Für Opernkenner ist ein Bayreuth-Besuch Pflicht. So sehen das auch Markus Söder, Angela Merkel mit Joachim Sauer, Familie (Auto-)Sixt, Christian Lindner mit neuer Freundin, Dagmar Wöhrl, Désirée Nick und andere, mehr oder minder bedeutende Personen des öffentlichen Lebens. Beinahe zu erwähnen vergessen: Ursula v. d. L. Die Premiere des „Lohengrin“ wurde inzwischen für die aus terminlichen oder finanziellen Gründen Verhinderten auf 3sat übertragen (danke!) und ist auszugsweise auch auf YouTube zu sehen.
Ich räume ein: Im Prinzip ist die Aufführung sehenswert. Die Farbenwelt Neo Rauchs im Bühnenbild betört visuell, korrespondiert wunderbar mit dem romantischen Klangrausch Wagners; und die Musiker, vom Orchester und den Chören bis zu den Solisten bringen alles, was sich der Komponist von einer Darbietung seines Opus 168 Jahre nach der Erstaufführung erwünscht haben würde.
Aber warum – im Festspielsaal mag es plausibler gewirkt haben – tritt Lohengrin als Elektriker im Blaumann auf? Warum steht auf der Bühne im neorauchschen Suggestionsblau ein Umspannwerk? Das offenbart sich jedenfalls mir bis zum Ende nicht.
Ganz kleine Flügel für Elsa und Ortrud
Nun vergisst man im Lauf des Geschehens erst einmal das Fragen. Die Ritter und der König sehen einigermaßen wie solche aus, und nicht wie die landauf, landab so beliebten SA-Männer oder Ratten (Lohengrin Bayreuth 2010). Denn irgendwo hat der Elektrikertenor dann doch noch die nötige Rüstung und ein Schwert gefunden, letzteres in gezackter Blitzform. Dagegen hat der in ein Narrenkostüm mit Flügeln gesteckte Telramund, der böse Ankläger Elsas, keine Chance. Während früher die Kontrahenten noch eine Zeitlang fechten durften, wird dem geflügelten Bösewicht in einem Luftkampf (beide können fliegen! Was für ne dolle Idee!) blitzschnell ein Flügel abgeschnitten – und plautz, da liegt er. Eine feministische Freundin hat moniert, dass Elsa und Ortrud während des Kampfes zwar ebenfalls Flügel trugen – aber nur ganz kleine! Weshalb sie auch mit dem Chor am Boden bleiben. Muss frau jetzt dem Regisseur die Diskriminierungsbeauftragte vorbeischicken?
Es läuft dann in den überlieferten Handlungsbahnen weiter: Elsas, durch Ortrud geweckte, bange Zweifel an ihrem Retter und die schicksalhafte Hochzeitsnacht werden dramaturgisch ohne weitere Elektrizitätssymbolik abgearbeitet. Am Ehebett sitzen Lohengrin und Elsa brav nebeneinander und lesen in Gebetbüchern. Ergebnis der Lektüre: Elsas Zweifel sind nicht auszuräumen. Vorsichtshalber fesselt Lohengrin die Braut an eine Säule! Steht er auf SM-Spiele? Beginnt deshalb nun das von der heidnischen Hexe Ortrud eingeträufelte Gift des Mißtrauens zu wirken? Außer sich, von fake news und bedenklichem Ressentiment gegen den aus der Fremde stammenden Helden mißgeleitet, stellt sie die verbotene Frage, „wer, woher und welcher Art“ er denn sei, ihr Bräutigam. Dessen jähe Erschütterung nutzt der rachedurstige Telramund für Überfall und Mordversuch – doch dank der elektrischen Kräfte Lohengrins endet es in einer Hundertstelsekunde für den Angreifer letal.
Schwanengesang ohne Schwan
Nach dreieinhalb Stunden naht der Schluss mit den beiden Bravourstücken für jeden Wagnertenor: „Im fernen Land“ und „Mein lieber Schwan“. Und damit kommt es zum Höhepunkt des von der Regie veranstalteten Rätselspiels. Dass nirgendwo ein Schwan zu sehen ist, während alle „der Schwan, der Schwan ist da“ singen, und Lohengrin zu „mein lieber Schwan“ anhebt, okay, das ist man quer durch Deutschlands Bühnen gewohnt. Da zerbrechen sich seit anderthalb Jahrhunderten die Inszenierungsleiter den Kopf, wie man verhindert, dass die Schwansingerei nicht ins unfreiwillig Komische abgleitet. Andererseits tritt eben dieser Effekt auch ein, wenn einfach ohne die Spur eines Schwans selbiger besungen wird. In Dresden etwa hat man 2016 eine Art Schwan-Monster aus einem Gestrüpp riesiger Federn auf den Bühnenhintergrund fahren lassen. Da wurde das Erschrecken des Chors, der sein „der Schwan, der Schwan ist da“ mit vollem Wagner-Bums schmetterte, gut nachempfindbar.
