Das ist ja nun mal eine echte Sensation, dass den Amerikanern Angela Merkel als nicht besonders risikobereit gilt (das Gegenteil erschiene mir viel gefährlicher), dass US-Diplomaten Horst Seehofer als „unberechenbar“ und Dirk Niebel als „schräge Wahl“ bezeichnen: Klingt irgendwie wie abgeschrieben. Welche Qual muss es für die 50 Kollegen vom „Spiegel“ gewesen sein, sich wochenlang durch den Datenmüll zu quälen, um wenigstens ein paar Bösartigkeiten herauszudestillieren?
Eine schiere Datenmasse ist banal; und ohne moderne IT ertrinkt man darin, das musste schon die Stasi erfahren, die Millionen von Spitzeln beschäftigte. Seit Hannah Arendt wissen wir, dass das Böse nicht mit Schwefelgestank und Bockhuf daherkommt, sondern im Anzug des Biedermanns. Die Datenmengen von Wikileaks sind über weite Strecken kaum mehr als Datenmüll. Und doch hat sich Entscheidendes verändert:
Datenklau per Mausklick ist schick. Die Hemmschwelle ist gesunken, Unrechtsbewusstsein beim Staat, den Unternehmen und den Bürgern gleichermaßen verloren gegangen. Dazu haben Datenskandale der Unternehmen ebenso beigetragen wie exhibitionistische Selbstdarstellung bei Facebook. Progressive Internet-Jünger betrachten Urheberrechte als eine Sache von gestern und verstehen Copy and Paste als Menschenrecht. „Whistleblowing“ wird gefördert, um Korruption zu bekämpfen. In Deutschland kaufte der Staat CDs mit gestohlenen Daten, weil Steuereinnahmen wichtiger sind als Grundsätze. Gegen diese massenhafte Veränderung der Verhaltensweisen sind schärfere Gesetze wirkungslos. Und sollte die blamierte Weltmacht USA Wikileaks-Gründer Julian Assange malträtieren, dann entsteht damit nur ein Märtyrer der grenzenlosen Freiheit im Internet.
Auch bislang gab es Spionage, staatlich oder privat; schon immer werden Papiere und Geheimnisse uns Journalisten zugesteckt; große Teile auch dieses Blattes leben davon, und der Informantenschutz ist heilig. Doch bislang ging es um die Aufdeckung konkreter Missstände. Neu ist, dass das gesamte elektronisch gespeicherte Gehirn einer großen Institution durch gezielten Hackerangriff gestohlen wird.
Hacker haben seit den Achtzigerjahren bewiesen, dass kaum ein Datenzaun sie zurückhalten kann. Aber zunächst lag wenig Brisantes in den elektronischen Archiven. Doch gerade in der jüngsten Erneuerungsphase haben deutsche Unternehmen ihre Unternehmen um das elektronische Gehirn herum gebaut. Nichts geht mehr ohne elektronische Prozesssteuerung, Fernüberwachung, ohne einen ständigen Datenfluss mit feinsten Verästelungen rund um den Globus und quer durch alle Funktionen.
Bisher getrennte Netze werden zusammengeschaltet; demnächst sollen Daten- und Energienetze zu „Smart Grids“ gekoppelt werden, um die Verbrauchssteuerung zwischen Kraftwerken und Stromkunden zu optimieren. Dann kann mein Handy mit Ihrer Lohnbuchhaltung kommunizieren, die Waschmaschine mit dem Roboter am Fließband, Ihre Autobatterie mit meinem Redaktionssystem. Die eigentliche Gefahr liegt dann nicht nur im Ausspähen peinlicher Gesprächsprotokolle aus Regierungs- und Vorstandsbüros oder in der Veröffentlichung von Kontonummern und Gesundheitsakten, sondern in Eingriffen in die Produktions- und Prozesssteuerung. „Cyberwar“, der organisierte Zerstörungsangriff, ist kein Techno-Märchen, sondern Realität (siehe Seite 80). Die US-Datenbanken wurden nicht von einem Zugriffsberechtigten kopiert – sondern von außen gehackt. Wer in Datenbanken spazieren gehen kann, kann aber auch leicht Veränderungen vornehmen.
Datensicherheit ist keine Frage von Technikspezialisten allein. Das offene
und transparente Unternehmen entspricht dem Lebensgefühl der Mitarbeiter; da werden Kommunikationsbarrieren lästig. Dabei ist nichts weniger in Gefahr als Ihr Unternehmen und letztlich die freie Gesellschaft in ihrer Gesamtheit.
(Erschienen am 4.12.2010 auf Wiwo.de)