Vor rund zwei Jahrzehnten bahnte sich eine Auseinandersetzung an, die längst noch nicht an ihr Ende gekommen ist: Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi, engagierter Gegner der forcierten Islamisierung in Europa, veröffentlichte 1996 einen Beitrag über „Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust“. Der Aufsatz wäre wohl bald vergessen worden, hätte nicht der damalige Fraktionsvorsitzende von CDU/CSU im Bundestag, Friedrich Merz, die zentrale Begrifflichkeit aufgegriffen und postuliert, Ausländer müssten sich einer „deutschen Leitkultur“ anpassen. Die Definition, was Kultur ist und daran leitend, gestaltet sich schon deshalb schwierig, weil dieser Begriff außerordentlich umfassend ist. Er beinhaltet ein Konglomerat von Geschichten, Verhaltensweisen und religiösen Praktiken.
Seither werden von Politikern in regelmäßigen Abständen Häppchen in die Diskussion geworfen, die vornehmlich in Wahlkampfzeiten all jene provozieren, die feste Richtpunkte und Ordnungslinien ablehnen, weil sie in ihnen eine Einschränkung der persönlichen Freiheit vermuten. Zuletzt machte vor einigen Monaten der damalige Bundesinnenminister De Maiziere von sich reden, als er flapsig formulierte: „Wir sind nicht Burka!“ Die Zuspitzung war gewollt. Dieses Kleidungsstück ist nicht harmlos, sondern symbolisiert für Vertreter westlicher Lebensweise (und Muslime!) die Unterdrückung der Frau. Darüber hinaus machte der CDU-Politiker das Händeschütteln zur Begrüßung und das Leistungsprinzip als Teil „unserer“ Leitkultur aus.
Angesicht der linken und linksliberalen Dominanz auf medialem und kulturpolitischem Feld verwundert es nicht, dass es überwiegend undifferenzierte Kritik hagelte. So trennte der SZ-Journalist und Publizist Heribert Prantl schon vor einiger Zeit „Leitkultur“ von „Abendland, Heimatabend und Sauerkraut“ und witterte Überlegenheitsgefühle und Deutschtümelei. Viele seiner Gesinnungsgenossen folgten ihm in dieser Ansicht. Er ist zwar offen in der Suche nach gemeinsam getragenen Überzeugungen und Orientierungen, scheut aber davor zurück, die letzten Konsequenzen zu ziehen. Eine Hierarchisierung von Ordnungs- und Lebensmodellen lehnt er ab. Verbindliche Richtlinien sind für ihn allein in den Strukturprinzipien des Grundgesetzes zu finden: Grundrechte, Demokratie und Rechtsstaat. Doch ein solcher Rekurs, so zustimmungsfähig er ist, scheint doch zu kurz gegriffen, sind doch auch diese stark kulturell geprägt. Ein Verfassungsdokument schafft bekanntlich noch keine Identität, die nur im Alltag wachsen kann. Zugehörigkeit umfasst auch tiefere emotionale Bindungen.
Verfassungstexte ersetzen keine Emotionen
Zentrale Aussagen der Verfassung sind im Alltag von der ethnischen und kulturellen Herkunft oft nicht zu trennen. Natürlich wäre es zu pauschal zu behaupten, in Migrantenmilieus gebe es keine Formen der Gleichberechtigung von Mann und Frau, die sich ja auch in den westeuropäischen Aufnahme- und Mehrheitsgesellschaften erst langsam entwickelt haben. Aber dass diese späten Errungenschaften dort tendenziell geringer ausgeprägt sind, ist gleichsam nicht zu leugnen.
Obwohl das Thema schon längere Zeit kontrovers behandelt wird, fehlt es an seriösen Untersuchungen. Blickt man in publizistische Abhandlungen, fällt der polemische Grundzug meist schon am jeweiligen Untertitel auf. So erinnert Hartwig Pautz der Begriff „Leitkultur“ an „Neue Rechte, Neorassismus und Normalisierungsbemühungen“.
Bei der Verteidigung der Werte fehlt oft der Mumm
Ein Antrag Ende 2016 auf dem CSU-Parteitag bringt die Angelegenheit auf den Punkt: Die Stärke des vordringenden politischen Islams gründe maßgeblich in der „Selbstschwächung“ und der „Selbstrelativierung unserer Werte“. Angeführt werden exemplarisch die Umbenennung von Sankt-Martins-Festen, der Verzicht auf Weihnachtsfeiern und Kruzifixe, die gleiche Höhe von Minaretten und Kirchentürmen, das Schwinden von christlichen Identifikationsmerkmalen.
Das Papier fordert zu einem „klaren Bekenntnis zu unserer eigenen Kultur“ auf. Der neue bayerische Ministerpräsident Markus Söder handelte dementsprechend. Eine neue Vorschrift regelt seit dem 1. Juni: „Im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes im Freistaat ist als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns deutlich wahrnehmbar ein Kreuz als sichtbares Bekenntnis zu den Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung in Bayern und Deutschland anzubringen.“ Säkularisten auf linker und liberaler Seite sowie andere Desorientierte schäumten vor Wut ob einer derartigen Festlegung und sehen darin einen Angriff auf den Pluralismus.