Ortrud hat inzwischen ihren Hexenauftritt, in dem sie triumphierend hohnlacht, sie habe Elsas Bruder Gottlieb in den Schwan verzaubert, und dass das Ganze eine Strafe der alten Götter für den Christushype sei. Das empört König Heinrich und die Ritter samt Tross, sie sind dabei, Holz für einen Scheiterhaufen zu sammeln. Aber da bringt die Regie einen Gag von geradezu genialischer Abartigkeit ins Spiel: Ein grünes Filzmännchen mit Filzmaske und ein merkwürdiges grünes Filzzepter vor die Brust haltend stapft auf die Bühne. Ist Joseph Beuys auferstanden? Lohengrin, wieder im Blaumann, ruft: „Das ist der Erbe von Brabant“, und alle singen verblüfft: „Der Erbe von Brabant!“ Die Verwirrung nutzend ist Lohengrin in Richtung einer großen Rampe, die vielleicht in den oberen Stock des Umspannwerks führt, verschwunden. Das grüne Männchen aber watschelt zu Elsa, nimmt sie bei der Hand und – alle Ritter und der ganze Chor fallen um. Tot? Bleibt im Ungewissen! Schluß.
Feministische Version oder subversive Kritik an der Energiewende?
Der Regisseur und die begeisterten Kritiker in FAZ, Spiegel, SZ, die im Gegensatz zu mir alles verstanden haben, ihren Lesern aber leider nicht erklären, was sie verstanden haben, weisen vage auf die starken Frauen der Inszenierung, auf Elsa und Ortrud hin. Also eine feministische Version? Elsa mache die größte Entwicklung im Geschehen durch, sagt der Regisseur. Er würde die Oper deshalb am liebsten „Elsa“ nennen. Wo entwickelt sie sich, frage ich mich? Sie stellt die verbotene Frage doch, weil sie sich von Ortrud fremdenfeindlich beschwatzen läßt. Damit verpatzt sie ihre Hochzeit und den potentiellen Kriegsruhm für die Männer von Brabant unter der verheißenen Heerführung des Gralshelden. Was ist dabei emanzipatorisch? Oder hat sie damit sogar eine subversive antimilitaristische Aktion beabsichtigt? Und somit zum Weltfrieden beigetragen? Was eventuell durch dieses zu Bodensinken aller Männer herausgestellt werden soll? Sehr weit hergeholt! Das würde sogar Truppenursel im Publikum nicht tolerieren.
Oder handelt es sich um eine besonders subversive Kritik an der Energiewende? In Nordbayern ist der Widerstand gegen die flächenfressenden Waldrodungen wegen des Platzbedarfs der zahllosen Windmühlen besonders groß. Und das grüne Filzmännchen symbolisiert vielleicht die Erbschaft und Vergeltung des Waldes, die ebenfalls wieder mit dem Tod aller Männer endet? Auch keine hilfreiche Alternative… Das würde auch Innenminister Seehofer nicht durchgehen lassen!
Nun steht von all dem im Textbuch nichts. Da geht es um eine ganz andere Geschichte. Eine Geschichte aus mythischer Zeit. Ohne Energie-, Klima-, Populismus- oder Digitalisierungsproblematik. Ist es „aufklärerisch“, den Mythos (und das Publikum) durch dilettantischen Schabernack zu verhohnepiepeln? Und anschließend etwas von „Dekonstruktion“ oder „starken Frauen“ zu faseln? Doch sei es drum, wir haben inzwischen gelernt, dass ein Regisseur, der sich an die Handlungsanweisungen des Textbuchs und – im Fall Wagners – des Gesamtkünstlers dramatische Vorgaben hält, einfach berufsverbotsverdächtig „old school“ ist. Und sowas können sich weder der durch zu viel Comic-Lektüre verbildete Regienachwuchs, noch das Mainstreamfeuilleton, noch eine Celebrity-Institution wie Bayreuth leisten.
Albert Christian Sellner lebt in Frankfurt am Main und publiziert als kulturell vielseitig interessierter Zeitgenosse Artikel und Bücher zu Themen, denen er sich schon sein ganzes Leben intensiv widmet.