Wenn schon die Seitenzahl des Verfassungsschutzberichtes etwas über die Gefährdungslage aussagt, dann haben wir es mit einer steigenden Bedrohungslage zu tun, da der Umfang solcher Berichte kontinuierlich ansteigt, von 316 Seiten 2015 über 334 Seiten 2016 – hin zu aktuell 353 Seiten 2017.
Der erste Verfassungsschutzbericht unter der Regie von Bundesinnenminister Horst Seehofer liegt nun auf dem Tisch. Er selbst berichtet hier über Entwicklungen 2017, die noch in der Verantwortung seines Vorgängers Thomas de Maizière stattfanden. Sicher eine komfortable Ausgangsposition. Und möglicherweise Gelegenheit, die Fakten ungeschminkter zu präsentieren.
Der Verfassungsschutzbericht wurde drei Wochen nach einem angekündigten Termin veröffentlicht. Trotz 1.500 unmittelbarer Mitarbeiter in den drei Amtssitzen in Bonn und Berlin waren die Kräfte offenbar gebunden im Streit zwischen Merkel und Seehofer um den Masterplan Asyl aus dem Bundesinnenministerium. Die Welt nennt den Verfassungsschutzbericht den „wichtigste(n) Gradmesser für die inneren Sicherheit in Deutschland“.
Wie weit sich das tatsächliche Gefährdungspotenzial nach links verlagert zu haben scheint, belegt die Welt, wenn sie aus der Pressekonferenz auf der einen Seite die „Straßenschlachten“ zum G-20-Gipfel mitnimmt und auf der anderen Seite die Identitäre Bewegung dahingehend erwähnt, diese hätte bei einem „Hausprojekt“ in Halle für sich ein „Notwehrrecht“ reklamiert und sei mit Baseballschlägern auf gegnerische Demonstranten losgestürmt. Wenn nun aber diese „gegnerischen Demonstranten“ das gleiche Gewaltpotenzial nach Halle mitgebracht haben, welches in Hamburg 230 Polizisten verletzt hat, wer würde da – unabhängig von einer Einschätzung eines Extremismus bei den Identitären – eine potenzielle Notwehrsituation in Abrede stellen wollen?
In der Kurzzusammenfassung zum Bericht 2017 allerdings findet sich bereits wieder – und entgegen der Eskalation in Seehofers Vorwort – die gewohnte Hierarchie, die zuerst Rechtsextremismus nennt, dann Reichsbürger, gefolgt von Linksextremismus, Islamismus und extremistischen Bestrebungen von Ausländern. Es folgen noch Hinweise auf Spionagetätigkeiten und ein Schlussabsatz über die Scientology-Organisation (SO), von der man in der öffentlichen Berichterstattung schon lange nichts mehr gehört hatte und von der man dachte, dass sie seit Frank Schirrmachers (1959-2014) medial viel diskutierter Annäherung an den amerikanischen Schauspieler und Scientologen Tom Cruise keine Rolle mehr spielen würde.
Aber kommen wir zum Wesentlichen: Links- und Rechtsextremismus. Die Personenkreise umfassen nach Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörden 26.700 jund 23.100 Personen. Reichsbürger werden mit 16.500 Personen angegeben und der Zusatzbemerkung, dass lediglich 900 von ihnen Rechtsextremisten seien. Stellen wir also zunächst einmal erstaunt fest, dass Reichsbürger beim Verfassungsschutz prinzipiell nicht als Rechtsextremisten geführt werden.
Entgegen der Hierarchie des Inhaltsverzeichnisses müssten die Personen aus dem Gefährderkreis „Islamismus/Islamistischer Terrorismus ihrer Anzahl nach allerdings im Bericht an erster Stelle stehen, wenn er 25.810 Personen umfasst (über eine Reihe weiterer aufgeführter Gruppierungen liegen noch keine gesicherten Zahlen vor, die Gesamtzahl ist daher real noch etwas höher). Alleine die Milli-Görüs-Bewegung und zugeordnete Vereinigungen werden hier, wie schon 2016, mit einem Personenpotenzial von 10.000 angegeben, der Bericht erwähnt allerdings erläuternd einen „schwächer werdenden Extremismusbezug“, was dazu führt, dass nicht mehr die Gesamtheit der Personen uneingeschränkt als Extremisten verstanden werden müssen.