Aussagen wie die im genannten CSU-Papier dürfen eher als Ausnahme gelten. Wie sehr es dem Hauptstrom der Intellektuellen an Mumm mangelt, ein deutliches Zeichen zu setzen, zeigt auch das unlängst erschienene Buch („deutsch, nicht dumpf“) der bekannten Publizistin Thea Dorn. Vor Jahren inspizierte sie zusammen mit ihrem Co-Autor Richard Wagner die „deutsche Seele“. „Leitkultur“ klinge zu protzig, eine Umwandlung in „Leitzivilität“ sei zu befürworten. Den europäischen Lebensstil sieht sie eher als Angebot an Zuwanderer denn als verpflichtende Zielsetzung. Mancher Leser dürfte schmunzeln ob der Vorsicht, die Grenzen des geduldeten Meinungskorridors penibel zu beachten. Patriotismus ja, aber aufgeklärt muss er sein! Solche Art von Vaterlandsliebe finde sich in der Mitte zwischen trüben AfD-Kadern und linksextremistischen Deutschland-Hassern, die hinter Bannern mit der Aufschrift „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ herlaufen.
Wer bestimmt die Regeln?
In den letzten Jahren wird eine Zuspitzung deutlich: Wer bestimmt die Regeln, die die Gesellschaft zusammenhalten sollen? Der Politikwissenschaftler Berthold Löffler, der unter Leitkultur die gemeinsam geteilte Sprache, Werte, Symbole und so fort versteht, insistiert auf einen an sich selbstverständlichen Tatbestand: „Unter den Bedingungen der Einwanderungsgesellschaft ist Leitkultur sinnvollerweise die gesellschaftliche Kultur der Aufnahme- und Mehrheitsgesellschaft. Unter den Bedingungen einer Leitkultur besteht dann das Integrationsziel für Einwanderer darin, ,einer von uns‘ zu werden.“ Die Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, bestand hingegen schon vor geraumer Zeit darauf, dass der Wertekonsens mit den Neubürgern ausgehandelt werden müsse. Assimilation ist das Schreckgespenst der Linken, die in diesem Fall mit Despoten wie dem türkischen Präsidenten übereinstimmt, der auf sein Machtpotenzial nicht verzichten will. Solche Art von Angleichung ist freilich weder gewollt noch realistisch. Selbst der frühere CDU-Politiker und Konservative Jörg Schönbohm betonte vor Jahren, Ziel des Leitens sei nicht Dominanz.
Nicht zuletzt dem langen Schatten der deutschen Geschichte ist es zu verdanken, dass die Deutungseliten sich dem Kulturkampf um das Eigene, der besonders im Streit um die Mohammed-Karikaturen und in der Interpretation um die Regensburger Rede von Benedikt XVI. vor über einem Jahrzehnt eskalierte, kaum stellen. Eher herrscht das unausgesprochene Motto vor: Seid nett zueinander! Zwar wird öfter eingeräumt, dass das Zusammenleben ohne gemeinsame Sprache und minimalem Verfassungspatriotismus nicht funktionieren könne; jedoch stellt sich die Frage nach der Durchsetzbarkeit, gerade in faktisch islamisierten Stadtteilen. Konkret ist die Lage in Regionen wie Berlin-Neukölln, Duisburg-Marxloh, Bochum, Essen-Nord in Augenschein zu nehmen. Erfahrungsberichte über die Schwierigkeiten, dem Recht Geltung zu verschaffen, liegen besonders dort in größerer Zahl vor.
Immerhin gab auch ein überzeugter Kulturrelativist wie der ehemalige Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele indirekt zu, dass es noch christliche Traditionsbestände gebe, die auf die allgemeine Kulturordnung ausstrahlten. Der frühere „Grünen“-Politiker betrachtete die herkömmlichen Feiertagsregelungen als obsolet, weil sie den Islam nicht gebührend berücksichtigten. Im zivilen Festkalender fehlt beispielsweise das Zuckerfest. Ströbele mahnte eine multikulturelle Öffnung an. Überraschenderweise stieß er auf heftigen Widerstand.
Debatten über Leitkultur werden auch in Zukunft ein Spiegelbild gesellschaftlicher Veränderungen sein. Der verstorbene Fuldaer Erzbischof Johannes Dyba kehrte schon vor über zwei Jahrzehnten die existenzielle Seite des scheinbar abstrakten Themas heraus: „Wir sind im freien Fall und überlegen: Wie schaffen wir es, dass das Ganze trotzdem funktioniert? Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wenn die Entwicklung so weitergeht: Entweder unsere Gesellschaft verfällt in eine politische Barbarei oder aber sie erkennt, dass sie zu unserem Fundament, zum Christentum, zurückkehren muss. Die dritte Möglichkeit ist, dass der Islam uns überrennt.“ Gibt es noch prophetischere Aussagen eines deutschen Oberhirten?
Der Artikel von Felix Dirsch erschien zuerst am 26. Juli 2018 in DIE TAGESPOST. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur.