Das EP debattierte gestern über die im Bericht erhobenen Vorwürfe und hat für das Einleiten des Verfahrens gestimmt. Das Parlament selbst kann über den Entzug der Stimmrechte nicht entscheiden, kann aber die Kommission auffordern, in diesem Sinne zu handeln.
Die Beurteilung des „Sargentini-Berichts” ist ohne die Person Sargentini nicht möglich. Welche ihrer Qualifikationen haben die 44jährige befähigt, die rechtsstaatliche und demokratische Ordnung in Ungarn zu beurteilen? Frau Sargentini ist Mitglied der niederländischen GroenLinks-Partei, eines Zusammenschlusses von mehreren, erklärtermaßen kommunistischen und grünen Organisationen, die in den Niederlanden noch niemals Regierungsverantwortung trugen. Bei den Wahlen 2017 erreichten sie ihren besten Stimmenanteil aller Zeiten mit 8,9 Prozent. Durch besondere Kenntnisse Mittel- und Osteuropas ist sie noch nie in Erscheinung getreten. Für den Bericht ist sie nach eigenem Bekunden im Januar dieses Jahres ein einziges Mal für „ein paar Tage“ in Ungarn gewesen und habe dort private Gespräche mit „Regierungsmitgliedern, Wissenschaftlern, Journalisten und Bürgerrechtlern“ geführt.
Was sind die konkreten Vorwürfe?
- Die verfassungsmäßige Ordnung sei in Gefahr. Der Verfassungsgebungsprozess sei undurchsichtig, es fehle „eine ernsthafte Konsultation mit der Zivilgesellschaft und ihre entsprechende Einbeziehung“.
- Die Freiheit bei Wahlen sei eingeschränkt. Dieser Passus verdient es, ausführlich zitiert zu werden. Er beginnt wie folgt (Übersetzung aus dem Ungarischen): Die ausführliche OSZE-Beobachtung der Parlamentswahlen 2018 stellt fest, dass die technische Abwicklung der Wahlen professionell und transparent verlaufen sei. Die Grund- und Freiheitsrechte seien beachtet worden. Aber die Atmosphäre, in der die Wahlen stattfanden, sei ungünstig gewesen. Die Behörden gingen professionell und transparent vor und genossen allgemeines Vertrauen. Doch „die feindselige und einschüchternde Rhetorik der Wahlkampagne ließ der substanziellen Debatte keinen Raum.“
- Nicht ausreichender Schutz der Privatsphäre und der Datensicherheit. Der Vorwurf lautet hier: Aus Gründen der nationalen Sicherheit würde Massenkommunikation vom Staat beobachtet und sei deshalb in Gefahr.
- Durch die aggressive Verteidigung des traditionellen Familienmodells werden die Rechte von Frauen nicht genügend beachtet. Das Recht würde Frauen nicht ausreichend vor häuslicher Gewalt schützen.
- Die Medienfreiheit würde nicht sichergestellt. In diesem Passus ist es am schwierigsten, konkrete Vorwürfe zu finden. Bei den Wahlen soll die Berichterstattung der Regierungskoalition geholfen haben. Die redaktionelle Freiheit sei durch die Eigentumsstruktur nicht gewährleistet.
- Korruption und Interessenkonflikte. Beleg: eine Untersuchung des Europäischen Amtes für Korruptionsbekämpfung OLAF über Verträge zur Straßenbeleuchtung, die mit Firmen des Orbán-Schwiegersohnes geschlossen wurden.
- Und schließlich der schwerwiegendste und eigentliche Vorwurf: In Ungarn würden „Flüchtlinge” von den Grenzschutzorganen systematisch misshandelt. Beweise fehlen, es wird auf im Moment noch laufende Prozesse verwiesen.
Aber darum ging es bei dieser Scheindebatte gar nicht. Es ging darum, ein Exempel zu statuieren, was Ländern geschehen kann, wenn sie den linksliberalen Zielen der EU widersprechen. Orbán begann seinen Beitrag gestern im EU-Parlament mit folgenden Sätzen:
„Ich weiß, dass Sie schon ein Urteil gefällt haben. Ich weiß auch, dass Ihre Mehrheit diesem Bericht zustimmen wird. Ich bin trotzdem hier, weil Sie jetzt nicht eine Regierung, sondern ein ganzes Land und ein ganzes Volk verurteilen werden. … Seien wir offen und ehrlich: Sie werden Ungarn verurteilen, weil die Ungarn entschieden haben, kein Einwanderungsland werden zu wollen. Ich weise das Ansinnen der migrations- und einwanderungsfreundlichen Teile dieses Parlaments entschieden zurück, Ungarn zu bedrohen, zu erpressen und aufgrund verlogener Anklagen zu verleumden. Ich teile Ihnen bei allem Respekt mit, dass egal, welche Beschlüsse Sie fassen, Ungarn der Erpressung nicht nachgeben wird. Es wird weiter seine Grenzen verteidigen und die illegale Migration aufhalten – auch gegen Ihren Willen. Wir sind bereit für die Wahlen zum EU-Parlament im kommenden Mai, wo die Europäer endlich das Recht erhalten werden, über die Zukunft Europas zu entscheiden und die Demokratie in der europäischen Politik wieder herzustellen.“
Nun hat die Abstimmung stattgefunden. Dass Kommunisten, Sozialisten und Grüne für eine Vorstufe des Ausschlusses Ungarns aus der EU gestimmt haben, war selbstverständlich. Aber dass Vertreter der ehemals konservativen und freiheitlichen EVP da mehrheitlich mitgemacht haben, zeigt, dass von dem ehemaligen Kern dieser Parteien nichts mehr übriggeblieben ist. Mit der mehrheitlichen Verurteilung Ungarns ist die Diagnose Orbáns über die EVP leider bestätigt worden, die deshalb hier noch einmal zitiert werden soll:
„Die EVP ist in großer Not. Wir haben in den vergangenen Jahren unseren Charakter verloren und die Lehren der Gründerväter missachtet. Wir sind zu einer Parteienfamilie geworden, die keinen Charakter, keinen eigenen Willen hat. Die immer vorsichtig ist und nach der Pfeife der Sozialisten und der Liberalen tanzt. Sie hat ein einziges Ziel, zu vermeiden, dass sie in den europäischen Medien und Foren angegriffen wird. Fidesz ist ein loyaler Teil der EVP. Wir werden dort verbleiben und sie versuchen zu reformieren, damit wir zurückfinden auf den Weg, den die Gründer und auch Helmut Kohl vorgezeichnet haben. Zurück zu den Werten, den Mut und den Charakter einer christlich-konservativen Sicht, damit die Menschen, die solche Ansichten haben, eine Vertretung in Europa haben. Denn heute haben sie keine.“
Das Europäische Parlament hat mit seinem gestrigen Schauprozess den Graben in der EU weiter vertieft. Dass Abgeordnete, die aus Ländern stammen, die längst den Weg Ungarns in der Migrationsfrage eingeschlagen haben, ihre Stimme zu dieser schändlichen Verurteilung gegeben haben, ist ein weiterer moralischer Tiefpunkt, den diese Organisation erreicht hat. Dass es inzwischen zu einem Imperium geworden ist, das demokratische Entscheidungen ihrer Mitgliedstaaten nicht gelten lässt und seine eigene Politik oktroyieren will, bedarf nun keines Beweises mehr.
Krisztina Koenen ist Publizistin und Übersetzerin.