Der SED-Nomenklatura dürften die 68er Studentenrevolten in der von ihr so benannten „BRD“ gefallen haben, hatte sie dort über die „Stasi“ die Finger doch heftig im Spiel. Einen Anlass für die 68er Revolte hatte ja der 2. Juni 1967 geliefert; an diesem Tag eskalierten die Proteste vor der Berliner Oper, wo das persische Staatsoberhaupt Reza Pahlevi sich die „Zauberflöte“ anschaute. Durch einen Schuss, den der Polizist Karl-Heinz Kurras abgab, wurde der 26-jährige Student Benno Ohnesorg getötet. Entgegen allerdings der Interpretation, dass der Schütze ein Vertreter des „faschistischen Polizeistaates BRD“ sei, stellte sich 2009 heraus, dass er „Stasi“-Mitarbeiter war. Die SED pflegte auch beste Beziehungen zu der am 16. September 1968 gegründeten (West-)Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), die aus der DDR bis hinein in die 1980er Jahre mit DM-Millionenbeträgen unterstützt wurde. Im Frühjahr 1969 griff die DDR mit 17 „Informellen Mitarbeitern“ (IM) der „Stasi“ in die Arbeit der studentischen Außerparlamentarischen Opposition (APO) in West-Berlin ein. Die Finger im Spiel hatte die DDR auch, als Beate Klarsfeld Bundeskanzler Kiesinger am 7. November 1968 bei einem CDU-Parteitag ohrfeigte. Sie wurde dafür von der „Stasi“ mit 2.000 DM belohnt. Es fiel der DDR zu dieser Zeit zudem nicht schwer, zahlreiche „Informelle Mitarbeiter“ (IM) in der „BRD“ zu finden.
Der normale DDR-Bürger wusste davon nichts. Er quittierte das „68“ der bundesdeutschen Studentenrevoluzzer im besten Fall mit Unverständnis. Er schüttelte den Kopf, wenn er erfuhr, dass nicht wenige der 68er Revolutionäre ihre Vorbilder in China, Albanien, Kuba und Kambodscha suchten und es schon auch mal seitens des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW), Glückwünsche an den kambodschanischen Massenmörder Pol Pot, der nahezu zwei Millionen Menschen auf dem Gewissen hatte, und Delegationsreisen ins erzkommunistische Nordkorea, gab. Dem DDR-Bürger blieb auch nicht verborgen, dass vor allem die „Mao-Bibel“ und die chinesische Kulturrevolution (1966 – 1976), der mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen, bei den 68ern hoch im Kurs stand.
Das eigentlich Traumatische an „68“ aber erlebte der DDR-Bürger ab dem 20. August 1968. Da ging es nicht um Rudi Dutschke, sondern um den „Prager Frühling“, der am 5. Januar 1968 mit der Wahl von Alexander Dubček zum Vorsitzenden der kommunistischen Partei KPČ begonnen hatte und mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts (Sowjetunion, Polen, Bulgarien, Ungarn, DDR) in der ČSSR gewaltsam beendet worden war. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten hatten dafür 500.000 Soldaten aufgeboten. Am Ende gab es mehr als hundert Tote zu beklagen. Bei der Bevölkerung der DDR wurden mit diesem Tag sowie mit der Erklärung der Sowjetunion vom 11. November 1968, bei jeder „Bedrohung des Sozialismus“ einzugreifen, traumatische Erinnerungen an den 17. Juni 1953, an Ungarn 1956 und an den Mauerbau vom 13. August 1961 wach. Die DDR-Bürger hatten mit „Prag“ nämlich inständig auf Lockerungen in Staat und Gesellschaft gehofft, vor allem auf mehr Unabhängigkeit vom „großen Bruder“ Sowjetunion.
„Die Menschen zwischen Rügen und dem Erzgebirge blicken auf ein eigenes ‚68‘ zurück“, schrieb im Jahr 2008 nicht zu Unrecht der von 2003 bis 2009 amtierende Ministerpräsident Thüringens, Dieter Althaus (CDU) in einem Sammelband der Konrad-Adenauer-Stiftung (Titel: „40 Jahre 1968 – Alte und neue Mythen“). Für die allermeisten Menschen in der DDR, so Althaus, sei 1968 Hoffnung und Ernüchterung zugleich gewesen. Gleichwohl, so Althaus, galt: „Das Interesse der Bevölkerung im Osten an den Ereignissen im Westen war zu allen Zeiten ungleich größer, als das umgekehrt der Fall war … Allerdings lösten die Tumulte an westdeutschen Universitäten, die Ho-Chi-Minh-Rufe und Mao-Transparente auf breiter Front Kopfschütteln und großes Befremden aus.“
Einen Dämpfer erfuhren exakt im Jahr 1968 die Hoffnungen der DDR-Deutschen zudem durch barbarische städtebauliche Akte: ab dem 14. Mai 1968 durch die Sprengung der schon im Wiederaufbau befindlichen Ruinen der Garnisonskirche in Potsdam und am 30. Mai 1968 durch die Sprengung der Leipziger Universitätskirche. Dennoch, so schreibt Althaus: „Über zwanzig Jahre lang blieb der Prager Frühling ein Referenzrahmen für die Hoffnung auf Freiheit und Demokratie.“ Insofern kann man die Sehnsucht der Deutschen in der DDR nach Freiheit durchaus als Kontinuum zwischen 1968 und 1989 betrachten. Ohne diese von „Prag“ mit ausgelöste Sehnsucht hätte es 1989 womöglich keine „Friedliche Revolution“ gegeben.
Die westdeutschen Radikalinskis hatten dafür keinen Sensus. Der Ex-68er Gerd Koenen schrieb 2002 in seinem Buch „Das rote Jahrzehnt“ (gemeint sind die Jahre 1967 bis 1977) selbstkritisch: „Das Geschehen des Prager Frühlings ringsum verfolgten wir bald nur noch mit mattem Interesse, wenn nicht hochmütigem Desinteresse.…Für derart kleinkarierten ‚Nationalismus‘ hatten wir nun wirklich keine Antenne!“ Koenen hatte als junger Revoluzzer übrigens „Begegnungen mit dem realen Sozialismus“ gehabt, zum Beispiel in Dresden, Berlin-Ost, Bratislava, Tirana. Sein ehrliches Urteil darüber folgte drei Jahrzehnte später. Immerhin! Andere 68er stricken auch heute noch am Heiligenschein für die 68er.
Siehe dazu auch TE-Buchshop:
Josef Kraus: 50 Jahre Umerziehung – Die 68er und ihre Hinterlassenschaften (erschienen am 3. August 2018)