Wenn ich in nächster Zeit noch eine Illustrierten-Homestory mit weißer Wohnung, String-Regalen, Eames-Chair und Pantone-Lampe aus Berlin, München, Düsseldorf oder Hamburg und dem Spruch „An diesem Ort lebe ich meinen ganz persönlichen Stil“ sehe, dann wird es Zeit, seine Teilhabe an der modernen Welt offiziell zu kündigen.
Allenthalben versteht sich der Mensch als Individuum: Alles wird neu und ganz anders nur durch seine Präsenz. Die sogenannte Kreativwirtschaft finanziert durch ihre Backpacker-Reisen, Sushi-Konsum und Yoga-Kurse in der Algarve mit freien Blick auf das Meer mit der Realisierung des Wunsches „jedem Kunden sein maßgeschneidertes“ Produkt zu bieten: Das individuell konfigurierte Auto, Müsli, Kinderbuch und Pizzagebäck. Der Digitalisierung sei Dank hämmern wir stürmisch unsere irdischen Wünsche („Drei Gramm mehr Amarant in mein Müsli …“) in die Konfigurationsfelder der Bestellformulare und machen uns eigentlich nur klar: Ich bin etwas ganz Besonderes, ich entsage dem Standard. Ja, an sich ist der Mensch ein äußerst bescheidendes Wesen (geworden). Was soll der verzagte Mensch auch tun, um zumindest das kleine Gefühl von Glückseligkeit zu erfahren – Revolutionen dauern heute noch nicht einmal mehr einen Sommer … Marketingstrategen wissen, dass die wenigsten Menschen tatsächlich Produkte individualisieren: 1% individuelle Produkte sind bei einem Hersteller ein sehr guter Wert. Auf den deutschen Straßen fahren eher selten grüne, gelbe oder lilafarbene Autos durch die Gegend, obwohl es doch möglich wäre, aber die Wirklichkeit sieht eher traurig aus: Schwarz, grau und dunkelblau – natürlich nur wegen dem Wiederverkaufswert und der Firmenwagenvorschriften.
Individualität (lat. für Ungeteiltheit) wird verstanden als die Vorstellung eines einmaligen, unkopierbaren, unverwechselbaren Lebewesens im Ergebnis des Zusammenwirkens aller wahrnehmbaren Merkmale. Der gute Soziologe Georg Simmel ging bereits vor mehr als 100 Jahren davon aus, dass eine zunehmend industriell-entwickelte Welt die Anzahl der Individualisierungsoptionen vergrößere, aber eben nicht die Individualisierungstiefe. Das Gefühl und der Wunsch von bzw. an Individualität bleiben nur Gefühle und Wünsche, die den modernen Menschen jedoch nicht wirklich kennzeichnen. Individualität wird gedacht, aber nicht realisiert. Im Gegenteil: Je normierter Lebenswege und Alltag die Vorstellungen beeinflussen, ein klares „Richtig oder Falsch“ vorgeben, desto stärker sind die Versuche Einheitlichkeiten zu überdecken – und weil unser Zeitalter bescheiden ist, kommen wir mit eigenerdachten Spotschuhen oder Tapetenfarbe aus. Eigentlich ein alter Hut. Martin Heidegger schrieb: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.“
Es ist mitnichten so, dass sich hinter der Fassade der Wareninflation ein Feuerwerk der Vielfältigkeit verbergen würde. Viel eher erweist sich bei näherer Betrachtung von Menschen die verheerende und bisweilen aufs Gemüt drückende Erkenntnis der Gleichartigkeit. Von den ca. 100 Milliarden Menschen, die bisher auf diesem Planeten gelebt haben, waren und sind die wenigsten wirklich bahnbrechend „anders“. Man mache sich nichts vor: Zum Schluss geht es darum, ein Haus am See zu bauen, gut einzukaufen, das Gewicht einigermaßen zu kontrollieren und (vielleicht) irgendwann Kinder zu bekommen. Die Füllzeit dazwischen reichern wir mit allerlei exotischen Reisen zunächst mit und dann ohne Rucksäcke, Tandemflügen und Kreisligafußballspielen an – gut versichert natürlich …
Die vorherrschende Stimmung unserer Epoche ist dennoch, dass es noch nie so einfach war, Individualität vorzugeben, obwohl sie gleichzeitig noch nie so unerreichbar war wie heute. Vor 2000, also der alles offenbarenden Digitalisierung, lebten die Menschen in dem Gefühl, einzigartige Wesen auf diesem Planeten zu sein, Seelen, deren Geschichte über sieben Jahrzehnte oder mehr verlief. Heute leben wir mit dem quälendem Gefühl, dass wir eine Unit Mensch unter 7 Milliarden Units Mensch sind.
Der kanadische Autor und Künstler Douglas Coupland schrieb vor einigen Jahren über den Trend zu „normcore“ (d.h. „Normalsein in hardcore“). Das englische HEAT Magazin schrieb seinerzeit: „Normcore feiert das Normale mit billig erscheinenden, Stonewashed jeans, T-Shirts vom Grabbeltisch und Sandalen, deren schlechtgemachte Ähnlichkeit zu Markenprodukten gewollt ist. Es ist die Antwort auf die Hipster-Marotten unserer Zeit, aber viel mehr noch auf die Modeansprüche unserer Generation.“
Normcore macht den Träger unsichtbar: Er hüllt sich in totale Anonymität, um den Anspruch und der Verantwortung, „originell“ und „individuell“ zu sein, zu entkommen. Normcore bedeutet: „ Ich bin frei, weil ich nicht einzigartig bin. Ich bestrafe die moderne Welt mit meiner Unsichtbarkeit, und wenn du meine Metadaten analysierst, dann bist du eingeschlafen, bevor du irgendetwas „Originelles“ finden kannst.“
Machen wir uns nichts vor: Die meisten Menschen scheinen glücklich, wenn sie einer Gemeinschaft angehören können – welcher Gemeinschaft auch immer: einer Nation, einer Stadt oder der Apple-Community – und sie hegen ein tiefes Unbehagen, wenn andere Menschen dies nicht ebenso empfinden. Ob das gut oder schlecht ist, mag jeder selbst beurteilen. Aber: Vor 100 Jahren konnte man sich (fast) sicher sein, dass das Leben der Enkel genauso verlaufen würde wie das eigene. 2018 ist klar, dass 2025 anders, vielleicht sogar beängstigender sein wird als jetzt. Was kaufen wir uns im Hinblick auf diese Prognose?