Wenn der Musikclown in die Manege stolpert, in der das spotbeleuchtete Xylophon schon wartet, und die ersten Töne der zeitlosen „Erinnerungen an Circus Renz“ von Gustav Peter erklingen, beginnt die Reise durch eine Welt voller Wunder fernab des Alltags. Die Klänge, die Lichter, die Farben, der Geruch nach Sägemehl und Tieren, die Spannung im Publikum und das Versprechen des Außergewöhnlichen verbinden sich in Zeitlosigkeit – man ist wieder Kind und doch auch Vater.
Der Zirkus ist in der Stadt.
Natürlich bin ich nicht alt genug, um den historischen Circus Renz zu kennen. Meine Erinnerungen sind verknüpft mit Williams-Althoff, Busch-Roland und Siemoneit-Barum, in dem der Chef selbst seine Löwen präsentierte. Es sind die schärfsten und klarsten Eindrücke, die mir aus der frühen Kindheit noch verblieben sind, der Salto Mortale unter der Kuppel, die mächtigen Elefanten hautnah und die gefährlichen Raubtiere in einer spektakulären Choreographie. Clownerie, Artistik und Tierdressuren – aus dem klassischen Dreiklang der großen Zirkuskunst sind es vor allem die Tiere, die sich in mein Gehirn eingebrannt haben.
Ich sehe sie wie heute vor mir, das Spiel der kräftigen Muskeln unter dem goldenen Fell, die weiß glänzenden Zähne, wenn sie ihre Wut dem Dompteur entgegenbrüllen, der Wunsch, zu springen und zu töten, nur mühsam gebändigt durch den einsamen Mann im Käfig, der all seinen Mut benötigt, um die großen Katzen zu Dingen zu zwingen, die sie freiwillig niemals täten. Und dann der Angriff. Eines der Löwenweibchen hat genug. Nur drei, vier Meter trennen sie von diesem Ärgernis im weißen Hemd, eine Distanz, die sie in Sekundenschnelle zurücklegt, fauchend, mit weit aufgerissenem Maul, die Tatze schon zum Schlag erhoben. Im letzten Moment aber stoppt sie dann doch, durch die Angst vor Peitsche und Stock zurückgetrieben und in ihre Schranken verwiesen. Die Gefahr ist gebannt, der Mensch hat die wilde Kreatur einmal mehr bezwungen und der tosende Applaus von tausenden Händen brandet über Gerd Siemoneit-Barum hinweg.
Halt, halt!
Es ist Martin Lacey jr., nicht Gerd Siemoneit. Ich bin auch nicht im Zirkus Siemoneit-Barum, sondern im Zirkus Krone. Ich bin auch nicht mit meinen Eltern dort. Wir schreiben das Jahr 2011 und nicht 1976. Ich bin jetzt selbst Vater und es ist mein Kind, das staunend und begeistert neben mir sitzt und in dem ich all das wiederfinde, was früher einmal war. Und seit mindestens drei Stunden weiß ich um die Perfektion der Illusion hinter alledem.
