Tichys Einblick
Zu spät, doch ehrenhaft

Das Attentat vom 20. Juli 1944

Diese Männer des 20. Juli 1944 waren keine Sophie Scholl und kein Johann Georg Elser. Sie waren anfangs sogar oftmals Profiteure oder Mitgestalter des mörderischen Regimes. Aber am Ende handelten sie.

John MacDougall/AFP/Getty Images

Darf man das sagen: Der 20. Juli 1944 war ein Glücksfall für die politische DNA der Bundesrepublik Deutschland? Sicher nicht. Zu sehr waren die Attentatsplaner gegen Hitler bereits kontaminiert von ihrem Ämtern und Tätigkeiten im Nationalsozialismus. Zu sehr hatte die späte Tat 1944, als die Kriegsniederlage kaum noch abzuwenden war, den Ruch, nur die eigenen Haut retten, sich, ihre Familien und Deutschland in die Position bringen zu wollen, den Alliierten noch irgendwelche Verhandlungen abzuringen – dann mit dem Faustpfand des Tyrannenmordes im Tornister.

In der Welt liest es sich noch radikaler: „Ein verkannter Tag im Geschichtskalender: Es ist ein Fehler, die Verschwörer vom 20. Juli 1944 nur als Opfer des Nationalsozialismus zu verehren. Wir sollten sie als Täter im Gedächtnis bewahren.“

In den Nachkriegsjahren schaute manch überlebender deutscher Frontsoldat verächtlich auf diese Widerständler. Dann, wenn sich deren misslungener Anschlag wieder einmal jährte und medial besprochen wurde wie ein deutsches Heiligtum. Wohl auch deshalb, weil der „Heldentod” für viele männliche Kriegsteilnehmer zum festen Repertoire im Schützengraben gehörte und sich in der Erinnerung der aus der Kriegsgefangenschaft Heimgekehrten alles andere als heldenhaft anfühlte, wenn diesem Heldentod der Bauchschuss des Kameraden samt stundenlangem Geschrei vorausging, bis der Tod zweifellos Erlösung bedeutete, ohne einen Helden geformt zu haben.

Unheldenhafter „Heldentod”

Mein Großvater war einer der ersten, der die polnische Grenze überschritt, als die Wehrmacht der Roten Armee entgegeneilte, um unweit von Brest-Litowsk gemeinsam ein paar Zigarettchen zu schmöken. Und mein Großvater gehörte zu jenen, die von ihren Kriegserlebnissen erzählen konnten. Möglicherweise mussten diese Erzählungen eine Generation überspringen, mein Vater hat nie viel davon berichtet, dass sein Vater ihm davon erzählt hätte.

So saßen wir dann halt als Kinder nach üppigem Sonntagsbraten und anschließender Buttercremetorte – voll gestopft bis zum Erbrechen mit dem Wohlstandfett der späten Nachkriegsjahre – mit Opa auf dem Sofa unter den selbst gemalten Kopien alter Ölbilder und Opa erzählte vom großen Krieg, vom Elend im Schützengraben, vom guten Kameraden, der noch ein paar Meter laufen konnte, wenn auch nur noch mit halbem Kopf, von den Stalinorgeln, deren Munition tagelang über die Köpfe sausten – ich kann das Geräusch bis heute nachmachen, so oft hatte Opa es uns vorgemacht – und von den Jubelschreien, als endlich die Fanatiker kamen und dem Lärm vorübergehend ein Ende machten: Ja, mein Opa hatte durchaus eine ambivalente Haltung zur Waffen-SS, die ihm wohl mehrfach nach Selbstbekunden „den Arsch“ gerettet hatte.

Aber das ist nur eine von vielen Erzählungen meiner Familie. Auf der anderen Seite stand immer auch der 20. Juli als Datum, dessen Bedeutung ich schon früh begriff, weil es so dicht auf meinem Geburtstag folgte. Als Folge des Attentatsversuches vom 20. Juli 1944 wurde der Vater meines Onkels in Plötzensee am Schweinehaken aufgehängt.

Niemand blieb ohne Folgen

Der Mann der Schwester meiner Mutter erzählte auch vom Krieg, von der Zeit des Nationalsozialismus, von der Hinrichtung seines Vaters. Aber es waren ganz andere Geschichten, als die meines Opas. Sie begannen schon mit seiner Kindheit, mit der Zeit in einer Napola, einer dieser Nationalpolitischen Lehranstalten, in denen Hitlers zukünftige Eliten gedrillt wurden. Mein Onkel spielte Querflöte, er war dort am denkbar falschen Ort, aber sein Vater wollte es so.

Er erzählte vom Barfußlauf vor dem Morgengrauen über kilometerlange Kieswege. Von andauerndem Befehlsgeschrei, vom Soldat sein schon mit neunzehn und vom nächtlichen Aufmarsch der Kompanie auf dem Kasernenhof, als der junge Fahnenjunker vortreten musste und ihm der Kommandeur vor den versammelten Kameraden die Rangabzeichen von den Schulternklappen riss, der Verstoßene seine Sachen packen und zu Schwerkriminellen und gewöhnlichen Verbrechern in ein Strafbataillon gesteckt wurde: Sippenhaft. Aber das grausige Schicksal hatte ihm noch mehr zu bieten, als der schwer Traumatisierte nach Kriegsende noch ein Jahr lang wegen eines Missverständnisses als Saboteur beim Russen in Einzelhaft sitzen musste.

