Stück für Stück und ohne Rücksicht auf die Weltmeinung hat Syriens Präsident Bashir alAssad den Süden und den Westen des zerrissenen Landes zurückerobert. Den gegen ihn in Front gegangenen Kämpfern der zumeist islamischen Freischärler ließ er die Wahl: Abzug oder Tod. Die meisten wählten den Abzug – und kamen nun vom Regen in die Traufe.
Ziel der unterlegenen islamischen Brigaden war die Provinzhauptstadt Idlib. Diese liegt im Nordwesten Syriens, südlich der von der Türkei überfallenen Kurdenprovinz Afrin und östlich des türkischen Wurmfortsatzes Hatay.
Die Islamkämpfer sind chancenlos
Assad hat durch seine Abzugsangebote die Islamkämpfer in jenem Idlib konzentriert. Nun stehen seine syrischen Regierungstruppen von Aleppo im Norden bis Hama im Süden an den Grenzen der Provinz – Idlib wäre eingekreist, grenzte es nicht im Westen an die Türkei und im Norden an das türkisch besetzte Afrin.
Beobachter berichten: Bereits seit einigen Tagen feuert die syrische Armee an mehreren Stellen vor allem im Süden der Provinz Idlib auf Stellungen der Rebellen. Syrische Einheiten werden an strategisch wichtigen Orten nahe der Provinzgrenze zusammengezogen. So deutet alles darauf hin, dass Assad ansetzt, die letzte Rebellenregion in den nächsten Tagen von Süden aus aufzurollen. Die Islamkämpfer, die zuletzt eine ihrer Bastionen nach der anderen räumen mussten, wären chancenlos.
Die Türkei agiert auf eigene Rechnung
Wären! Denn worüber in deutschen Medien geschwiegen wird, ist die Tatsache, dass neben der US-Allianz, der auch die Bundesrepublik angehört, ein weiterer NATO-Verbündeter längst Konfliktpartei ist. Der allerdings agiert auf eigene Faust und eigene Rechnung. Erdogans Türkei hat nicht nur völkerrechtswidrig die bis dahin vom Krieg verschonte Kurdenprovinz Afrin überrannt und besetzt – seit Wochen werden türkische Einheiten auch in der angrenzenden Provinz der Islamkämpfer stationiert. Türkische Soldaten stehen mittlerweile entlang der Provinzgrenze Idlibs unmittelbar der syrischen Armee gegenüber. Türkische Feldkommandeure verkünden Durchhalteparolen, wonach Assad es niemals wagen werde, die Provinz anzugreifen.
Genau das aber wird geschehen. Wenn nicht heute oder morgen, dann übermorgen. Denn Assad befindet sich mittlerweile in einer Position, die ihn in der Auffassung bestärkt, das vom Krieg zerrissene Land unter seiner Herrschaft als Syrien wieder erstehen zu lassen. Sein Anspruch beschränkt sich nicht mehr – wie es eine Zeitlang schien – auf die von seinen Alawiten besiedelten Gebiete. Assad sieht sich als Präsident des ganzen Syriens – nicht nur Teilen davon.
Der Konflikt ist vorprogrammiert
Deshalb ist der bewaffnete Konflikt mit der Türkei vorprogrammiert. Erdogans neu-osmanische Großmachtphantasien ließen ihn davon träumen, die früheren Kolonien südlich Kleinasiens wieder dem Reich anzugliedern. Deshalb steht er im Norden des Irak. Deshalb überfiel er Afrin. Deshalb schickte er seine Truppen in die Rebellenprovinz Idlib.
Macht Assad ernst und zieht Erdogan seine Einheiten nicht kurzfristig zurück, werden syrische Soldaten auf türkische und türkische Soldaten auf syrische schießen. Damit aber wäre eine neue Eskalationsstufe eingeläutet.
Galt bisher der Syrische Krieg trotz des Engagements von Russen, NATO, Iran, Türkei und anderen offiziell als „Bürgerkrieg“ – und somit als eine innere Angelegenheit des arabischen Landes -, wäre beim Kampf um Idlib die Linie zum internationalen Konflikt überschritten. Obgleich unerklärt, wäre von einem türkisch-syrischen Krieg zu sprechen.
Der Türkisch-Syrische Krieg
Dieser Türkisch-Syrische Krieg könnte innerhalb kürzester Zeit entschieden sein. Vorausgesetzt, Erdogan überlässt seine islamischen Verbündeten dem Zorn des Alawiten und verzichtet auf seine Eroberung Afrin. Aber wird er dieses tun? Kann er dieses tun?
Erdogans Nimbus in der Türkei ist nach dem rasanten Niedergang der Wirtschaft infolge der Auseinandersetzungen mit den USA bereits angeschlagen. Müsste er nun noch sang- und klanglos den Rückzug aus Syrien eingestehen, könnte aus dem Scheinriesen schlagartig alle Luft entweichen. Erdogan wäre auf die ihm angemessene Größe zurechtgeschrumpft – was die von ihm bei seinen türkischen Massen erzeugten Hochgefühle schnell in das Gegenteil verkehren könnte.