Denn Löwen haben keine Angst vor irgendwelchen Peitschen und Stöcken. Das hat Martin Lacey jr. bei einer öffentlichen Dressurvorführung am Morgen selbst erklärt und demonstriert. Tatsächlich haben Löwen in der Manege überhaupt keine Angst, vor nichts und niemandem. Und schon gar nicht vor ihrem Lehrer. In dem sie wohl nicht mehr sehen, als einen ziemlich merkwürdigen Artgenossen mit noch merkwürdigeren (aber durchaus lustigen) Spielideen. Ängstliche Löwen würden nämlich attackieren, und dies, so versichert uns der Tierlehrer, könne er auf keinen Fall überleben. Die Unfälle, die gelegentlich Schlagzeilen machen, sind tatsächlich nur das: Unfälle und keine Attacken. Wenn ein Löwe töten will, dann tötet er. Die Tiere aber, die uns bei der Probe begegnen, vermitteln anderes. Da ist der Chef, ein elfjähriger Kater mit prächtiger Mähne. Er stolziert in aller Seelenruhe zu seinem erhöht aufgebauten Thron und legt sich erst einmal schlafen. Das macht der Mähnenträger übrigens nicht nur während der Probe, sondern auch während der Vorstellung. Völlig unbeeindruckt und völlig gelangweilt. Er taut erst am Ende auf, wenn er mit Martin Lacey jr. alleine in der Manege ist. Dann werden noch ein paar Zärtlichkeiten ausgetauscht, zwischen zwei Lebewesen, die, wie man auch in der Probe erfährt, gemeinsam groß geworden sind. Die Weibchen haben da schon etwas mehr zu tun. Sie sollen ihre Positionen in bestimmter Folge wechseln, sich aufrichten und springen. Und sie tun das mit großer Lust, denn immerhin gilt es, Stöckchen und Peitsche zu fangen. Martin Lacey jr. gewöhnt sie an diese Instrumente, indem er sie mit Fleischstückchen und Fleischgeruch versieht. Geschlagen und gezwungen aber werden die Tiere nicht. Niemals. Sie präsentieren nur ihr natürliches Verhalten. Die Dressur bindet dies in eine bestimmte Choreographie ein. In der der Peitschenknall der Taktgeber und Peitsche und Stock interessante Spielzeuge sind.
Tiere sind Schauspieler
Und so ist auch der spektakuläre Angriff gestellt. Ein Spiel, vom Dompteur per Handzeichen oder Zuruf gestartet und auch wieder beendet. Viele Tiere sind hervorragende Schauspieler. Sich verstellen zu können, ist Teil ihrer Fertigkeiten für den Überlebenskampf in freier Wildbahn.
Was man natürlich weiß, wenn man regelmäßig Kontakt zu Tieren hat und diese als eigenständige Wesen respektiert. PETA und andere sogenannte Tierschützer aber wissen das nicht. Sie nehmen die Illusion in der Manege für bare Münze. Sie glauben, gedemütigte, ausgenutzte und gequälte Kreaturen zu sehen, die des schnöden Mammons wegen der Lächerlichkeit preisgegeben werden.
Und daher wiederholen sich alljährlich zur Herbstzeit, wenn die großen und kleinen Zirkusse durch das Land reisen (mehr als 300 soll es allein in Deutschland geben), reflexhaft dieselben Rituale. Meist sind es nur eine Handvoll Aktivisten, die lautstark in der örtlichen Presse und durch mehr oder weniger kreative Aktionen auf sich aufmerksam machen. Tiere, so heißt es da, dürften nicht mehr in den Zirkus. Ihr Leiden müsse beendet werden. Ein altes Kulturgut wird an den Pranger gestellt, der klassische Zirkus als Hort gewissenloser Geschäftemacher ohne Ethik und Moral verunglimpft.
Die Haltungsbedingungen werden kritisiert. Zu kleine Käfige und Gehege werden ausgemacht, in denen die Geschöpfe der Natur ohne jede Hoffnung dahinvegetieren. Gut, man kann ja mal nachschauen. Noch jeder Zirkus, den ich in den letzten Jahren besucht habe, öffnete seine Pforten bereitwillig und ermöglichte den Blick hinter den Kulissen, ganz gleich, ob Familien- oder Großunternehmen. Weitläufige, saubere Zelte gab es da zu sehen, mit ausgedehnten Freilaufbereichen, große Käfige für die Räuber, voller Spiel- und Rückzugsmöglichkeiten mit allem erdenklichen Komfort. Ketten und Fesseln? Fehlanzeige. Manches Huf- und anderes Getier (bei Krone die Seelöwen, denen natürlich auch ein fast schon für Kurzbahnwettbewerbe tauglicher Pool zur Verfügung stand) konnte die Zirkusanlage ohnehin frei durchstreifen. Keine Seltenheit ist es, wenn ein Zirkus in der Nähe einer Grünfläche sogar den Elefanten Auslauf gewährt.
