In diesen Tagen über eine „Überzeugungsstrategie“ für die christlichen Kirchen, vor allem der katholischen zu sprechen, ist gewagt, wenn nicht sogar lebensfremd. Die katholische Kirche in Deutschland befindet sich in ihrer schwersten Krise. Die unzähligen positiven und förderlichen Aktivitäten des institutionalisierten Christentums geraten angesichts des grauenhaften und systemisch-verschleierten Missbrauches von Kindern und Jugendlichen in den Hintergrund.
Und doch ist die Kirche Tag für Tag präsent und handelt auf den unterschiedlichsten Ebenen. Sie ist politischer, gesellschaftlicher und lebensnaher Akteur, vertreten durch ihr eigenes Personal und die unzähligen Laien und Freiwilligen, die weiterhin „ihr Bestes“ tun, zahlreiche Menschen fördern und unterstützen.
Kirche als Kaugummi?
Ist es vor dem Hintergrund erlaubt, sich über die Optimierung der öffentlichen Durchsetzung der Kirchen Gedanken zu machen? Es ist für jeden einigermaßen sensiblen Beobachter (dankenswerterweise) befremdlich, wenn auf die Kirche als „Leib Christi“ die identischen Kategorien angelegt werden wie auf Kaugummi, Universalreiniger und Erfrischungsgetränke. Ursache für den gefühlten Widerwillen ist ein verengtes Bild auf den Sachverhalt, das Wesen und die Dynamik von Marke und Werbung.
Die Frage was überhaupt eine Marke ist, wird selbst bei Wissenschaftlern eine Vielzahl von Deutungen hervorrufen. Ausgehend von einem markensoziologischen Standpunkt ist Marke ein „positives Vorurteil“, dass in Bezug auf einen Gegenstand, eine Leistung oder eine Idee besteht. Soziologisch relevant ist eine Marke, weil die Soziologie (in einem klassisch deutschen Wissenschaftsverständnis) die „Lehre von den Bündnissen“ ist. Marken sind in ihrer Struktur Bündnissysteme, indem ein Käufer ein Bündnis mit einer Leistung eingeht … und mitunter dafür bezahlt. Leistungen strukturieren Märkte, weil bestimmte Menschen von den angebotenen Leistungen angezogen werden, andere nicht. Märkte sind demnach nie Ursachen, sondern die Wirkungen kollektiver Erwartungshaltungen über die Zeit.
Auch die Institution Kirche ruft – trotz allem – weiterhin positive Erwartungshaltungen hervor: Der Einsatz für die Schwachen, für Jungen und Alten, das Dasein in den persönlichen Momenten der Krise sind die weltlichen „Leistungen“ einer 2000 Jahre alten Institution. Die Fundamentalität des aktuellen Missbrauchsskandals wird vor dem Hintergrund erklärbar, dass die Kernwerte der „Marke Kirche“ in ihr Gegenteil verkehrt wurden …
Die Volkskirche ist seit 50 Jahren eine Phantasie
Ohnehin kämpft die Kirche mit dem sozialen Wandel. Ganz im Gegensatz zu der verbreiteten Meinung, setzte dieser Wandel aber nicht erst mit Beginn der 1960er und 70er Jahre ein, sondern war bereits nach dem ersten Weltkrieg spürbar – man lese die Beobachtungen des jungen Dietrich Bonhoeffer aus den 1920er Jahren. Die Rückbesinnung auf die Kirche zuvor – zu sehen an den vielen Kirchenneubauten bis in die 70er Jahre hinein – war vor allem eine Reaktion auf die verheerenden Erfahrungen des 2. Weltkrieges. Der Kirche kam die Rolle eines stabilen gesellschaftlichen Institution zu. Jedoch: Die Vorstellung einer lebendigen Volkskirche war bereits in dieser Zeit eine Illusion.
Seitdem ist die Anzahl der Kirchenmitglieder in vielen Regionen um bis zu 50% gesunken. In Zeiten sich auflösender gemeinschaftlicher Netzwerke und Milieus besteht kein Automatismus „Katholik“ oder „Protestant“ zu werden. Die Vorstellung einer „unbewussten Mission“ durch Familie und Lebensumwelt ist in Zeiten brüchiger sozialer Netzwerke (von der Ehe bis zum Beruf) illusorisch. Organisatorisch hat dieser Wandel zu Individualisierung und modularen Lebensentwürfen direkte organisatorische Auswirkungen auf die Kirche. Allenthalben (siehe TE) ist von Kirchenschließungen zu lesen. Viele Gemeinden haben keinen Pfarrer mehr. Kirchliche Schulen und Altenheime werden geschlossen oder in freie Trägerschaften entlassen. Die Kirche räumt das Feld.
Langfristigkeit und Awareness-Strategien
Klar ist: Die Kirchen sind von Milieugemeinschaften zu Überzeugungsgemeinschaften geworden. Kirche muss für sich gewinnen, will sie in irgendeiner Form eine soziale Relevanz entwickeln (über die Altersgruppe der „Best Ager“ hinaus, die zunehmend die Wirklichkeit in den Gemeinden bestimmen und so unbewusst auch eine soziale Hermetik fundamentieren). Klar ist auch: Überzeugen wird nur der, der von sich selbst überzeugt ist. Zeugnis seiner Position ablegt.
