Für jeden halbwegs politisch Denkenden gibt es immer noch diesen kurzen Moment des Innehaltens, dieser Augenblick, wenn Politik von sich selbst behauptet ein „Produkt“ zu sein, das genauso „vermarktet“ werden sollte wie ein Auto, eine Banane oder ein Grillanzünder. Man merkt das dann am plötzlichen Räuspern der Zuhörer, einer hektischen Bewegung im Sitzungsstuhl oder (so sind die Zeiten) einem Aufblicken vom Smartphone. Es ist durchaus ein gutes Signal, dass uns die Logik Partei = Produkt noch nicht vollständig banal vorkommt. Wahrscheinlich liegt eine Ursache des diffusen Unwohlseins bei Formulierung dieser Gleichung in der Zuschreibung unterschiedlicher Qualitäten von Politik und Produkt.
Der gute Mythos Politik
Während das Produkt ein (mehr oder weniger) reales Bedürfnis befriedigt und ökonomisch sinnvolle Wertschöpfungs- und Profitinteressen verfolgt, wird der Politik (zum Glück) weiterhin ein übergreifendes, gesellschaftliches Interesse zugebilligt – im legitimen Widerstreit der parteilichen Partialinteressen. Hinzukommt sicherlich auch der gutmütige Wunsch, dass Produkte „verführen“, Politik aber „überzeugen“ will.
Vor diesem Hintergrund sollte eine Analyse der parteipolitischen Überzeugungsstrategien mit großer Sensibilität die Erkenntnisse der Markenartikelindustrie auf das „Produkt Politik“ anwenden. Den super-coolen Werber mit ihren Skateboards im Konferenzsaal sowie die Einstecktuchtragenden Kommunikations- und Markenberater mit ihren Montblanc-Kugelschreibern täte etwas Demut im Bereich der politische Kommunikation manchmal gut. Trotz aller (erhofften) Differenz von Politik und Produkt besteht allerdings eine fundamentale Parallele: Beide versuchen, Menschen an eine Leistungsidee zu binden. Dabei geht es manchmal um eine spezifische Maschine, oder die Art ein Restaurant zu betreiben oder Gesellschaften zu interpretieren und zu gestalten.
Die Welt an einem kleinen Punkt „typisch“ machen
Mögen auch die Ausprägungen und Auswirkungen unterschiedlich sein, so ist Produkt und Politik gemeinsam, dass ein bestimmter Leistungserbringer, die Welt an einem Punkt gestaltet. Wenn er dies nicht nur einmal in einer bestimmten Form unternimmt, sondern über die Zeit „typisch“, dann entstehen Erwartungshaltungen – Marken. Marken sind also nicht nur ein Leuchtschild auf dem Dach, sondern Vorausurteile, die unter einem bestimmten Namen gespeichert sind. Ihre soziale Relevanz erhalten sie dadurch, dass der gespeicherte Inhalt nicht individuell definiert ist, sondern kollektiv geteilt wird. Marken sind deshalb stark, weil viele Menschen „gleiches“ mit einem Namen verbinden – auf diese Weise strukturieren sie die komplexe Wirklichkeit. Diese strukturgebende Funktion erleichtert Orientierung in einer unübersichtlichen Welt und dem Leistungserbringer die Reduktion von Aufwendungen und Energie, um zu überzeugen. Ganz simpel: Marke senkt Transaktionskosten.
