung müssen wir ein paar Jahre in die Vergangenheit reisen.

Am 21. Januar 2010 ging ich mit meiner Frau durch Köln spazieren. Am Dom entdeckten wir einen Rentner, der dort eine Galerie aufgestellt hatte, an der er den Passanten unter anderem eine Karikatur zeigte, auf der ein Jude zu sehen war, der ein Kind aß und sein Blut trank. Ich war von der Karikatur so entsetzt, dass ich sofort die Polizei anrief und eine Anzeige wegen des Verdachts auf Volksverhetzung nach §130 StGB stellte. Die Kölner Staatsanwaltschaft entschied jedoch, die Karikatur sei nicht antisemitisch, da die dargestellte Person auf der Karikatur nicht als Jude erkennbar sei, da sie keine „Krummnase“ habe. Unglaublich, aber wahr, die Staatsanwaltschaft erklärte tatsächlich:

„Typisch für antijüdische Bilddarstellungen zu allen Zeiten ist die Verwendung von bestimmten anatomischen Stereotypen, die den Juden schlechthin charakterisieren sollen. Dabei werden insbesondere Gesichtsmerkmale überzeichnet, um den Juden als hässlich, unansehnlich und rassisch minderwertig erscheinen zu lassen (jüdische „Krummnase“, etc.) Einer solchen Bildsprache wird sich vorliegend nicht bedient.“

Die Kölner Staatsanwaltschaft entschied: Wo keine Krummnase, da kein Jude! Es war das erste Mal, dass mich arge Zweifel plagten, ob der Staat das Recht haben sollte, die Meinungsfreiheit einschränken zu dürfen.

Der Rentner vor dem Kölner Dom tat sich bis zu seinem Tod im Jahr 2016 immer wieder mit hasserfüllten Aussagen hervor. An seiner Galerie behauptete er zum Beispiel, das israelische Volk erpresse bereits seit Jahrhunderten die Welt, womit er klar machte, dass er nicht das Volk des Staates Israel meinte, das es schließlich erst seit dem Jahr 1948 gibt, sondern das israelische Volk, das es bereits seit Jahrhundert gibt: Juden. Zudem verglich der Rentner Israel mit Hitler und behauptete: „Wie früher die Deutschen mit den Juden – so heute die Israelis mit den Palästinensern.“

Da die Holocaustleugnung und die Billigung, Leugnung und Verharmlosung des Nationalsozialismus laut §130 StGB ebenfalls eine Straftat ist, erstatte ich aufgrund dieser Parolen erneut Anzeige, da die Behauptung, die Nazis damals seien so gewesen wie die Israelis heute, eine klare Verharmlosung des Holocausts darstellt. Wieder entschied die Kölner Staatsanwaltschaft, bei der Aussage handele es sich um erlaubte Kritik am Staate Israel:

„Ferner bleibt entscheidend zu berücksichtigen, dass im Falle einer Mehrdeutigkeit des Erklärungsgehalts solange nicht von einer allein strafrelevanten Deutung auszugehen ist, bis andere Deutungsmöglichkeiten auszuschließen sind.“

Die Zweifel, ob der Staat das Recht haben sollte, die Meinungsfreiheit einschränken zu dürfen, wuchsen. Im Jahr 2014 schließlich, erklärte der Rentner den Völkermord an Juden als legitimen Widerstand, indem er titelte: “HAMAS = Volks-Widerstand”. Mehrere Menschen erstatteten daraufhin Anzeige. Eine Anzeige las sich wie folgt:

„Die Hamas fordert meinen Tod! Artikel 7 der Gründungscharta der Hamas fordert den Tod aller Juden weltweit, also auch in Deutschland. Das ist der Grund, warum die Hamas in Deutschland als Terrororganisation eingestuft wird. Ich bin Jüdin! Die Hamas fordert meinen Tod. Vor dem Kölner Dom wird diese Forderung als legitimer Widerstand verharmlost. Ich erstatte daher Strafanzeige. So lange vor dem Kölner Dom der Aufruf zum Judenmord als Widerstand bezeichnet wird, werde ich in Köln als Jüdin beleidigt, bedroht und verfolgt.”