Assad blickt auch auf Hatay
Je stärker aber Assad wird, desto weniger Interesse hat dieser an einer solchen Konferenz. Denn er weiß: Dabei stünde er als der große Verlierer da. Die Türkei hat nicht umsonst mittlerweile zwei Provinzen im Norden besetzt – und schielt auf das kurdische Rojava. Erdogan erwartet im optimalen Falle territoriale Zugewinne. Bei einem weniger günstigen Verhandlungsverlauf wird er zumindest darauf bestehen, südlich der Grenze Anatoliens von ihm kontrollierte Pufferregionen zu etablieren.
Daran aber haben weder Assad noch die Kurden ein Interesse. Assads Alawiten haben vielmehr mit der Türkei noch eine alte Rechnung offen, die sie gern beglichen sehen würden. Dabei geht es um das frühere Sandschak Alexandretta – das heutige Hatay. Diese ehedem syrische Mittelmeerprovinz wurde 1938/39 von der damaligen Mandatsmacht Frankreich an die Türkei verschenkt. Angesichts des sich anbahnenden europäischen Konflikts mit dem Deutschen Reich sollten die Türken so bewogen werden, von zu engen Banden mit Hitler abzusehen.
Keine NATO-Hilfe für Erdogan
Erdogan wird sich auch getäuscht sehen, sollte er im Falle eines Konfliktes mit Assad auf NATO-Unterstützung hoffen. Sein Überfall auf die Provinz Afrin im Januar 2018 hat die Türkei in dem Konflikt abschließend zum Aggressor gemacht. Gehen syrische Kräfte gegen türkische Einheiten in Afrin vor – oder gar in Idlib, wo sie offiziell überhaupt nicht vorhanden sind – so stellt dieses nach NATO-Statuten keinen Angriffskrieg auf ein NATO-Land dar. Erdogan stünde allein dem Gegner gegenüber selbst dann, wenn der Konflikt sich auf Hatay ausdehnen sollte.
Assad hingegen könnte möglicherweise sogar auf prominente Unterstützung hoffen. Auf der einen Seite sind dort die Russen zu nennen, die bislang maßgeblich dazu beigetragen haben, Assads Erfolg zu ermöglichen. Zwar wird Putin einen offenen Konflikt mit Erdogan vermeiden – doch wenn der Osmane ein wenig zurückgestutzt wird, lässt dieses Putins Gewissen unberührt. Ganz abgesehen davon: Auch in der Vergangenheit hat es auf dem syrischen Schlachtfeld beispielsweise Luftattacken gegeben, für die niemand verantwortlich zeichnete und deren Urheber bis heute im Dunkeln blieben.
Erdogans Träume von Rojava
Trotz dieser für Erdogan letztlich unangenehmen Gemengelage scheint der Großosmane immer noch seiner Idee anzuhängen, nach Afrin auch das kurdisch verwaltete Rojava zu überrollen und von den YPG-Kämpfern zu „befreien“. Zumindest schickte Erdogan dieser Tage frische Truppen in Richtung auf Manbij – jener westlich des Euphrat gelegenen Stadt, die seit August 2017 von den „Syrian Democratic Forces“ kontrolliert wird. Die wiederum arbeiten mit der US-geführten Allianz gegen den IS und der kurdischen YPG zusammen, weshalb sie Erdogan schon seit langem ein Dorn im Auge sind.
Allem Anschein nach also stehen Trumps USA zu ihrer Allianz mit den Kurden – was vielleicht auch erklären kann, weshalb PKK und YPG trotz türkischer Attacken bislang davon abgesehen haben, mit Anschlägen in der Türkei auf sich aufmerksam zu machen. Offensichtlich soll im Falle eines tatsächlichen, bewaffneten Konflikts mit der Türkei die Schuldzuweisung eindeutig sein.
Erdogan in der Zwickmühle
Sollte Erdogan nun gleichzeitig gegen die reguläre Syrische Armee bei Idlib, gegen die Kurden (und die USA) in Rojava, und vielleicht sogar noch gegen die Jesiden im Irak (dort kam es jüngst zu türkischen Angriffen im Sindshar-Gebirge) kämpfen müssen, könnte er sich schnell überheben. Zieht er seine Truppen jedoch sang- und klanglos zurück, verspielt er nicht nur sein gedachtes Faustpfand bei der erträumten Aufteilung Syriens – er verlöre angesichts seiner ständigen Großsprecherei auch sein Gesicht im eigenen Land.
Gut möglich also, dass sich der Großtürke bereits derart in seiner Selbstüberschätzung verstrickt hat, dass ihm ein geordneter Rückzug durch sich selbst verbaut ist. Je nachdem, wie die Situation in den kommenden Wochen sich entwickeln wird, könnte es sogar sein, dass der Präsidialdiktator seinen Berlin-Besuch aufgrund unerwarteter Entwicklungen in der Heimat kurzfristig absagen muss. Ein Schaden für die Bundesrepublik wäre es nicht – es gibt ohnehin nicht den geringsten Anlass, diesem Mann zu huldigen. Weshalb die Nacht-und Nebelaktion, mit der die Stadt Wiesbaden einen als „Kunstprojekt“ bezeichneten, vier Meter großen, vergoldeten Erdogan vom Sockel stürzen ließ, nun sogar Symbolcharakter über Deutschlands Grenzen hinaus entfalten könnte.