Das Wechselspiel von Beständigkeit und Anpassung
Marken kennzeichnet ein übergreifender Zielkonflikt: Zum einen müssen sie klar für etwas stehen, um erkennbar zu sein. Die Zusageverlässlichkeit ist die Grundlage für Markenkraft, zum anderen aber muss sie sich veränderten Lebensumständen, Erfindungen und Gegebenheiten anpassen. Diese Anpassungsfähigkeit kennzeichnet alle „lebenden Systeme“, egal ob Baum, Mensch oder Idee: Ein BMW aus dem Jahr 1974 würde heute keinen Käufer mehr finden. Stattdessen hat sich die Marke über die Jahre den veränderten Gegebenheiten angepasst und steht auch in der Version 2018 in ihren Kernleistungen immer noch für bestimmte Werte. Diese Anpassungsfähigkeit bezeichnet die Markensoziologie als „selbstähnliche Evolution“ einer Marke. Das ständige Tarieren von Beständigkeit und Anpassung ist die entscheidende Dynamik in der Markenführung. Zuviel Beständigkeit lässt eine Marke sterben, aus der Zeit fallen – zuviel Anpassung macht sie beliebig, löst ihre Orientierungsfunktion auf. Was in der Markenartikelindustrie bereits ein immerwährender Abwägungsprozess ist und von den wenigsten Top-Managern verstanden wird (es gilt nämlich der Typik einer Marke zu dienen – diesem Verständnis nach gehört die Marke nicht dem Management, sondern der Kundschaft …) stellt in der Politik eine noch weitaus komplexere Aufgabe dar: Aufgrund ihrer demokratischen Verfasstheit gilt es auf Basis eines definierten Weltbildes (Parteiprogramm) dem Willen vieler Mitglieder zu entsprechen, aber dabei „sich selbst“ treu zu sein. Die Aufgabe einer Parteiführung ist es, eben diesen Willensbildungsprozess in ihrem Sinne – auf demokratischer Basis – zu steuern. Ein Indikator für die Beobachtung von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen ist neben politischer Intuition (die Vorstellung vom „political animal“) auch die kontinuierliche Analyse durch Meinungsbefragungen. Auch hier gilt: In einem ständigen Abwägungsprozess gilt es Signale nicht 1:1 aufzugreifen, sondern im Sinne der kollektiven Erwartungshaltung „selbstähnlich zu interpretieren“. Die politische Kreativität bedeutet also nicht das Sprengen, sondern das Ausfüllen von Grenzen.
Konsequent am Wählerinteresse vorbei
Vor dem Hintergrund von Intuition und Meinungsbefragung stellt sich eine Kernfrage: Wenn Politik strukturell betrachtet ein Produkt ist, das vermarktet gehört, warum argumentieren die jeweiligen Parteiführungen der großen Parteien vornehmlich auf Bundesebene seit Jahren derartig eklatant am „Kundeninteresse“ vorbei – die erodierenden Stimmenanteile sind dafür klare Indikatoren? Vor allem die SPD und auch die CDU kämpfen seit ca. 20 Jahren mit einer immer schneller werdenden Reduktion ihrer Wählerschaft. Wären SPD und CDU Produkte der freien Warenmärkte, so wären diese Unternehmen bankrott, weil ihre Leistungsbereitschaft auf einer großen Zielgruppe beruht, die in den Kostenstellen kontinuierlich finanziert werden müssten – aber es de facto nicht werden. Die Fragen lautet daher:
Basiert diese Entwicklung auf Überzeugung oder Verdrängung?
Markensoziologisch lassen sich stets zwei Ursachen für erodierendes Vertrauen und schwindende Markentreue benennen:
- Die Marke hält ihre Zusageverlässlichkeit nicht mehr ein. Die Kundschaft wird irritiert, verunsichert und erkennt ihre Marke nicht mehr. Schließlich ist sie bereit für einen Wechsel. Dieser Vorgang wird als Markenuntreue bezeichnet, obwohl der initiale Impuls nicht vom Kunden, sondern von der Marke ausgeht – sie ist ihrer Leistungsgenetik untreu geworden.
