Es gibt kaum ein Länderverhältnis, um das sich beidseitig mehr Stereotype, Vorurteile und Klischeevorstellungen ranken als Deutschland und Italien. Auch die aktuelle politische Diskussion um die ethische Hegemonie in Europa ist geprägt von mehr oder weniger offenen Verallgemeinerungen und Allgemeinplätzen. So bezeichnete SPD-Vizepräsident Ralf Stegner die (muss man es betonen?) souverän gewählte Regierung Italiens unlängst als „Mischung aus Rechtspopulisten und Spaßpartei“ und bediente sich so gekonnt eingeführter Resonanzmuster des deutsch-italienischen Verhältnisses. Kapitäne, die ihre Schiffe treffsicher gegen Felsen navigieren, weil sie sich eher auf Blondinen, denn auf ihre nautischen Instrumente konzentrieren … und das Wrack nicht als Letzter, sondern als Erster verlassen, Brücken die zusammenfallen und Politiker, die durch ihre Haltungen „unzuverlässig“ handeln, entsprechen nur zu gut dem Bild, dass „typisch für Italien“ ist. Der Historiker Joachim Fest schieb seinerzeit die Italiener seien in der deutschen Wahrnehmung eine Verbindung aus Caprifischern, Mafia und Pavarotti. Pseudo-italienische Restaurantbesitzer pakistanischer oder afghanischer Herkunft bemühen sich auch heute noch mit aller Kraft in ihren Etablissements mit den phantasievollen Namen „Roma“ oder „Italia“ beim kredenzen der „Spaghetti Carbonara“ um Pflege dieser Attribute und dudeln „Nessun`dorma“ im Wechsel mit „Felicitá“ in Endlosschleife.
Macron schlägt Buffon
In Italien dagegen bleibt das ungute und dumpfe Gefühl vom nördlichen Nachbarn stets übergangen, entwertet und vergessen zu werden. Eines der sorgsam inszenierten Themen der neuen italienischen „Spaßregierung“ (O-Ton Stegner) bleibt die immer wieder vorgebrachte Agenda des „Nein“: Italien will in die politischen Diskussionen miteinbezogen werden. Auch gegenüber dem französischen Staatspräsidenten kochte vor gut zwei Monaten die öffentliche Meinung in Italien hoch, als Emmanuel Macron klar machen wollte, was für Italien und die Italiener richtig sei: Bestimmt nicht die jetzige Regierung. Der gute Ratschlag des smarten Weisen aus dem Elysée war so identitätsstiftend für Italien und die Italiener, wie es sonst nur eine Glanzparade von Luigi Buffon zu leisten vermochte. Keine Frage: Italien ist und bleibt ein tief gespaltenes Land – sozial, regional und politisch, dies bedeutet jedoch nicht, dass Italia sich seine ethische Legitimation extern einholen müsste. Es gilt der wunderbare Satz des Grandseigneurs des italienischen Journalismus Indro Montanelli: „Für Italien sehe ich schwarz, aber den Italienern prophezeie ich ein gute Zukunft.“ Man mache sich einmal die eigentliche Leistung deutlich: Italien ist die drittgrößte europäische Volkswirtschaft, EU-Nettozahler … trotz mehr als 65 (meist) dilettantischer Regierungen. Welche Leistung des italienischen Gemeinwesens. Italien ist nicht stark wegen, sondern trotz seiner Regierungen.