All diese Anzeigen wurden von der Kölner Staatsanwaltschaft abgelehnt und meine Zweifel an das Recht des Staates, die Meinungsfreiheit einschränken zu dürfen, wuchsen weiter.

Zensur trifft immer die Falschen

Die ständige Ablehnung der Kölner Staatsanwaltschaft, brachte mich im Jahr 2014 dazu, einen Test zu starten. Für meinen Blog „Tapfer im Nirgendwo“ schrieb ich eine Glosse, in der ich die Parolen des Rentners vor dem Kölner Dom nahm und das Wort „Israel“ mit dem Namen des Rentners austauschte. Ich wurde daraufhin von dem Rentner angezeigt und siehe da, die Kölner Staatsanwaltschaft forderte prompt 100,- Euro von mir, damit kein Verfahren wegen Beleidigung gegen mich eingeleitet wird. Es war der Tag, da mein Zweifel in Gewissheit kippte. Der Staat darf keine Zensur üben, auch nicht für einen vermeintlich guten Zweck. Es trifft nämlich die Falschen!

Ein weiterer Test von mir nahm die Kölner Polizei unter die Lupe. Am 9. Juli 2011 rief ich bei der Polizei an, weil der Rentner seine abscheulichen Parolen an Laternen vor dem Kölner Dom befestigt hatte und niemand das Recht hat, wild zu plakatieren, schon gar nicht mit politischen, propagandistischen und aufstachelnden Plakaten. Die Polizei erklärte mir, dass das Ordnungsamt zuständig sei. Dort erklärte mir eine Dame, dass Wildplakatieren verboten sei. Daraufhin schlug ich vor, zum Domkloster 4 zu kommen, da dort seit Jahren nahezu täglich politische und anti-israelische Vorurteile verbreitet würden. Die Dame erklärte mir, dass momentan keine Kapazitäten frei seien, da das Ordnungsamt damit beschäftigt sei, „wild grillende“ Menschen zu entfernen. Ich rief also wieder bei der Polizei an und berichtete, dass das Ordnungsamt nicht tätig werden könne, worauf die Polizei erklärte, dann doch mal einen Wagen vorbei zu schicken. Vor Ort wurde mir erklärt, dass des Rentners Plakate an den Laternen toleriert werden. Die Polizei sagte: „Er genießt hier nun mal Narrenfreiheit. Er wird toleriert!“

Merkwürdiger Toleranz-Maßstab

Die Narrenfreiheit des Rentners reichte weit. In einem Flugblatt, das er im April 2013 vor dem Kölner verteilte, bezeichnete er mich als „kriminellen Israel-Lobbyisten“ und holt weit aus gegen mich. Eine Anzeige meinerseits endete am 12. Februar 2014 vor dem Kölner Amtsgericht mit der Entscheidung, dass ich als „krimineller Israel-Lobbyist“ bezeichnet werden dürfe, da dies zulässige Kritik sei.

Menschen, die Israel unterstützen, dürfen in Deutschland als „Kriminelle“ bezeichnet und teilweise sogar behandelt werden. Im Januar 2009 stürmten in Duisburg Einsatzkräfte der Polizei eine private Wohnung in Abwesenheit der Mieter, um eine Israel-Flagge aus dem Fenster zu entfernen, da eine aufgeputschte Meute von israelfeindlichen Demonstranten auf der Strasse den Anblick eines blauen Davidsterns nicht ertragen konnte. In guter alter Tradition deutscher Pogrome bewarfen sie das Fenster mit Steinen. Die Polizei hätte zwar dafür sorgen können, dass die Meute mit ihrer Gewalt aufhört, aber stattdessen stürmte sie die Wohnung und machte somit die Mieter der Wohnung nicht nur zu Opfern der Judenhasser, sondern gleich auch zu Opfern des Deutschen Staates. Wieder einmal kapitulierte der Deutsche Staat vor dem Terror der Sturmtruppen auf der Strasse.

Die Davidstern-Flagge wurde sanktioniert

Im selben Monat fand in Bochum eine Demonstration von über 1.500 Personen gegen den Staat Israel statt, zu der vier Moscheegemeinden aufgerufen hatten. Im Zuge dieser Demonstration wurden Parolen wie „Kindermörder Israel“, „Stoppt den Holocaust in Gaza“ und „Terrorist Israel“ laut. Alles schien darauf hinaus zu laufen, dass gleich jemand eine Israel-Flagge verbrennt. Als jedoch eine Studentin die Israel-Flagge herausholte und nicht verbrannte, sondern stolz schwenkte leitete die Staatsanwaltschaft später ein Strafverfahren gegen die Studentin ein, das mit einer Geldstrafe von 300,- Euro gegen die Studentin endete. Die Richterin hielt der Angeklagten vor: „Das war keine ungefährliche Situation, die Sie geschaffen haben.“

Ich habe mich viele Jahre mit den Gesetzen, die die Meinungsfreiheit in Deutschland einschränken, beschäftigen und muss feststellen: All diese Gesetze schützen nicht! Sie schützen mich nicht davor, als „krimineller Israel-Lobbyist“ bezeichnet zu werden und sie schützen Juden nicht davor, dass ihre Vernichtung als „Widerstand“ verharmlost wird. Stattdessen verbieten diese Einschränkungen das Zeigen der Fahne Israels, das Kritisieren von Religionen und die Schmähung von Symbolen!

Ich lebe lieber in einem Land, in dem Gott, der Präsident und eine Fahne geschmäht werden können, es aber wenige tun, als in einem Land, wo es verboten ist, sich aber unzählige Unterdrückte danach sehnen, es zu können! Der Staat hat nicht zu entscheiden, was ich über Gott, einen Präsidenten, eine Fahne, ein Land, einen Prophet, einen Bürger oder einer Bürgerin sage. Ich habe in den letzten Jahren erkennen müssen, dass sämtliche Gesetze, die dem Staat die Macht geben, darüber zu entscheiden, was angemessene Meinung ist, letztendlich missbraucht werden. Ein Beamter hat eine offenkundig judenfeindliche Karikaturen zugelassen, während eine andere Beamtin, das Zeigen der Israelfahne unter Strafe gestellt hat. Kein Staat darf Menschen verbieten, ihre Gedanken auszusprechen! Und ja, es gibt widerliche Gedanken, das weiß ich aus eigener Erfahrung! Daher bin ich nun Mitglied im Artikel 5 Club.

Meinungsfreiheit herrscht oder nicht

Oft höre ich, Meinungsfreiheit schließe keine Hassreden und Falschaussagen ein, aber genau das tut sie. Es ist die exakte Definition von Meinungsfreiheit, dass auch falsche Meinungen geäußert werden dürfen. Es gibt kein Zuviel an Meinungsfreiheit. Entweder gibt es Meinungsfreiheit oder es gibt sie nicht. So einfach ist das! Es gibt jedoch ein Zuviel an Angst und ein Zuviel an Beleidigtsein. Gegen Meinungen, die schmerzen, mögen sie nun schmerzen, weil sie wahr sind oder weil sie unwahr sind, hilft als Sofortmaßnahme ein einfaches Weghören und auf längere Sicht die Gegenrede als zivilisierte Form der Verteidigung.

Wer glaubt, ein Mensch sei eine Gefahr, weil er spricht, glaubt auch, eine Frau sei eine Gefahr, wenn sie ohne Verschleierung aus dem Haus geht. Die Zensur ist für die Redefreiheit das, was der Schleier für die Rechte der Frau ist. Jede Frau darf selbst entscheiden, ob sie einen Schleier tragen möchte, so wie jeder Mensch selbst entscheiden darf, ob und zu was er schweigen will. Es darf keinen Zwang geben, weder für den Schleier noch für den Mantel des Schweigens! Meinungsfreiheit gilt auch für die Hassrede! Sonst müsste der Koran schon längst verboten worden sein, denn da stehen einige deutliche Aufrufe zur Gewalt drin.