- Die Marke will durch die Orientierung an neuen bzw. fremden Zielgruppen wachsen. Jeder Inhaber eines Mobilfunkvertrages weiß, dass die besten Angebote nicht die Stammkunden, sondern immer die Neukunden erhalten. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern langfristig zerstörerisch. Die Logik der Mobilfunkanbieter ist, dass die Trägheit der Stammkunden einen Wechsel lähme und eine aufmerksamkeitsorientierte Werbekampagne mitsamt Preisaktion unmittelbar zum Verkauf führe – im Ergebnis wächst das Unternehmen. Kurzfristig gedacht, ist dieser Zusammenhang richtig, aber ob die Marke dadurch wirtschaftlich erfolgreich ist, wird durch eine derartige Konzeption nicht beantwortet. Im Gegenteil: Ein altes hanseatisches Kaumannssprichwort besagt „Billig kann jeder.“ Natürlich führt ein gutes Angebot zu Aktion, aber Marken haben keinen Wert an sich; sie sind Mittel zum Zweck, nämlich zum Geldverdienen. Ob also zahlreiche „erkaufte“ Kunden wirtschaftlich gewinnbringend sind, beantworten die meisten Kennziffern nicht. Das Gegenteil gilt: Der preiswerteste Kunde ist der, den ich nicht kostspielig finanziere, sondern der unnachdenklich eine Leistung konsumiert: Die Stammkundschaft. Sie ist gleichzeitig auch die wirkungsvollste und preiswerteste Werbekampagne, denn sie kündet (=Kundschaft kündet!) kostenlos von einer guten Leistung.
Wenn also SPD und CDU nunmehr massiv an Wählern verloren haben, so liegen die Gründe strukturell an einer fremdähnlichen Neu-Positionierung der Leistungsinhalte in der Vergangenheit durch die Orientierung an neuen, d.h. erhofften Zielgruppen, die aufmerksamkeitsstark angezogen wurden – hier würde es gelten eine strikt leistungsanalystische Dokumentation vorzunehmen, ob die Kernaussagen von SPD und CDU sich in den letzten 20 Jahren faktisch verändert haben. Wäre dies der Fall, dann tritt ein sich doppelt hochschaukelnder Effekt ein: Zum einen wird die „Stammwählerschaft“ inhaltlich verprellt, zum anderen müssen die neuen Zielgruppen erst mühsam überzeugt werden, dass die Partei „ganz anders ist, als gedacht“ … wenn diese Überzeugung oberflächlich gelungen sein sollte, dann führt die Konfrontation mit der traditionellen Stammwählerschaft, die die „alte Positionierung“ verkörpert (und konservieren möchte) unmittelbar zu Irritation. Ein Beispiel aus der Markenwelt: Seit nunmehr 10 Jahren versucht die Marke McDonalds für „gesundes Essen“ zu stehen und investiert immense Marketingbudgets und preist „ vegetarische Burger“ an. Das Problem: Die das Unternehmen finanzierenden Stammkunden mögen die klassischen (ungesunden) Produkte und werden durch den neuen Auftritt irritiert, während „eingefleischte“ Vegetarier der Marke nie ihr neues Image abnehmen werden. Zum Schluss wird die Markenkraft komplett zerlegt. Übrigens hat McDonalds vor kurzem eine Rückbesinnung auf das alte („ungesunde“) Markenbild bekanntgegeben.
Empfänger oder Sender?
Jede starke Partei ist Sender und nicht Empfänger. Dabei ist die Parteispitze vor allem der Zuspitzer bereits vorliegender Inhalte und Positionen. Ihre Aufgabe ist es nicht, die Marke neu zu erdenken, sondern sie vor allem so zu führen, dass Aussagen und Erwartungshaltung möglichst irritationsfrei ablaufen. Diesem Verständnis nach dient die Führung einer Partei den in der Vergangenheit gesetzten Grundlagen in selbstähnlicher Weise. „Dienen“ als Begrifflichkeit kommt aber in der parteipolitischen Kommunikation nicht mehr vor. Stattdessen treten Parteispitzen als „unbedingte Gestalter“ an und sind bereit die „alten Zöpfe“ zugunsten einer vermeintlichen modernen Positionierung aufzugeben. Einem falschen Verständnis nach wird zwar von der „Personalisierung der politischen Kommunikation“ gesprochen, aber de facto zeigen die parteipolitischen Entwicklungen außerhalb von Deutschland auf, dass die (Volks-)Parteien stark geblieben sind, die Spitzen hatten, die ihr Charisma nutzten, um die ursprünglichen Kerninhalte der jeweiligen Partei wieder zu betonen: Sebastian Kurz in Österreich oder Jeremy Corbyn in Großbritannien sind die offensichtlichsten Beispiele. Anbiederungsstrategien dagegen führten – über kurz oder lang – nahezu zur Auflösung ehemals stolzer Volksparteien, beispielsweise der Parti Socialiste in Frankreich oder der Partito Democratico (von der PCI ganz zu schweigen) in Italien – da konnten selbst einigermaßen junge Spitzenkandidaten keine Wende herbeiführen. Denn Niemanden interessiert über die lange Frist die Marke an sich, sondern letztlich immer die damit verbundenen Leistungen.
Modern heißt nicht automatisch erfolgreich
„Modernisierung“ ist der entscheidende Mythos in der heutigen Kommunikationspolitik: Der Wunsch, „sich zu verjüngen“ aus Angst „mit seiner Kundschaft zu sterben“, ist der strategische Imperativ innerhalb der zeitgenössischen Markenführung. Diese Prämisse vorausgesetzt, lässt neuerdings Mercedes-Benz mit ehemaligen Crack-Dealern werben, VW Darth Vader zum Protagonisten seiner Werbespots machen oder die gute alte Diätmarke „du darfst“ den Slogan „Fuck the diet“ postulieren … in einer denkwürdigen Logik meint man damit eine Marke zukunftsfähig gemacht zu haben. In der Parteienkommunikation übernehmen plötzlich die Modernisten aus den Metropolen die kommunikative Richtungskompetenz – ihre Interpretation der Welt wird medial nur zu gern aufgegriffen, weil sie sich mit der Lebenswirklichkeit der Medienmacher deckt und (was wichtiger ist) berichtenswerter ist, als die typischen Inhalte, die man ohnehin bei einer Partei vermutet. Medien berichten über Neues, nicht Bekanntes … Auf diese Weise ergibt sich eine Scheinrelevanz, die die eigentlichen Kernwerte der Marke („Das weiß doch jeder …“) ins Abseits rückt. Letztlich laufen diese Strategien ins Leere. Die Konsequenz ist jedoch nicht, sich stärker zu fokussieren und innerhalb der Grenzen der Marke Lösungen zu entwickeln, sondern die umso stärkere Betonung fremdähnlicher Inhalte nach dem Motto: Wir müssen uns noch mehr verändern, noch mehr dem ominösen „Zeitgeist“ anpassen … bis schließlich nichts mehr da ist, was die Ursache für Parteientreue sein könnte.
Wie kommt man aus diesem Dilemma der Selbstüberschätzung wieder heraus?
Letztlich behelfen sich krisengeschüttelte Unternehmen meist dadurch, dass sie sich ihrer Kernleistungen bewusst werden und diese dementsprechend wieder in den Fokus rücken (müssen). Für die deutschen (Volks-)parteien würde dies bedeuten, sich wieder darüber bewusst zu werden, welche Kernleistungen in der Vergangenheit ihre „Markierung“ bedeuteten. Dieses Vorgehen heißt aber nicht, ein zurück zu den Ursprüngen, sondern vielmehr ein hochkomplizierter Prozess der selbstähnlichen Bestimmung der entscheidenden Kernmerkmale einer Partei, vor dem Hintergrund folgender beispielhafter Fragen:
- Was bedeutet soziale Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert?
- Was bedeutet Heimat in unserer Zeit?
- Was ist Familie?
… um nur einige Kernfragen der Moderne zu nennen …
Diese Fragen gälte es zu beantworten, nicht beliebig im Sinne „Was will die Allgemeinheit?“, sondern vor dem klaren Richtmesser: „Was kann unsere Wählerschaft als Antwort in Hinblick auf unsere Geschichte von uns erwarten?“. Damit entzieht sich eine Partei der Beliebig- und Austauschbarkeit und entwickelt Resonanz. Denn darum geht es: Parteien bündeln nicht Lifestyle, sondern Erwartungshaltungen. Den Lohn dafür nennt man Vertrauen. Vertrauen ist übrigens keine Beschlussfindung, sondern Resultat eines Prozesses, der darauf beruht, dass man zunächst sich selbst treu ist.