Auch wenn man die politische Willensbildung der Italiener nicht teilt und die (durchdacht-inszenierten) Auftritte des italienischen Innenministers für äußerst fragwürdig und angesichts grauenhafter menschlicher Schicksale auf dem Mittelmeer für inadäquat hält, so offenbart die politische Kategorisierung als „Hassfigur“ (Zeit), „Oberhaupt“ (Welt) oder „feiernder Strandurlauber“ (Bild) eine sorgsam kultivierte Überheblichkeit, die die politischen Verantwortungsträger und Kommentatoren in Deutschland kennzeichnet. Wie ähnlich sind doch solche Kategorisierungen mit einer „vor kurzem“ erschienen Kommentierung in der Allgemeinen Zeitung: „Kein Land in der Welt stellt gegenwärtig dem Auge des Beobachters ein so chaotisches Gewühl von Leidenschaften aller Art, so viel Keime naher großer Ereignisse, so schreiende Kontraste dar, wie Italien […].“ Haben Sie es gemerkt? Das Zitat ist schlappe 220 Jahre alt …
Vorurteile sind überlebenswichtig – gerade in Zeiten der Globalisierung
Völker sind „soziale Lebewesen“, deren Charakterisierungen auch und gerade in Zeiten der Globalisierung erstaunlich stabil sind. Gegen juristisch-politische Änderungen der Staatsform sind Nationen immun: Frankreich zählt die fünfte Republik, Deutschland hat im 20. Jahrhundert sechs Staatsformen erlebt … die Urteile, die sich Völker voneinander machen, haben sich aber in all dieser Zeit kaum verändert. Der italienische Historiker Gian Enrico Bolaffi schrieb in diesem Zusammenhang: „Die alten Stereotype nehmen unter den jeweils neuen Bedingungen andere Formen an, ändern sich jedoch nie grundsätzlich.“
Die Bilder von der chaotischen und unseriösen italienischen Regierung und die Entwertung der aktuellen italienischen Positionen verfängt, weil tief verwurzelte Vorurteilsbilder gerade jetzt von denen bedient und genutzt werden, die sich in anderen Bereichen vehement gegen Pauschalisierungen und Verallgemeinerungen wehren. Fakt ist, dass das normale Leben nur deshalb funktioniert, weil wir fast ausschließlich in Vorurteilen denken (müssen). Wissenschaftlich gewendet: Die Reduktion von Komplexität ist die Voraussetzung für den Bestand moderner Gesellschaften. Max Horkheimer, immerhin Impressario der Frankfurter Schule, verdeutlichte es plastisch: „Ohne die Maschinerie der Vorurteile könnte einer nicht über die Straße gehen, geschweige denn einen Kunden bedienen.“ Das hört man ungern, aber kein Vorurteil ist bedenklicher als das Vorurteil, keine Vorurteile zu haben.
Eine Auseinandersetzung wird verhindert
Die aktuelle politische Diskussion zwischen Deutschland und Italien kennzeichnet erneut den Einsatz altbekannter Bilder und Motive. Eine „unreife“ und „spaßige“ Politik ist eben genau das Bild, dass seit Jahrhunderten von Italien gezeichnet wird. Der italienische Philosoph und Germanist Angelo Bolaffi hat diesen Zusammenhang prägnant auf den Punkt gebracht, als er vor einigen Jahren ausführte, „Die Deutschen ihrerseits lieben Italien so sehr, dass sie das Land am liebsten von ihren Bewohnern `befreien´ möchten. Sie bewundern alles an diesem bel-paese, dem wunderschönen Land: die Küche, das Klima, die Kunst und die Gutherzigkeit. Die gebräuchlichsten italienischen Worte in Deutschland sind diejenigen, die auf die geschätzte Leichtigkeit des Seins anspielen: Pizza, dolce far niente, bel canto – aber sicher nicht seine Bewohner.“ Zwar hat Italien für Deutschland durchaus eine Leitfunktion, allerdings erstreckt sich diese meist auf die korrekte Zubereitung von Pizza und Pasta. Die durchaus wohlwollende Haltung gegenüber Italien und den Italienern erinnert bisweilen an den Habitus eines gütigen Großvaters, der seinen Enkeln beim Spielen zusieht, aber Wehe, die Kinder werden unwirsch … oder gar erwachsen.
Der Wettbewerb um politische Ideen ist hart, denn die Motive der Überzeugung greifen auf Elemente zurück, die sich einer rationalen Bewertung entziehen. Vorurteile sind massiv, fundamental und (fast) ewig. Und so wird deutlich, dass die Verwendung der negativen Stereotype gegen die italienische Regierung vor allem dem Ziel dient, den inhaltlichen Diskurs über Fragen eines „neuen Europas“ zu umgehen. Machen wir uns nichts vor: Gegen 500 Jahre alte Vorurteile hat kein Politiker und kein kluges Argument eine Chance …