Stellen Sie sich einfach mal vor, Sie gingen in eine Kneipe und da säße ein Mann mit einem Hakenkreuz am Revers. Sie würden denken: „Oh, ein Nazi, dem gebe ich kein Bier aus.“ Jetzt stellen Sie sich aber mal vor, er trüge dieses Hakenkreuz nicht, weil es verboten ist. Sie würden sich vielleicht hinsetzen, sich vorstellen und er würde Sie nicht mit „Heil Hitler“ begrüßen, weil das unter Hassrede fällt. Sie würden ein wenig plaudern, dabei das ein oder andere Bier trinken, vielleicht sogar ein Bier ausgeben, bis das Gespräch auf ein Thema fällt, bei dem Sie plötzlich merken: „Scheiße, ein Nazi!“ Dann aber ist es zu spät. Sie haben ihm bereits ein Bier ausgegeben. Alles nur, weil ein Verbot des Hakenkreuzes und des Sagens von „Heil Hitler“ Sie daran gehindert hat, den Mann sofort als das zu erkennen, was er ist. Ich weiß lieber, wie jemand drauf ist, bevor er zur Tat schreitet. Außerdem möchte ich mit einem Nazi nicht plaudern. Mit einem Nazi möchte ich ausnahmslos Klartext reden!

Reden lassen und Zuhören ist ein präventiver Schutzmechanismus. Nur so lerne ich das Innere eines Menschen kennen und kann rechtzeitig entscheiden, ob ich mich vor ihm schützen sollte. Meinungsfreiheit nutzt dem Gehassten immer mehr als dem Hassenden! Wer alles ausklammert, was ihm nicht gefällt, wird blind für das, was wirklich in der Gesellschaft vor sich geht und wird entsetzt aus dem Sessel fallen, wenn bei einer Wahl die Menschen in der geheimen Wahlkabine ihre Meinung in ein definitives Kreuz verwandelt haben. Wer das öffentliche Reden verbieten möchte, sagt damit, dass es besser ist, über jemandem hinter seinem Rücken zu reden. Das ist jedoch niemals besser.

Meinungen verbieten ist das Ende der Meinungsfreiheit

Andere Meinungen ausklammern ist so effektiv wie das kleine Kind, das sich die Hände vor die Augen hält und glaubt, so sei die Gefahr verschwunden. Internetseiten zu löschen, im Glauben, man würde dadurch etwas verhindern, ist so produktiv, wie Bücher zu verbrennen!

Das Verbieten von Meinungen ist ein Präventivschlag, ein Kampf gegen eine Zukunft, die aus der eigenen Angst konstruiert wurde. Wer Meinungen verbietet, nimmt andere Menschen als Geisel der eigenen ängstlichen Vermutung. Diese Angst ist die Wurzel des totalitären Denkens, die Gewalt über Gedanken als Präventivschlag ermöglicht.

Das Problem ist nicht die Meinungsfreiheit, sondern der Wille der Hassenden, die Meinungsfreiheit mit Gewalt abzuschaffen. Gedanken verschwinden nicht, nur weil sie nicht mehr gesprochen werden. Der Mensch, der in den Augen eines anderen Menschen ein Schwein ist, bleibt für ihn ein Schwein, auch wenn er es nicht mehr sagen darf. Das Messer in der Hose eines Mannes verschwindet nicht, wenn ihm der Mund verboten wird! Die Nazis wurden groß in einer Welt, in der es kein Internet gab. Meinungsfreiheit ist nicht das Problem, im Gegenteil: Eine der ersten Aktionen der Nazis, nachdem sie die Macht dazu bekommen hatten, bestand darin, Meinungen zu kriminalisieren und Kunst zu verbieten.

Deshalb ist ein Staat, der Zensur übt, immer schlimmer als ein Individuum, das menschenfeindliche Phrasen drischt.

Die Tatsache, dass wir heute mehr menschenfeindliches Zeug lesen und hören können, ist kein Beweis dafür, dass es mehr Menschenfeindlicheit gibt, sondern lediglich ein Zeugnis dafür, dass es Meinungsfreiheit gibt. Genau diese Freiheit sorgt aber dafür, dass die Menschen, die so reden, über uns denken und reden dürfen, wie sie wollen, sie dürfen und können uns aber nicht an den Kragen. Sie müssen uns ebenso aushalten wie wir sie. Diese Gewissheit gibt mir Sicherheit und Zuversicht.

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