Tichys Einblick
Ein Bewegungsbild

Aufstehen – Aussitzen – Abstürzen

Der Staat liefert nicht mehr anständig, kostet immer mehr, und das Vertrauen in seine Institutionen von den Parlamenten über die Gerichte bis zu den Medien ist auch angeschlagen. Die bürgerliche Parteien zerfallen und werden von Bewegungen ersetzt.

Wagenknechthäme ist derzeit preiswert zu beziehen, von allen Seiten. Sogar der fabelhafte Herr Fleischhauer kriegt es im Spiegel fertig, seine berechtigte Berlin-Polemik mit der Neu-Saarländerin zu verknüpfen: „Anderseits passt Wagenknechts Idee irgendwie zu Berlin. `Aufstehen´ ist die erste politische Bewegung, bei der man nicht einmal das Sofa verlassen muss, um dabei zu sein.“ Geschenkt, das muss man auch nicht, wenn man immer noch Merkel wählt. Die Welt z. B. schüttelt sich über die antisemitisch-krude Gedankenwelt mancher Wagenknechtfans im Netz. Schon werden ihrer „Bewegung“ nach bewährtem Muster „mangelnde Berührungsängste“ mit AfD und Pegida vorgeworfen. Kaum hat mal jemand Lust auf Belebung der Parteiendemokratie, treffen ihn treudeutsche Politikverdrossenheit und Moralrechthaberei zugleich.

I.

Was Wagenknecht und Lafontaine gerade in Gang setzen, ist nicht abzusehen. Nur soviel steht fest: Sie sind keine Gefahr für die deutsche Demokratie. Allenfalls eine Gefahr für Parteien, die irgendwie an bestimmte Spannbetonbrücken erinnern. Überholte Konstruktionen, schlecht gewartet, nicht mehr sanierbar.

II.

Das gilt gewiss für die roten Parteien. Ihr Fundament bröselt, die Klasse der gewerkschaftstreuen Werktätigen, weil, erstens, diese Klasse in der gerade stattfindenden industriellen Revolution schwindet, und, zweitens, die roten Parteien die wahren Interessen der kleinen Leute nicht wirklich vertreten. Sie wollen die Wähler ändern statt die Verhältnisse. Sie haben nicht verstanden, dass ihre moralisierende Weltverbesserungs-Ideologie von den Zurückbleibenden als Bedrohung empfunden wird. Statt dessen schmähen sie ihre abgefallene frühere Stammwählerschaft als nationalistisch und islamophob und wundern sich, dass die AfD vorbei zieht. Wagenknecht und Lafontaine machen vermutlich nicht durchweg das richtige Angebot – aber sie machen eines.

III.

Wer nicht aufsteht, kann nicht lüften. Alles deutet darauf hin, dass die Parteien, die nicht aufstehen, abstürzen und auf die Wirklichkeit prallen. Es ist klar, was die neue „Bewegung“ auslösen kann. Sie kann eine andere, geschwächte Partei (SPD) unterwandern und kapern. Vorbilder im Ausland sind nicht zu übersehen, in Frankreich, auch bei Trumps Republikanern. Oder aus der Bewegung wird eine Partei, die unter eigenem Namen bei Wahlen antritt.

IV.

Es gibt keinen Grund für die übrigen, halbwegs bürgerlichen Parteien, darüber offen oder klammheimlich zu frohlocken. Es geht ihnen nicht anders. Das, was dem Mittelstand in Deutschland zugemutet wird, haben sie und niemand sonst zu verantworten. Der Staat liefert nicht mehr anständig, kostet immer mehr, und das Vertrauen in seine Institutionen von den Parlamenten über die Gerichte bis zu den Medien ist auch angeschlagen. Die bürgerliche Parteien zerfallen und werden von Bewegungen ersetzt.

V.

Fragt sich nur, wann. Dass die Unionsparteien erkannt hätten, was da gerade geschieht, muss bezweifelt werden. Die so scheinbar wie anscheinend unstürzbare CDU-Vorsitzende bleibt einfach sitzen, bis sie sich aufgelöst haben wird und ihre Partei mit ihr. Ach, gäbe es nur eine liberale Wagenknecht! Beide Bewegungen, die linke wie die liberale, würden gegen die Dekadenz der politischen Klasse kämpfen. Aber in den Unionsparteien gilt wie ehedem: Wer sich zuerst bewegt, hat nichts mehr zu melden. Noch hat eine liberal-konservative Bewegung niemanden, hinter dem oder der sie sich versammeln könnte und der oder die wie Sahra Wagenknecht weit über das eigene Lager hinaus ausstrahlen würde. Aber noch tut sich nichts. Bis der Spannbeton aus der Vergangenheit der Bonner Republik mit einem Mal die Belastung nicht mehr aushält.

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