Nur ein einziger islamistischer Anschlag 2017 dürfe, so der Bericht, „nicht über die weiterhin hohe Anschlaggefahr in Deutschland hinwegtäuschen“, hier reklamieren die Sicherheitsbehörden „erfolgreiche bundesweite Aufklärungsbemühungen“. Eine Reihe von Anschlagsplanungen sei erfolgreich vereitelt worden.
Zusätzlich zur bereits hohen Anzahl der Personen aus dem Bereich „Islamismus/Islamistischer Terrorismus“ kommen noch 30.050 Mitglieder extremistischer Auslandsorganisationen (an erster Stelle die kurdische PKK mit einem Mitgliederpotenzial von 14.000 Personen) von denen knapp zwei Drittel dem linksextremistischen Spektrum zuzuordnen sind. Angesichts einer zunehmenden Internationalisierung des linken Extremismus sicher eine beunruhigende Zahl, wenn man sich erinnert, dass bei den Krawallen zum G-20 in Hamburg auch eine Reihe ausländischer Aktivisten/Extremisten auftauchten. Im Vorfeld war das den Sicherheitsbehörden durchaus bekannt, bedenkt man die überaus umfangreichen dahingehenden Kontrollen an den deutschen Außengrenzen.
Die russischen Aktivitäten werden im Bericht weitestgehend darauf zurückgeführt, dass die EU aufgrund der Ukraine-Krise weiterhin Sanktionen gegen Russland aufrecht erhält und den russischen Aktivitäten in Syrien kritisch gegenübersteht.
Was China angeht, betrachtet der Bericht das 2017 vom Volkskongress erlassene neue nationale Geheimdienstgesetz besonders kritisch, da es den Diensten gestattet, im In- und Ausland nun nahezu ohne Einschränkungen nachrichtendienstlich tätig zu sein. Erstaunlich hier nur, dass das offensichtlich zuvor anders gewesen sein soll.
Interessant ist in dieser Rubrik ist die explizite Erwähnung, dass der Fokus der Ermittlungen auch solche Staaten einschließt, mit denen man „an anderer Stelle vertrauensvoll und partnerschaftlich zusammenarbeitet.“ Der neue Begriff dafür lautet: „360°Bearbeitung“. An erster Stelle wird hier die Türkei genannt.
Spionagetätigkeiten der USA in Deutschland finden im Verfassungsschutzbericht hingegen nicht statt. Möglicherweise liegt das auch daran, dass die Bundesanwaltschaft ihre Untersuchungen in der NSA-Affäre im Oktober 2017 mit folgendem Ergebnis abgeschlossen hatte: „Keine konkreten Hinweise auf Spionage der NSA in Deutschland.“
Nun sagt das kaum etwas über die tatsächlichen Aktivitäten der USA aus. Möglicherweise lediglich über die hohe Qualität dieser Spionagetätigkeiten, wenn beispielsweise n-tv ironisch feststellt und der Bundesstaatsanwaltschaft attestiert: „Doch als nationale Behörde hat sie sich am internationalen Datennetz, dem Internet, die Zähne ausgebissen. Und weiter: „Die Bundesanwaltschaft schrieb (…), die Snowden-Enthüllungen schilderten bloß „allgemeine technische Fähigkeiten“ und könnten solche Sachverhalte „mit Bezug zu Deutschland“ nicht belegen.“ Nun ist es in diesem Falle nicht einmal notwendig, Spionageaktivitäten in Deutschland zu tätigen, wenn die USA massenhaft Kommunikationsdaten abgreifen und auswerten können, weil ein Großteil der Internetdaten aus Deutschland in Richtung USA laufen oder auf britischen Servern des GCHQ gespeichert und über ein kompliziertes wie effektives Netzwerk auch der NSA zur Verfügung stehen soll.