Nun gibt es also „Einreisezentren“. Der Kurs, in der Migrationskrise alles unter den Primat der Aufnahme zu stellen, wird stramm weiterverfolgt. Und das ganze Land soll sich nur noch mit sekundären Fragen befassen – mit dem Registrieren, Verteilen, Steuern des Ansturms. Doch was geht da eigentlich im Kopf vor? Es muss da in der Vorstellung irgendeine magische Riesenkraft vorkommen, auf die man setzt, wenn man einem mittelgroßen Land wie Deutschland eine Aufnahme „ohne Obergrenze“ auferlegt. Die Kraft muss eine unendliche Dehnbarkeit unserer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Realität ermöglichen. Sie muss unser Land gleichsam in einen Schwamm verwandeln, der alles aufzunehmen vermag. Wer immer wieder neue Migrantenströme ins Land leitet, muss davon ausgehen, dass da hinten im Land eine große Maschine steht, die auf geheimnisvolle Weise entwurzelte Menschen in Mitglieder einer komplexen Gesellschaft verwandelt. Ja, diese Maschine gibt es. Nein, natürlich nicht wirklich, sondern nur als Vorstellung, als fixe Idee, als Wort. Das Wort heißt „Integration“.
Dies Wort wird jetzt beschworen, und es geschieht hierzulande nicht das erste Mal, dass der Heilsglaube an ein Wort das Denken besoffen macht. „Integration“ ist die magische Verwandlung, durch die „wir es schaffen“. Es ist ein abstraktes Wort, ein Formel-Wort, das nach höherer Wissenschaft klingt. Auch derjenige, der noch nie seinen Fuß in ein Einwandererstadtteil gesetzt hat, kann es in den Mund nehmen. Aber Integration ist auf jeden Fall etwas Positives und Wichtiges. Jawohl, brav gesprochen, guter Mensch.
Nimmt man das Wort allerdings als regulative Idee ernst, steht es nicht mehr so gut da. Gemessen an der kolossalen Aufgabe, die der Idee „Integration“ anvertraut werden soll, ist diese Idee eigentlich erstaunlich trivial. Sie beinhaltet eine Art Mengenlehre: Elemente werden Teil einer bestehenden Menge. Die konkreten Menschen, um die es ja angeblich so sehr geht, werden in lauter Elemente verwandelt. In Elemente ohne Eigenschaften. Man muss sich nicht für jeweiligen besonderen Eigenschaften der Migranten interessieren; man kann ihre Gruppenbildungen ignorieren. Man ist bei der Klärung ihrer Identität grob fahrlässig.
Zugleich kann man auch die Eigenart vergessen, die die aufnehmende Gesellschaft auszeichnet und die das Resultat einer geschichtlichen Aufbauleistung ist. Die Gesellschaft zählt bloß als abstrakte Menge, in die die Elemente zu integrieren sind. So wird auch das aufnehmende Land im Licht der Vorstellung „Integration“ zu einem Land ohne Eigenschaften. Genau durch diese Entleerung kann Integration dann zur großen Allzweckwaffe werden. Nur so funktioniert sie immer und überall. Und nur deshalb ist für Integration nie eine Obergrenze angebbar.
Integration ist ein Alles-und-nichts-Wort. Ein Wort, das alles beansprucht und dafür alles in ein Nichts verwandeln muss. So schlägt die Integration scheinbar mühelos die Brücke zwischen „jedem Einzelnen“ und der „Weltgesellschaft“.
Der Zirkelschluss der Integration
Nimmt man nun Integration als Prozess, wird es noch trivialer. Denn auf die Frage, wie denn die Elemente in die Menge kommen, antwortet die Integration: „Indem sie sich in die Menge hineinbegeben“ oder „Indem sie in die Menge aufgenommen werden“. Das Dabei-Sein ist schon alles. Es ist Ergebnis und Prozess in einem. Lauscht man unseren Integrationstheoretikern, so stößt man auf eine wahre Metaphysik des Zusammenseins. Sie wirkt immer – egal, ob ein Migrations“element“ hilflos, gelangweilt, trotzig, feindselig oder schlicht gleichgültig ist. Auch wenn es in einer Gesprächsrunde kaum ein Wort versteht oder auf einem Stadtplatz nur herumlungert, so wirkt hier doch schon auf geheimnbisvolle Weise das bloße Dabei-Sein. So beruht das Funktionieren der Integration im Grunde auf einem Zirkelschluss: Das Dabeisein schafft das Dazugehören. Weshalb es den Ideologen der Integration auch so wichtig ist, dass die Migranten schnell ins Land verteilt werden und keinesfalls an der Landesgrenze aufgehalten werden.
Dieser Zirkelschluss ist allerdings ein gefährlicher Kurzschluss. Denn er konzentriert alles auf einen einzigen alles-entscheidenden Akt: Der Migrant muss alles daransetzen, sich Zugang zu der Zielmenge zu verschaffen. Er muss hier eindringen, besetzen, Platz nehmen. Schauen wird einmal nicht auf die Extreme (Gewaltverbrechen, Terror, Raub, Vandalismus), sondern auf die Normalität der Integration. Was steht zwischen dem Element und der Zielmenge? Es gibt hier keine geleistete Arbeit und keine längere Teilnahme am Aufbau des Landes, die als Bedingung gesetzt wäre. Es gibt nichts, was einem Austausch oder Vertrag ähnlich wäre. Die simple In-Out-Logik der Integration hat mit dem, was wir über den Zusammenhalt moderner Zivilisationen wissen, nichts zu tun. Sie ist im Grunde eine recht barbarische Angelegenheit.
Schauen wir einmal auf das aufnehmende Land. In der Logik der Integration zählt der lange Prozess seiner Aufbauarbeit nicht mehr. Ebensowenig seine allmähliche Akkumulation von Kapital und Gemeingütern. Und auch nicht seine menschlichen Bildungsprozesse. Das Land zählt nur noch soweit, wie es das Dabei-Sein der neuen Elemente ermöglicht. Seine Kultur schnurrt zusammen auf eine – notwendigerweise vordergründige – Willkommenskultur. Die einzige Qualität, die dann noch zählt, ist die Offenheit des Landes. Alles dreht sich um die demagogisch-platte Frage, ob das Land „offen“ oder „verschlossen“ ist.
Das einzig wahre Deutschland ist dann natürlich das „offene“ Deutschland. Mehr braucht es nicht, um gut zu sein. Noch nie war es so billig, zum beklatschten Hüter der Moral zu werden: Man muss nur verkünden, dass sich Deutschland „nicht abschotten“ dürfe.
Mit der regulativen Idee „Integration“ ist also eine erschreckende Verkleinerung des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bauwerks verbunden, das jedes moderne Land darstellt. Diese Verkleinerung war in Deutschland (und anderen Ländern) schon vor der Migrationswelle im Gang. Besondere das Bildungswesen wurde hier zum Experimentierfeld. Schon Jahre und Jahrzehnte wird hier integriert, was das Zeug hält – siehe „Gesamtschule“, „jahrgangsübergreifendes Lernen“, „Inklusion“, „Gemeinschaftsschule“. Bei all diesen Projekten wird auf die magische Wirkung des großen „Zusammen“ gesetzt, wobei die konkreten Unterschiede zwischen den Schülern dann ignoriert werden. Zugleich werden die Bildungsgehalte der verschiedenen Schulstufen ausgedünnt; wichtige Bildungsbestände, die Deutschland ein Gesicht geben, werden neutralisiert. Die Ergebnisse dieser Experimente sind – vorsichtig ausgedrückt – enttäuschend. Deshalb müssten jetzt eigentlich beim Wort „Integration“ die Alarmglocken schrillen. Doch stattdessen wird bei der Migrationswelle nun das ganze Land zum Integrationsland eingeebnet.
Diese Erfahrungen zeigen, dass es hier nicht bloß um den Streit über ein Wort geht. Wo das Integrieren zur regulativen Idee wird, gehen Wort und Tat Hand in Hand. Wie sonst wäre die unfassbare Rücksichtslosigkeit zu erklären, mit der man die Migranten an Städte und Landkreise weiterreicht? Und die Verweigerung einer zuverlässigen Sozialstatistik über die Zugangszahlen, die Krankheitsfälle, die Verbrechen? Und die Gewährung von Geldleistungen, auch ohne eindeutigen Identitätsnachweis? Und die ungeprüfte Vermittlung von Personen in Facharbeiter-Ausbildungen? Das große Mischen ist schon in vollem Gang.
Migration ist nicht die Regel, sondern eine Ausnahme
Gibt es eine Alternative, eine andere regulative Idee? Eine solche Idee müsste von dem grundlegenden Unterschied zwischen der Migration und der Eigenentwicklung der „Zielländer“ ausgehen. Indem sie diesen Unterschied macht, tritt sofort das komplexe Gebilde und der Eigenwert eines Landes (in seiner sesshaften Kontinuität) hervor. Der Primat kehrt sich um: Die Migration ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Die – völkerrechtlich garantierte – Kontinuität der Staaten ist Regel. Sie muss Vorrang haben – nichts aus rechtsformalistischen Gründen, sondern weil nur so die Vielfalt der Welt und der Entwicklungswege geschützt wird. Der Primat der Migration führt – über den Kurzschluss „Integration“ – in eine nivellierte und damit unfreie Welt.
Für die Länder, die jetzt im Visier der Migrationswelle sind, also vor allem auch Deutschland, bedeutet das, dass sie auf keinen Fall in ihrer Empfangsaufgabe aufgehen dürfen. Unser Land darf sich nicht auf ein „Einwanderungsland“ reduzieren lassen, sondern muss auf seinem Recht beharren, sich auf eigene Faust weiterzuentwickeln (und höher zu entwickeln). Die erste Konsequenz ist dann, dass Einwanderung auf jeden Fall zahlenmäßig begrenzt werden muss. Wo eine „wilde“ Einwanderung versucht wird, muss diese an einer Außengrenze – national, europäisch oder sogar in weiterreichenden Abkommen (s. Marokko) – gestoppt werden, mit der Kraft des Gewaltmonopols der Staaten, notfalls auch mit militärischen Mitteln.
Die Migration wird, aus welchem Grund auch immer sie erfolgt, nie den Vorrang beanspruchen können. Sie wird immer an Bedingungen geknüpft sein und immer die Einwilligung der Zielländer voraussetzen. Für diejenigen, die unter diesen Umständen in unser Land kommen, heißt das, dass sie noch lange Zeit in einem Status des „Noch nicht“ leben werden, bevor sie wirklich Vollbürger dieses Landes sein können. Es muss also Abstufungen der Einwanderung geben: Gastarbeit, Dauerarbeit, Asyl auf Zeit, Dauerasyl. Auf jeden Fall müssen jeweils klare Verträge über das Geben und Nehmen zwischen Migrant und aufnehmendem Land geschlossen werden, mit Klauseln, wann der Vertrag verwirkt ist und das Aufenthaltsrecht erlischt. In diesem Sinn haben Migranten tatsächlich, auch auf niedrigster Stufe, an der regulativen Idee des Gesellschaftsvertrages teil.
Sind die Grenzen soweit klar, kann ein modernes Land durchaus tolerieren, dass etliche Einwanderer sich zunächst nach Herkunft und Kultur in bestimmten Stadtvierteln organisieren. Das ist eine kleine Pointe am Rande: Nimmt man von der fixen Idee der Integration Abstand, kann man auf die kleinlich-bürokratische Einzelverteilung verzichten.
Allerdings ist gegenwärtig, angesichts des zigtausendfachen Bruchs unserer Grenzen und Gesetze, an eine solche Großzügigkeit nicht zu denken.
Dieser Beitrag ist auf der Achse des Guten erschienen.