Der Onkel hatte zu Weihnachten und an Familienfesten die übelsten Launen. Dann übernahm seine sonst mühsam in Schach gehaltene Schwermut das Regiment. Wir Kinder fürchteten seine plötzlichen Gefühlsausbrüche, die wie aus heiterem Himmel kommend alles verdüstern konnten, nach denen er aber immer recht bald auf seinem Stuhl zusammensackte wie ein Häufchen Elend.

Eine Naturgewalt, die vorbeizog. Jedenfalls reagierten die Erwachsenen gelassener, man hatte sich wohl über die Jahre gewöhnt, und so etwas wie die Diagnose etwa eines posttraumatischen Stresssyndroms war damals noch unbekannt. Es war halt was hängen geblieben vom Krieg. Und es war kein Einzelschicksal, dachten die anderen, den einen erwischt es eben mehr als den anderen.

Ob der Stalinorgel-Geräusche-Opa verächtlich hinüberschaute zum Onkel, erinnere ich nicht, auf jeden Fall gaben sich die beiden die Hand, man saß zusammen, sprach aber nicht viel. Gesprächspartner waren für beiden eher die Enkel. Beim Pilzesuchen im Wald, beim Spaziergang in der Stadt – sicher drängelten wir auch oft, zu erzählen, dann redeten sie halt.

Der Schaurichter Freisler

Immer am Vorabend oder am Abend des 20 .Juli wurden Dokumentationen im Fernsehen gezeigt: Der brüllende Nazi-Richter Freisler und der knappe Moment, wenn dann auch kurz mein Großonkel auf der Mattscheibe erschien. Wir sahen einen dünnen verängstigten Mann, der seine Hosen mit beiden Händen festhalten musste, weil man ihm den Gürtel und die Hosenträger abgenommen hatte, wohl damit er sich nicht vorzeitig der Todesstrafe durch Selbstmord entziehen konnte – ein Toter zappelt nicht am Schweinehaken. Und dieses Zappeln wurde gefilmt, wie mein Onkel später erfuhr, als man ihn im engen Kreise zu so einer Vorführung des Materials eingeladen hatte, ihm aber die Kraft fehlte, sich dieses ultimative Grauen anzuschauen.

Der Großonkel also vor Freisler in schwarzweiß Aufnahme. Ein ganz ängstliches, ein schmales Gesicht mit dünner Rundglasbrille ist mir in Erinnerung. Aber noch viel mehr berührte mich als Kind dieses kurze letzte Aufbäumen von Haltung, als Freisler wieder irgendeine Frage brüllte und der Großonkel den gesenkten Kopf noch einmal mit aller verbleibenden Kraft hochriss, um Antwort zu geben, die dann nur wieder niedergebrüllt wurde. Tragisch die Hintergrundgeschichte des Onkels dazu: Sein Vater schützte nur den Schwager, der wohl aktiv beteiligt war an den Attentatsplanungen, dessen Vorbereitungen er nur zufällig mitbekommen hatte. Sein Heldentum bestand also schlicht darin, keine Meldung zu machen, kein Verräter am Schwager und keiner der Attentäter zu sein.

Nein, diese Männer des 20. Juli 1944 waren keine Sophie Scholl und kein Johann Georg Elser. Sie waren anfangs sogar oftmals Profiteure oder Mitgestalter des mörderischen Regimes. Sie mögen jeder für sich, als die deutsche Wehrmacht noch siegreich war, die konfiszierten Champagnerflaschen im halben Dutzend geleert haben bis auf den Grund. Über ihre Motive wurde in der Nachkriegszeit viel spekuliert. Einig sind sich wohl die meisten Historiker heute: An erste Stelle stand ihnen nicht das Ende der Massenvernichtung der Juden in den Lagern außerhalb des Reiches. Und dass sie davon mehr gewusst haben müssen, als der einfache Bürger ohnehin wusste oder ahnte, steht außer Frage.

2012 sagte der stellvertretende Direktor des Münchner Institutes für Zeitgeschichte, Magnus Brechtken, gegenüber der Süddeutschen Zeitung über Stauffenberg: „Er hat etwas getan, was historisch den Begriff vom ‚anderen Deutschland‘ repräsentiert. Er hat gezeigt, dass 1944 nicht alle Deutschen mit den von der Führung begangenen Verbrechen einverstanden waren.“ Hatte er sich damit schon zu weit aus dem Fenster gelehnt, hat Brechtken die Wunsch-Rezeption der Ereignisse zu sehr verinnerlicht?

Was bleibt?

Klar ist jedenfalls, die Widerständler gegen Hitler haben ihren gescheiterten Attentatsversuch mit dem Leben bezahlt und sind durchaus Teil eines Mythos der Staatsgründung eines besseren Deutschlands geworden. Mein Onkel wusste nichts vom Attentatsplan, von denen sein Vater hörte und die von seinem Onkel mit geplant wurden. Aber er blieb diesen Ereignissen über tiefe Verletzungen und einen anhaltenden Seelenschmerz bis ins hohe Alter unfreiwillig verbunden. Mein Opa mit seinen gruseligen Wehrmachtsgeschichten wird ebenfalls seine Dämonen gehabt haben. Aber er hatte wohl ein Eckchen, wo er die vor seinen Enkeln für den Moment der Nacherzählung hervorgeholten Bilder zurückstellen konnte, ohne nach außen sichtbar daran Schaden zu nehmen.

Mein Opa war zweifellos auch Täter. Für immer unklar bleibt, ob überhaupt und wenn, wie viele Polen und Russen er „erwischt“ hat. Zerbrochen ist er daran freilich nicht. Mein Onkel war schwerer getroffen. Seine inneren Verletzungen waren sichtbarer. Beide wurden weit über 80 Jahre alt. Sophie Scholl starb mit 21 Jahren, