Es gibt wohl wenige Politiker in Europa, die im Westen des Kontinents, aber auch in Deutschland so umstritten sind wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. Der Druck, Fidesz, seine Partei, in Brüssel aus der Fraktion der europäischen Volkspartei hinauszuwerfen, nimmt fast täglich zu, und im EU-Parlament fordert eine Mehrheit der Abgeordneten ein Verfahren gegen Ungarn, weil das Land fundamentale Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verletze, wie in ähnlicher Weise auch Polen. Außerdem gilt die Fidesz-Regierung bei Kritikern weithin als korrupt – die Ausschaltung der Kontrollfunktion der Gerichte erleichtert die illegale Bereicherung von Politikern natürlich – , was freilich für eine ganze Reihe von anderen Regierungen in der EU auch gilt, ohne dass das Brüssel unbedingt stören würde, man denke an die Strafverfahren in Griechenland gegen staatliche Statistiker, die nicht bereit sind, öffentlich zu lügen.
Orban ist freilich in der EU keineswegs ganz so isoliert, wie man meinen sollte, er besitzt nicht nur in Ostmitteleuropa viele Verbündete, er kann sich auch auf gute Beziehungen zu Teilen der italienischen und der österreichischen Regierung stützen, und seine grundsätzliche Opposition gegen Immigration aus Asien und Afrika dürfte der Haltung einer nicht ganz kleinen Minderheit in Ländern wie Deutschland oder Frankreich entsprechen. Für Furedi ist das ein Zeichen dafür, dass wir es in der EU mit einem wirklichen Kulturkonflikt zu tun haben. Auf der einen Seite stehen die Kosmopoliten und Befürworter einer Entmachtung der Nationalstaaten, die ganz auf Brüssel setzen, auf der anderen Seite Bewegungen, die ältere nationale Traditionen und Identitäten bewahren wollen und dabei auf einer mehr oder weniger starken Abschottung ihrer Länder gegenüber Immigranten, vor allem gegenüber nicht-europäischen Migranten, beharren.
Ein ungarischer Sonderweg?
Dass in Ungarn der Widerstand gegen ein post-nationales Denken besonders stark ist, überrascht nicht, das macht auch Furedi deutlich. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges verlor Ungarn über 50 % seines Staatsgebietes. In Siebenbürgen und im alten Oberungarn (jetzt Slowakei, damals Teil der Tschechoslowakei) waren rund 30 % der Bevölkerung ethnisch gesehen Magyaren. Die Ungarn haben das Trauma der Aufspaltung ihres Landes, die sich allerdings anders als nach 1945 im Falle Deutschlands nicht mit einer Massenvertreibung verband, nie wirklich verarbeitet. Viele Auslandsungarn besitzen im übrigen heute die ungarische Staatsbürgerschaft (als Zweitstaatsbürgerschaft) und unterstützen bei den Parlamentswahlen oft die Partei von Orban, Fidesz, ähnlich wie in Deutschland viele Auslandstürken für Erdogan stimmen.
Jedenfalls lag es für die Ungarn nach 1920 nahe, ihre Nation vor allem über Sprache, Kultur und ethnische Herkunft zu definieren, nicht über staatliche Institutionen, an denen ja nur die Ungarn Anteil hatten, die im verkleinerten ungarischen Königreich (bis 1944 eine Monarchie ohne König, aber mit einem Reichsverweser, dem Admiral Horthy), nicht die mehr als drei Millionen Magyaren außerhalb der neuen Staatsgrenzen. Dazu kam, dass in Ungarn die russische Herrschaft der Nachkriegszeit, gegen die man sich 1956 in einem Aufstand erhob, als besonders drückend empfunden wurde. 1989 kam nicht nur die Stunde der Befreiung von Kommunismus, sondern auch der Wiederherstellung eines echten Nationalstaates. Der EU trat man nicht so sehr bei, um das eigene Land in einem größeren Ganzen aufgehen zu lassen, sondern um die neu gewonnene nationale Freiheit zu schützen, was im übrigen in gleicher Weise, wenn nicht noch stärker auch für Polen galt.
Was kann die EU den ungarischen „Populisten“ entgegenstellen?
Die politische Kultur, die auf diesen Fundamenten gewachsen ist, mag vielen Westeuropäern befremdlich, ja gefährlich, eben rechtspopulistisch, erscheinen, nur was haben die EU-Kosmopoliten ihr entgegenzusetzen? Es mag richtig sein, dass Orban und seine Berater sich ihre spezifischen Geschichtsmythen aus Bruchstücken der nationalen Geschichte zusammenbasteln, was sich dann auch mit einer recht eigenwilligen Deutung der Geschichte des II. Weltkrieges (in dem Ungarn die längste Zeit mit dem Dritten Reich verbündet war, auch wenn Horthy, solange er an der Macht war, trotz seines unverhohlenen Antisemitismus einen Massenmord an Juden in Ungarn weitgehend verhindern konnte) verbindet, nur Geschichtsmythen sind der EU und ihren Apologeten natürlich auch keineswegs fremd, darauf weist Furedi durchaus zurecht hin. Da ist zum einen das große Narrativ von der EU als Friedensprojekt, das Europa nach Jahrhunderten des Kampfes zwischen verfeindeten Nationalstaaten endlich Ruhe gebracht habe. Das ist natürlich eine eher einseitige Sicht, denn Westeuropa wurde militärisch und sicherheitspolitisch nach 1945 von den USA beherrscht, namentlich Deutschland konnte kaum eine eigenständige Verteidigungspolitik betreiben und hätte niemals gegen irgendwen auf eigene Faust Krieg führen können, aber auch Frankreich und England, die für sich nach 1945 zunächst noch einen Großmachtstatus reklamierten, waren spätestens seit der Mitte der 1950er Jahre, wenn sie außerhalb Europas Krieg führen wollten, auf die Rückendeckung der USA angewiesen; in Europa hätte das natürlich noch viel stärker gegolten. Der Beitrag der EU zum europäischen Frieden war von daher eher begrenzt, auch wenn das europäische Projekt vor der Einführung des Euro sicherlich einen Beitrag dazu leistete, die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland abzubauen. Ob das heute noch der Fall ist, ist sehr viel fraglicher.
Damit stellt sich aber die Frage, welche Werte außer dem Bekenntnis zu Buntheit und Weltoffenheit die EU überhaupt zusammenhalten sollen. Nach Furedi hat hier das Trauma des Holocaust als sinnstiftendes Narrativ in den letzten 30 Jahren eine zentrale Bedeutung gewonnen, die es so in der alten Europäischen Gemeinschaft zuvor nicht hatte. Europa wird als ein Kontinent dargestellt, der seine eigenen Traditionen im Menschheitsverbrechen des Holocaust selber diskreditiert und vernichtet habe. Daher könne man an diese Traditionen auch nicht mehr anknüpfen, sondern könne nur auf einer tabula rasa etwas ganz Neues bauen und das versuche man jetzt mit der EU. Das Problem ist, dass diese Erzählung eigentlich nur eine negative, keine positive Identität schaffen kann – das werden viele Menschen als unbefriedigend betrachten, ganz besonders in Osteuropa, wo es überdies nicht wirklich einleuchtet, dass der Stalinismus grundsätzlich harmloser gewesen sein soll als der Nationalsozialismus.
Legitimation nur durch Verfahren?
Was bleibt der EU sonst noch zu ihrer Legitimation? Vor allem der Verweis auf die Brüsseler Entscheidungsprozesse, die unter starker Beteiligung von Experten und Technokraten, wenn nicht sogar von ihnen maßgeblich gelenkt, nach strengen formalen Regeln und vorangetrieben von der Juristenherrschaft des Europäischen Gerichtshofes zu einer gemeinsamen europäischen Politik führen. Es handelt sich also um eine Legitimation nur durch Verfahren ohne Bezug auf höhere substantielle Normen oder Werte, so zumindest sieht es Furedi. Man könnte sicherlich auf das Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten verweisen, das für die EU wichtig ist, aber diese Prinzipien gelten natürlich für die ganze Welt, nicht nur für Europa, stellen also kein europäisches Spezifikum dar. Eine solche eher spröde formale Legitimation, obwohl sie vielen als modern und fortschrittlich gilt, bleibt daher immer fragil. Jeder bloßen Verfahrenslegitimation fehlt nach Furedi die „moralische Tiefendimension“, die die Berufung auf spezifische – nicht rein universelle – Werte aufweisen kann, die in kollektiven Erfahrungen oder einer großen gemeinschaftlichen Tradition, nationaler oder religiöser Art verankert sind. Die Legitimität der Autorität der EU wird zusätzlich dadurch geschwächt, dass die Macht Brüssels nur sehr schwach demokratisch unterfüttert ist und eigentlich die gesamte EU auf postdemokratische Verfahren ohne klare politische Verantwortlichkeit von Amtsträgern für Fehlentscheidungen ausgerichtet ist. Eine solche postdemokratische Ausrichtung ist, so mag man Furedi ergänzen, aber systemnotwendig, zum einen, weil Konflikte zwischen Nationen sich nicht durch Mehrheitsentscheidungen beilegen lassen, zum anderen aber, weil die kosmopolitischen Eliten, die das EU-Projekt tragen, von Anfang an entschlossen waren, dieses Projekt zur Not auch hinter dem Rücken der Wähler, wenn schon nicht gegen ihren Willen umzusetzen. Halbwahrheiten und sogar offensichtliche Täuschungen („der Euro bedeutet nicht, dass Deutschland für die Schulden anderer Länder haftet“, hieß es ja lange) gehörten zu diesem Projekt immer dazu, dazu haben sich ja Leute wie der große Jean-Claude Juncker auch ganz offen bekannt.