Die Transporte werden kritisiert. Eine Belastung unerträglichen Ausmaßes wird in langen Fahrten ausgemacht. Dies mag im Einzelfall sogar zutreffen, wenngleich ich viele Tiere kenne, die äußerst gerne ausführlich durch die Gegend gefahren werden, solange sie dabei hinausschauen dürfen. Tatsächlich aber sind Zirkustiere nie sehr lange unterwegs. Die Unternehmen achten schon aus ökonomischen Gründen auf eine Tourenplanung, die nahegelegene Orte in einer bestimmten Region miteinander verbindet. Nach einer Woche Aufenthalt in der einen Stadt können zwei Stunden Fahrt auf der Autobahn wohl kaum als Quälerei bezeichnet werden. Der häufige Ortswechsel ist für die Tiere vielmehr eine spannende Abwechslung, die immer neue Eindrücke für alle Sinne bereithält.
Vollzeit-Beschäftigung im Zirkus
Wie überhaupt kaum ein Tier mehr beschäftigt wird, als eines im Zirkus. Tägliche Proben und Aufführungen tragen dem Bewegungsdrang mehr als Rechnung. Und Spaß macht es auch.
Hier liegt wohl der größte Irrtum, dem die sogenannten Tierschützer unterliegen. Die Dressur selbst wird als Verbrechen an der Kreatur gesehen, als unter Schlägen und Hunger durch Angst erzwungen. Wer viel Verbindung zu Tieren hat weiß um die Absurdität dieser Annahme. Wilde Tiere lassen sich nicht zwingen. Jedenfalls nicht, ohne sich zu wehren. Nicht nur bei den Raubtieren, auch bei Huftieren und gerade bei den Elefanten wäre dies fatal für den Zirkus und seine Besucher. In Wahrheit beruht jede Tiernummer auf Vertrauen und Verständnis zwischen den Protagonisten und ihren Lehrern. Eine Dressur wird heute über Jahre, manchmal Jahrzehnte hinweg aufgebaut, sie schließt die Nähe zwischen Tierlehrer und seinen Schützlingen ein, die oft mit der Geburt des Tiers beginnt und erst mit seinem Tod endet. Kein heutiges Zirkustier wurde in der Wildnis gefangen, sie sind Nachkommen von Generationen in menschlicher Obhut aufgewachsener Wesen, die nie ein anderes Leben kannten. Der Zirkus hat seine Stars domestiziert, ganz so, wie das seit Jahrzehntausenden auch in der Landwirtschaft geschieht. Ihre Haltungsbedingungen sind daher an ihren individuellen Bedürfnissen auszurichten und nicht an denen der wildlebenden Verwandten. Tiergerecht soll es sein, artgerecht wäre sinnlos.
Robby, der glückliche Schimpanse
Das aktuelle Beispiel heißt Robby. Er ist ein Schimpanse, der in menschlicher Obhut das für seine Art hohe Alter von 41 Jahren erreicht hat und sich nach wie vor bester Gesundheit erfreut. Seit nun 35 Jahren im Familienzirkus Belly zuhause, wollen die Tierschutzaktivisten von PETA ihn seiner Familie und seiner gewohnten Umgebung entreißen. Ein entsprechendes Gerichtsurteil ist gemäß der Berichterstattung im aktuellen Spiegel (Ausgabe 48/2015) bereits ergangen. Zirkusdirektor Köhler hat jedoch Einspruch eingelegt, das Verfahren wird voraussichtlich weitere Instanzen beschäftigen.
Vor einigen Jahren hatte ich selbst die Gelegenheit, den Circus Belly zu besuchen, mir ein Bild von den Haltungsbedingungen der Tiere zu machen und ein paar Worte mit Klaus Köhler zu wechseln. Auch konnte ich Robby sowohl hinter den Kulissen, wie auch bei seinem Auftritt in der Manege erleben. Der Affe wird geliebt und respektiert. Bessere Lebensumstände kann man sich für eine Handaufzucht kaum vorstellen, die nie Kontakt zu Artgenossen hatte. Auch der Spiegel zitiert die zahlreichen Veterinäre entsprechend, die Belly wie alle deutschen Zirkusse regelmäßig überprüfen. Robby ist nicht nur kerngesund, er zeigte und zeigt auch keine Verhaltensauffälligkeiten. Unter anderen Umständen wäre ein muskelbepackter Schimpanse mit 80 Kilogramm Kampfgewicht schließlich ein eher schwieriger Zeitgenosse.