Aus diesem Grund wird eine planvolle Kommunikation der Kirchen immer wichtiger. Das Problem: In dem nachvollziehbaren Wunsch der Professionalisierung lassen sich kirchliche Institutionen auf die klassischen Anbieter der Werbebranche mit ihren Loftbüros, japanischem Fingerfood und schmissigen Denglish-Präsentationen ein. Ein immer wiederkehrendes Problem der klassischen Auffassung von Werbung ist das Verhältnis von Kurz- und Langfristigkeit. Strukturell betrachtet ist der entscheidende Unterschied zwischen der Kommunikation für einen Schokoriegel und der Kirche, dass Konsumgüter sich schnell verkaufen sollen, während die Institution Kirche von einem ausladenden zeitlichen Radius ausgehen sollte. Diese beiden Zeithorizonte treffen ungesagt aufeinander und bedingen oftmals eine Kommunikation, die zwar aufmerksamkeitsstark, aber gleichzeitig markenschädigend ist. Jeder Werbeprofi weiß, dass Aufmerksamkeit (im Fachjargon Awareness) sehr simpel herzustellen ist: Das Überraschen und Irritieren von Vorurteilsbildern (bspw. Mercedes wirbt mit dumpfen Bässen und ehemaligen Crack Dealern) oder das Brechen von Tabus führt garantiert zu Aufmerksamkeit (der neuen Währung der Werbung … im Gegensatz zum schieren, fast unangenehmen Verkauf) , aber es hat meist gar nichts mit der Wirklichkeit in der beworbenen Institution oder den zu bestätigenden Inhalten zu tun. Im Ergebnis sind alle irritiert: Die neuen, die erreicht werden sollen, nehmen einer Marke diesen „Werbeauftritt“ nicht ab und das Stammpublikum erkennt seine Marke nicht wieder.
Erfahrungen sind wichtiger als Werbung
Hinzukommt, dass die eigentliche Wirksamkeit von Werbung in Zeiten der Digitalisierung maßlos überschätzt wird. Kein denkender Mensch vertraut noch Werbung, wenn er sie denn überhaupt auf seinem Smartphone-Bildschirm erkennt. Stattdessen wird der ganz altmodische „Rat“ eines Familienmitgliedes oder Freundes immer wichtiger (der hoch gefeierte Influencer nimmt eben diese Rolle metaphorisch auf und highjacked die Vorstellung des guten Freundes vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Interessen).
Was folgt daraus? Eine langfristig-orientierte Überzeugungskommunikation für die Kirchen muss nicht vornehmlich an Bildern, Logos oder Internetseiten ansetzen, sondern die Leistungsfelder der Kirchen stärken. Diese Überzeugungskommunikation setzt auf die stärkste Botschaft überhaupt: Die guten Erfahrungen der Menschen, die mit einer Kirche in Kontakt kommen. Dies bedeutet die Stärkung aller Felder in denen die positiven Vorurteile ihre konkrete Entsprechung erfahren. Engagierte Kindergärten, die Sorge um die Alten und die Hilfe in schwierigen Lebenssituationen sind die entscheidenden Bausteine, damit Kirche wirkt. Es sind nicht zielgruppenorientierte Gottesdienste mit Coffee-Lounge, Latte Macchiato und Elektropunk-Musik, denn für einen guten Kaffee geht kein Mensch in die Kirche – das kann Starbucks besser.
Flagshipstore Kirche
Gerade wenn in der Fläche immer weniger Gemeinden „ihre“ Kirchen und Häuser besitzen, kommt es darauf an in den verbliebenen Häusern im Sinne von „Flaggschiffen“ konzentriert und idealtypisch Präsenz zu zeigen: Als gemeinschaftliche Institution, die die Caritas, das heißt das Wirken für andere in den Vordergrund stellt. Diese Flaggschiffe müssen die Leuchttürme christlichen Lebens sein – ganz konkret und vor allem authentisch und lebensnah in ihrer Präsenz. Wenige Leuchttürme, aber im übertragenen Sinne gut und hell … durch herausragende Angebote für Kinder und Jugendliche, durch Treffpunkte für Engagierte, Starke und Schwache. Anders gewendet: Kirche ist Leben. Es gilt: Glaube konkret machen. In dieser Vorstellung bilden die kirchlichen Gemeinden „Räume des Menschlichen“, in welchem Konkurrenzgedanken und Fragen der Wirtschaftlichkeit reduziert sind und den konstruktiven Zweifel zulassen. Kirchen müssen wieder zu besonderen Orten mit Standpunkt werden.
An sich sind die Kirchen in einer perfekten Position: Sie müssen nur mit Stolz auf ihre eigenen Leistungen verweisen und kein Spielball des Zeitgeistes sein. Die Kirche muss die zweifelsohne bestehenden sozialen und sozialpsychologischen Veränderungen anerkennen und sie vor dem Hintergrund ihres schöpferischen Leistungsportfolios selbstbewusst und fokussiert in die Neuzeit übertragen … und nicht den Werbern vertrauen!
Hinweis:
Oliver Errichiello am 1.10.2018 um 9:35 Uhr zu Gast bei „Tag für Tag“ im Deutschlandfunk, zum Thema:
Aus Religion und Gesellschaft
„Die Krise der katholischen Kirche und das Marketing:
Der Markensoziologe Oliver Errichiello sieht angesichts des Missbrauchsskandals keine schnellen Lösungen. Er rechnet mit einer sehr, sehr langsamen Heilung. Das Vertrauen sei vollständig erschüttert, sagt er im Gespräch mit Andreas Main. Nicht Worte, nur faktische Veränderungen in der Kirche könnten Glaubwürdigkeit wiederherstellen.“ (Text: Deutschlandfunk)