Ich habe grundsätzlich immer erst fünf Minuten nach Zwölf aufgehört! Diesen Satz verkündete Adolf Hitler in einer seiner Kriegsreden – und ihm war offenbar nicht bewusst, wie einerseits unsinnig und andererseits prophetisch er war. Denn die Floskel, die Hitler hier umwandelte, besagt eigentlich, dass es die allerletzte Möglichkeit ist, noch etwas zu bewirken. „Es ist fünf vor Zwölf“ – jetzt oder nie! Wer fünf Minuten nach Zwölf aufhört, der hat den richtigen Zeitpunkt verpasst und alles verspielt. Der finale Zusammenbruch im April 1945 sollte dieses Bild mit Hitlers verspäteten fünf Minuten dann nicht nur für ihn tatsächlich Wirklichkeit werden lassen.
Erdogans fünf Minuten
Ähnlich wie seinerzeit Hitler und seinen großdeutschen Weltmachtfantasien könnte es nun dem türkischen Präsidialdiktator Recep Tayyip Erdogan ergehen. Scheinbar nach den fragwürdigen Wahlen dieses Sommers und der Einrichtung einer auf seine Person zugeschnittenen Präsidialdiktatur auf dem Höhepunkt der Macht angekommen, deutet vieles darauf hin, dass sein islamisches Kartenhaus in sich zusammenbricht. Während eine ihm die Füße küssende deutsche Bundesregierung den Staatsempfang für den Diktator vorbereitet, kämpft der Muslimbruder an der Heimatfront einen Krieg, für den es bereits mehr als fünf Minuten zu spät ist.
Minute 1 : Der Konflikt mit den USA
Im Oktober 2016 ließ Erdogan im Zuge seiner Verhaftungswelle den in Izmir/Smyrna tätigen Presbyterianer Andrew Branson verhaften. Der US-Bürger lebte zu diesem Zeitpunkt bereits über zwanzig Jahre in der Türkei und wurde – wie zahllose andere, missliebige Personen – der Kooperation mit dem in den USA lebenden Islam-Prediger Fethullah Gülen beschuldigt. Erdogan brauchte ein Faustpfand, suchte er so doch die Auslieferung seines früheren Weggefährten und heutigen Todfeindes zu befördern.
Doch die Rechnung ging nicht auf – Barack Obama ließ den Presbyterianer im türkischen Verlies verrotten und Gülen in Amerika. Jeglicher Versuch, Gülen auszuliefern, wäre ohnehin angesichts mangelhafter Beweislage von US-Gerichten abgeschmettert worden. Das Schicksal Bransons schien für Obama der Preis zu sein, sich dem Obertürken nicht öffentlich unterwerfen zu müssen.
Mit dem Amtsantritt Trumps allerdings hat sich die Großwetterlage grundlegend geändert. Wie in seiner Außenpolitik insgesamt, so besann sich der Selfmademan auch in Sachen Branson der klassischen europäischen Politik des 19. Jahrhunderts. Für die galt: Westliche Staatsbürger werden grundsätzlich nicht anderen Mächten zur Aburteilung überlassen. Und Geiselnahmen werden im Zweifel sogar mit Einsatz aller denkbaren Mittel geahndet.
Wohl wissend, dass die türkische Wirtschaft ohnehin am Abgrund steht, verhängte Trump Strafzölle gegen die Türkei – und twitterte, dass damit der Kurs der im Sinkflug befindlichen, türkischen Lira nunmehr ins Bodenlose fallen werde. Was er auch in einem Umfang tat, dass selbst Europas Börsen einen kurzen Schwächeanfall verzeichnen mussten.
Trump macht Ernst – und er lässt sich, anders als sein Vorgänger und die Politiker Europas, nicht von dem Muslimbruder auf der Nase herumtanzen. Branson allerdings ist dabei jedoch nur ein willkommener Anlass.
Minute 2 : Die unabhängigen Kurden
Die USA sind zutiefst verschnupft, dass Erdogan mit seinen radikalislamischen Terrorbrigaden die syrisch-kurdische Enklave Afrin völkerrechtswidrig überfallen und faktisch zum türkischen Protektorat gemacht hat. Die Region, die bis dahin vom Krieg verschont geblieben war, wurde geplündert und geschliffen. Für Erdogans Invasoren sollte sie das Aufmarschgebiet werden, um die ihm verhassten Kurden im derzeit autonomen Gebiet Rojava entlang der Nordgrenze Syriens zu vertreiben.
Als Erdogan Anfang 2018 seinen Überfall begann, wurde der noch um seine Rolle kämpfende Trump davon kalt erwischt. Im Nachhinein betrachtet geschah die Invasion aus türkischer Sicht um 5 vor 12 – und gleichzeitig mit Blick auf die USA fünf Minuten nach Zwölf. Denn offensichtlich sieht sich die Trump-Administration gegenüber den Kurden in der Pflicht. Hatte Erdogan darauf gesetzt, dass die im syrischen Kurdistan stationierten US-Militärs nun abgezogen würden, um ihm freie Bahn zu geben, geschah genau dieses nicht. Vielmehr ergingen deutliche Warnungen, von jeglicher Angriffsabsicht gegen Rojava abzusehen. Und so steht Erdogan derzeit im syrischen Afrin, ohne damit tatsächlich etwas gewonnen zu haben.
Minute 3 : Die NATO
Irritierte Trump zu Beginn seiner Präsidentschaft die Verbündeten noch mit der Idee, die NATO für überflüssig zu erklären – wobei er tatsächlich nur deren Auftrag aus dem Kalten Krieg meinte – so scheint ihm nun daran gelegen, das Militärbündnis nicht mehr vorrangig als Bollwerk gegen Russland zu betrachten, sondern es zu einem kraftvollen, weltweit aktiven Wertebündnis der europäischen Zivilisation umzuformen. Damit aber wird eine islamische Türkei verzichtbar umso mehr, weil andere Verbündete wie Israel oder Jordanien und Ägypten – und selbst die Saudi – in der Region bereit stehen.
Insofern steht Erdogan auch bei dieser Drohung mit heruntergelassenen Hosen da. Er braucht die NATO – Trumps NATO aber braucht ihn nicht.
Minute 4 : Syriens Islamkämpfer
Es wurde bereits darauf hingewiesen: Tatsächlich gebracht hat Erdogans Überfall auf Afrin der Türkei nichts. Sah der Islamnationalist noch mit Freude, wie Assad und Russland immer mehr islamische Kämpfer aus den zurückeroberten Städten des verheerten Landes in den Norden entkommen ließen, so erweist sich die angebliche Zufluchtsstätte der Erdogan-nahen Islamkämpfer im zu Afrin benachbarten Idlib nun als geschickte Kriegslist. Denn nachdem Assads Truppen das Kriegsgebiet weitgehend zurückerobert haben, sind nun die letztverbliebenen Feinde an einem Ort konzentriert. Und diesen nimmt Assad jetzt gezielt in Auge. Die Zivilbevölkerung wird aufgefordert, die Region zu verlassen und sich den Regierungstruppen zu unterwerfen. Die Kämpfer dürfen bleiben – um sich wie andernorts von Assads Armee niederkämpfen zu lassen. Oder sie können die Flucht Richtung Türkei ergreifen, woran Assad ebenfalls Freude hätte.
Wollen die Islamkämpfer am Leben bleiben, bliebe ihnen nur diese schnelle Flucht nach Norden. Dort kämen sie über Afrin an die Grenze der Türkei, die zwischenzeitlich befestigt wurde, um genau solche unerwünschten Einfälle zu verhindern. Doch Erdogan befindet sich in der Zwickmühle. Jene, die den islamischen Terrormilizen nahestehen, sind bislang seine Verbündeten im Syrienkrieg gewesen. Überlässt er sie der Rache Assads, wird er als Führer der Islamisierung unglaubwürdig. Lässt er sie in die Türkei, holt er sich eine unkontrollierbare Horde kampferprobter Djihadisten ins Land.
Minute 5 : Afrin
Noch steht Erdogan in Afrin, betrachtet es als Basis der territorialen Ausdehnung seines Neu-Osmaniens nach Süden. Doch er könnte sich bereits die Finger verbrannt haben. Sobald Assad mit Idlib die letzte Hochburg seiner Gegner übernommen haben wird, stehen die Truppen des Syrers auf Schußweite den türkischen Invasoren gegenüber. Kaum vorstellbar, dass Assad den Landraub hinnimmt. Also wird er Erdogan auffordern, Syrien kampflos zu verlassen. Folgt Erdogan dieser Aufforderung, kann es geschehen, dass er den damit verbundenen Gesichtsverlust nicht übersteht. Aus dem gefühlten Großosmanen wäre ein Sarotti-Möhrchen unter aufgeblähtem Turban geworden. Folgt er der Aufforderung jedoch nicht, befindet er sich faktisch im Krieg mit Syrien, welches die Besetzung nicht akzeptieren kann.
Und dann noch die Wirtschaft …
Das Ticken der Uhr mit diesem Bündel an Problemen, die sich Erdogan mit seiner Großmannssucht und seiner politischen Unfähigkeit selbst organisiert hat, wird verschärft durch jenen unaufhaltsamen Niedergang der türkischen Wirtschaft. Wieder einmal forderte er seine Landsleute dieser Tage auf, ihre noch vorhandenen Dollar- und Euro-Reserven gegen die abstürzende Lira zu tauschen. Ein Depp, der dieses täte – was nicht ausschließt, dass dennoch manch Türke der patriotischen Aufforderung des Sultans Folge leistet. Denn wie stellte Erdogan als Meister des Wortes fest: „Die USA haben den Dollar – wir haben Allah!“
Ob Allah allahdings die Wallstreet übernehmen kann, darf angezweifelt werden. Und so steht der Zeiger für Erdogan bereits auf fünf nach Zwölf. Wie so etwas enden kann, steht in den Geschichtsbüchern.
Trump scheint derweil sein persönliches Vergnügen daran zu haben, den Osmanen zu demütigen. Und sollten dabei ein paar europäische Konzerne ins Straucheln kommen, weil sie im Vertrauen auf eine EU-Türkei zu schnell und zu viel in Erdoganistan investiert haben und nun ihre Gewinne wegrutschen sehen, wird auch das dem Mann im Weißen Haus alles andere als Sorgenfalten aufs Gesicht zaubern.