„Direktor“ nennt er sich, der gute Klaus Köhler, obwohl er doch eigentlich nur Angestellter seines reisenden Zoos ist, dessen Mitglieder die eigentlichen Bosse des kleinen Unternehmens darstellen. Einen engagierteren und leidenschaftlicheren Tierfreund habe ich selten getroffen.
Entfremdung oder anfreunden?
Sogenannte „Tierrechtler“ hingegen stehen für die Entfremdung zwischen Mensch und Natur. Sie sind, wie sich am Beispiel Robby zeigt, nicht tierfreundlich sondern menschenfeindlich.
Diese Ideologie gedeiht vor allem in den großstädtischen Milieus gut betuchter Freizeitoptimierer. Denn gerade dort geht in einer rein artifiziellen Umgebung das Gefühl für das wahre Wesen der Natur leicht verloren. Aus der Unkenntnis über Tiere und den richtigen Umgang mit ihnen entsteht der Mythos von artgerechter Haltung, die die Trennung vom Menschen erfordere. Zeitgeistorientierte Politiker glauben, dem zur Stimmengewinnung nachkommen zu müssen. Das Verbot der Wildtierhaltung in Zirkussen kann aus Sicht eines „Tierrechtlers“ dabei nur ein erster Schritt sein. Nutztiere im Zirkus, in der Landwirtschaft und schließlich Haustiere werden auch bereits thematisiert. Man stelle sich vor der Haustür protestierende PETA-Aktivisten vor, die einem Hund oder Katze, Kaninchen oder Meerschweinchen wegnehmen wollen, weil diese in einer Wohnung und nicht „artgerecht“ in der Wildnis leben. Da wird leicht nachvollziehbar, wie Familie Köhler sich gerade fühlt.
Eine kleine Schar plakatetragender Demonstranten vor den Zirkuskassen genügt schon, um diese verhängnisvolle Spirale deutscher Verbotskultur in Gang zu setzen. Der donnernde Applaus von hunderten oder tausenden Menschen in den Zelten zählt nicht mehr. Obwohl letztere die wahren Tierfreunde sind. Denn sie tragen mit ihren Eintrittsgeldern mehr zum Wohlergehen der tierischen Artisten bei, als jeder Aktivist.
Kein Zirkusbesucher sieht gedemütigte und gequälte Tiere. Von Martin Laceys Löwen bis hin zu Klaus Köhlers Robby besteht die Kunst der Dressur in Wahrheit darin, die Tiere so zu zeigen, wie sie wirklich sind. Nicht antrainiertes, sondern natürliches Verhalten, nicht Duckmäusertum, sondern Persönlichkeit und Charakter, nicht Unterwerfung, sondern Stolz werden präsentiert. Wo kann man heute noch Kraft, Geschicklichkeit, Schnelligkeit, Schönheit und Eleganz wilder Tiere so hautnah erleben? Der Zirkus leistet hier Unverzichtbares, er allein verschafft den Menschen diese Momente.
Meine Bewunderung für wilde Tiere ist jedenfalls im Zirkus entstanden. Und es ist schön, auch meinem Kind dieses Erleben heute schenken zu können. Denn nur das Wissen um die Natur ermöglicht die Akzeptanz, das Verständnis und den Respekt, aus dem sinnvoller und notwendiger Naturschutz entstehen kann. Wer sollte denn dieses Wissen besser vermitteln können, als Elefant, Löwe und Schimpanse selbst? Nur die wenigsten von uns werden je die Gelegenheit haben, die Serengeti zu bereisen, um diese Tiere außerhalb der Gehege zoologischer Gärten zu erleben.
Die Tierlehrer meiner Kindheit brachten die Faszination der Wildnis zu uns, in unsere Herzen. Die Tierlehrer der Gegenwart bringen sie zu meinem Kind. Die „Erinnerungen an Circus Renz“ sollen auch für meine Enkel unvergänglich sein. Daher: Niemals Zirkus ohne Tiere!