Diesen Sommer hat uns die Bundesregierung noch Grille sein lassen. Wir durften in den Tag hineinleben wie das leichtlebige Insekt in Jean de La Fontaines Fabel. Der gesetzliche Zwang, vorzusorgen und unsere Häuser oder Wohnungen zu dämmen, bis kaum mehr ein Fürzchen Wärme durch Mauer, Dach und Fenster entweichen kann, wurde ausgesetzt. Vorerst. Dabei wird es nicht bleiben. Energieverordnungen und Bauvorschriften werden ständig verschärft, irgendwann wird doch die ganz große grüne Gesetzesklatsche niedersausen, um uns auf den Weg der Ameise zu zwingen, die im Sommer emsig vorsorgt für den kalten Winter.
Das ist im Prinzip ja auch richtig, wer heizt schon gerne seinen Vorgarten. Das wird aber nicht einfach und schon gar nicht billig. In den kommenden Jahren wird Wohnen in Deutschland sehr, sehr teuer werden, je Eigenheim werden rund 70 000 Euro, je Wohnung im Schnitt 30 000 fällig. Auch das Bild unserer Städte droht sich zu verändern: Weil Ästhetik zurückgestuft wird zugunsten der Dämmung, werden die Fenster zu Schießscharten, werden vielfach Giebel und Erker der Spitzhacke zum Opfer fallen, Fachwerk und Klinker hinter Dämmtapeten verschwinden.
Das alles muss es uns wert sein, weil wir das Weltklima retten wollen. Und das ganz alleine. Ein internationales Klimaabkommen ist nicht in Sicht; auf dem Klimagipfel in Kopenhagen waren die Klimapropheten aus Berlin und Brüssel nicht einmal als Verhandlungspartner gefragt. Ziemlich einträchtig haben China, Indien und Brasilien hinter verschlossenen Türen darüber verhandelt, wie sie es hinkriegen, wenn in den beiden kommenden Jahrzehnten der weltweite Energieverbrauch um 50 Prozent steigt. Die Bundesregierung geht einen anderen Weg – der Stromverbrauch soll sich in den kommenden 40 Jahren trotz Elektroautos halbieren; schon bis 2050 der CO2-Ausstoß um 80 Prozent sinken. Weil in der Industrie gar nicht mehr so viel zu holen ist, will man nicht die letzten energieintensiven Werke vertreiben, und weil der Verkehr der autoverrückten Deutschen wenig hergibt, sind jetzt als Retter der nationalen Klimaplanwirtschaft die Häuser und Wohnungen notwendiges Sparschwein.
In den Vorstädten Münchens und den Villenvierteln Düsseldorfs, in Berlin-Mitte und an den Uferpromenaden Potsdams, wird das durch den vorübergehenden Verzicht auf ein SUV zu schaffen sein. Aber was geschieht bei Rentnern, denen die Mittel schlicht fehlen? Fallen ihre alten Häuser gleich an die Styroporindustrie? Was in Berlin-Marzahn oder Köln-Kalk, wo die Mieten von fünf Euro im Schnitt pro Quadratmeter dämmungsbedingt auf acht oder neun Euro steigen müssten? Dort müssen die neuen Armen der Klimapolitik höher zusammenrücken oder höher subventioniert werden. Parteien und Sozialverbände, die sonst jeden eingesparten Euro als grausamen Sozialkahlschlag diffamieren, schweigen angestrengt.
Das Vorhaben ist ehrgeizig. Denn es muss jeder, der ein Dach über dem Kopf hat und noch nicht in der Isolation eines Energiesparhauses wohnt, zahlen. Wirtschaftlich gesehen lohnt sich die Dämmung nicht; Kritiker nennen es sogar eine der größten Kapitalvernichtungsaktionen aller Zeiten. Das ist nur bedingt richtig. Es ist eher eine Wette auf die Zukunft, an der alle Deutschen Zwangsteilnehmer sind: Steigen die Energiepreise rapide, sitzen wir im Warmen, Vorbild für den frierenden Rest der nördlichen Halbkugel. Bleibt der Anstieg moderat, dann sitzen wir arm im Warmen, das Gespött der Nachbarn. Es ist auch eine Wette darauf, ob die neuen Kernkraftwerke in Tschechien, Frankreich und der Schweiz schnell genug ans Netz gehen, um die laut Energiekonzept vorgesehene Importlücke der einheimischen Stromproduktion von 30 Prozent schließen zu können, oder ob rechtzeitig der Strom aus der Wüste kommt.
Sagt doch die Ameise zur frierenden Grille: „Du hast den Sommer über musiziert? Wie hübsch. So tanze jetzt.“
Sind wir jetzt Grille oder Ameise?
(Erschienen am 23.10.2010 auf Wiwo.de)