Deutschland, ein Weihnachtsmärchen: Die Arbeitslosigkeit sinkt, Lohnsteigerungen werden vorgezogen, und für den Dax ist ein Kursniveau von weit über 8000 erreichbar. Zuversicht hat die Einkaufstüten so prall gefüllt wie die Auftragsbücher in fast allen Branchen – selbst die Autoindustrie, die mit ihren schweren Kisten ja angeblich am globalen Markt vorbei produziert, schiebt Sonderschichten zwischen den Jahren, statt Stille Nacht am Fließband zu üben.
Es ist, als ob das Land nach Jahren der Trübsinnigkeit und Selbstzweifel neues Selbstbewusstsein gefunden, sich in der Krise des Jahres 2008 neu erfunden hätte – eine Art Wirtschaftswunder 2.0, pünktlich zum Fest geliefert. Vor einem Jahr hat sich zwar der Aufschwung schon gezeigt – aber „zittrig, schwungvoll geht anders“, stand damals an dieser Stelle. Doch spätestens seit Sommer ist er da, der Schwung; Wachstumsraten werden in 2010 monatlich nach oben auf bis zu 3,8 Prozent korrigiert. Wie aus einem Lehrbuch vergangener Wirtschaftswunderjahre war es zunächst der Export, der die deutsche Konjunktur angetrieben hat – doch mittlerweile steigt die Nachfrage nach Investitionsgütern, weil Fabrikationsanlagen erweitert werden. In den vollen Fußgängerzonen drängt sich das lange verpönte Wort vom Konsumrausch auf, und man gönnt es den Menschen nach zehn Jahren sinkender Reallöhne. Die Sprecher der Handelsverbände müssen sich sehr anstrengen, ihr freudiges Gesicht hinter der berufsüblichen Klagemiene des Kaufmanns zu verstecken. Der Aufschwung nährt sich selbst, er wird selbsttragend, wie es in den Sprachschablonen der Konjunkturforscher heißt.
Pflichtgemäß kritisch stellt sich da die Frage: Was ist da eigentlich passiert, wer hat den Schalter nicht nur gefunden, sondern auch noch gleich umgelegt in die Position „Wachstum“? War es Gerhard Schröder mit seiner im Ergebnis sehr erstaunlichen Flexibilisierung des Arbeitsmarkts oder Schwarz-Rot mit Abwrackprämie, Konjunkturprogramm und Kurzarbeitergeld oder doch die schwarz-gelbe Koalition der Zänkereien? Der Erfolg hat viele Väter, nur der Misserfolg ist ein Waisenkind. Wirtschaftsforscher Hans-Werner Sinn arbeitet einen ungewollten Erfolgsfaktor heraus – mit der Einführung des Euro vor zehn Jahren begann für Deutschland eine Leidensgeschichte. Kapital floss ins europäische Ausland oder in den amerikanischen Häusermarkt. Neuerdings sucht ein Teil der Mittel wieder nach Investitionsmöglichkeiten in Deutschland. Das Land in der Mitte Europas hat die durch den Euro ausgelöste Anpassungskrise, hat lange Arbeitslosigkeit und Verteilungskonflikte nicht nur überstanden, sondern sogar produktiv zu nutzen gewusst. Wenn es so bliebe, könnte das alte Jahr eine Reihe wirtschaftlich guter Jahre einläuten.
Fragezeichen bleiben. Das Wirtschaftswunder einiger europäischer Partnerländer stellt sich als kreditfinanziert heraus. Der andauernde Konflikt um den Euro ist auch ein europäischer Verteilungs- und Machtkonflikt: Anfangs schien es aus europäischer Sicht gut zu laufen, weil Deutschland durch den Euro eingehegt, gezähmt schien. Jetzt erwachen wieder die Ängste vor diesem Riesen, der in der Vergangenheit meist ziemlich aggressiv geworden ist, wenn er sich aufgerappelt hat.
Hoppla, wir sind wieder wer! Die Selbstbescheidenheit der Nachkriegsgeneration passt nicht mehr zum Habitus einer wachsenden Geschichtsvergessenheit. Den Volksparteien läuft das Volk weg, das sich durch Verschwurbelung offenkundiger Missstände und Wegducken nicht mehr vertreten fühlt – die Sarrazin-Debatte, aber auch Stuttgart 21 und die Euro-Debatte zeigen den eklatanten Kontrast zwischen von Berlin verklärter und vor Ort erlebter Wirklichkeit. Die Modernisierungswoge erzeugt Gegenkräfte, weil das Gewohnte, Sichere abhandenkommt und eine mentale Unbehaustheit entsteht. Es wird ein spannendes Jahr – weil Brüche in der europäischen Währungs- und Stabilitätspolitik das gemeinsame Haus gefährden.
Machen wir das Beste daraus.
(Erschienen am 23.10.2010 auf Wiwo.de)