EU-Politik als Unterscheidung von Freund und Feind
Dieser illiberale Zug des pro-europäischen Anti-Populismus wird auch sonst im Umgang mit Kritikern deutlich. Wer in irgendeiner Weise für einen Nationalstaat eintritt, der sich ein Minimum an kultureller Homogenität bewahrt, der ist aus der Sicht der Linken und der linksliberalen Bourgeoisie im Grunde genommen schon ein halber Faschist und muss von der politischen Debatte rigoros ausgeschlossen werden. In einer historischen Perspektive ist es natürlich eine Tatsache, dass auch und gerade demokratische Nationalstaaten durchaus eine stark homogenisierende und phasenweise auch recht erfolgreiche Schul- und Bildungspolitik betrieben haben, um eine allen gemeinsame nationale Kultur zu schaffen; Frankreich ist dafür seit Begründung der Dritten Republik 1870 das beste Beispiel. Das kann man auch kritisch sehen, und muss es vielleicht bis zu einem gewissen Grade, wenn man an die Bretagne oder das Elsass denkt z. B., aber ein faschistisches Land war Frankreich deshalb im späten 19. und im 20. Jahrhundert noch lange nicht (außer, wenn man so will, in der Zeit des Vichy-Regimes), sondern vielmehr in Europa und weltweit Vorbild für viele demokratische Nationalstaaten.
Dort, wo sich Politik jedoch im Wesentlichen über Feindbilder artikuliert, ist man wie Furedi meint, nicht mehr gar so weit entfernt vom Politikbegriff Carl Schmitts (des sogenannten Kronjuristen des Dritten Reiches) der Politik primär als die Unterscheidung zwischen Freund und Feind sah, und damit die liberale Demokratie und ihre Debattenkultur als Illusion entlarven wollte. Vielleicht ist dieses Urteil Furedis allzu zugespitzt, wie er auch sonst wenig über die düsteren Seiten der Herrschaft Orbans sagt, die es durchaus gibt,[2] aber Recht hat er darin, dass eine EU, deren einziger gemeinschaftlicher Nenner das Bekenntnis zur Diversität, zur Toleranz und zum Multikulturalismus zu werden droht, Leuten wie Orban nicht genug entgegenstellen kann. Dazu kommt, dass es nun einmal bislang der Nationalstaat war, der das Gehäuse sowohl der Demokratie wie des Sozialstaates war. Ist er in dieser Hinsicht ersetzbar? Das kann man bezweifeln, ganz sicher nicht durch eine EU, die sich gar nicht mehr zu einer eigenen europäischen Identität bekennen will, sondern sich nur noch als ein kosmopolitischer Weltstaat im Kleinen, aber ohne klare Grenzen sieht, oder wie Furedi es formuliert: „Without borders a citizen becomes a subject to a power that cannot be held to account: and this is why – from a democratic perspective – it is so important to counter the anti-populist crusade against national sovereignty.“ (S. 129)
Wer die Regierung eines Landes in letzter Instanz nur als Präfektur eines imaginären Weltstaates begreift wie viele postnationale Linke und Liberale, der hat als Mitglied einer solchen Regierung gegenüber den eigenen Bürgern keine echten Verpflichtungen mehr; er ist ja anderen gegenüber verpflichtet, die aber kaum greifbar sind und auch ihn nicht greifen können. Das ist schon auf der europäischen Ebene so, global erst recht. Die Frage ist nur, ob der Gehorsam dieser Bürger – oder wie die Eliten sie wohl sehen, Untertanen – nicht doch an den Willen und die Fähigkeit der „Obrigkeit“ gebunden ist, sie und eben nicht die ganze Welt zu schützen. Im Konflikt mit Populisten wie Orban, die trotz aller demagogischen Übertreibungen doch auch eine ältere Tradition des Nationalstaates vertreten, die eng mit dem Aufkommen der Demokratie in Europa verbunden war, ist man auch mit diesem Problem konfrontiert, und darauf hat die EU keine wirkliche Antwort, bis jetzt jedenfalls. In diesem Punkt wird man Furedi zustimmen müssen, mag er auch in seiner Verteidigung Orbans bisweilen allzu leidenschaftlich den advocatus diaboli spielen.
[1] Vergl. http://www.frankfuredi.com/article/why_i_wrote_a_radical_democratic_defence_of_populism
[2] Siehe dazu etwa: Anne Applebaum: How Orbán duped the Brexiteers.Why are members of the old regime so attracted to the police institutions of the new illiberal states?, https://www.spectator.co.uk/2018,/09/how-orban-duped-the-brexiteers/
Frank Furedi, Populism and the European Culture Wars: the Conflict of Values between Hungary and the EU, Abingdon 2018 (1. Aufl. 2017), 144 S.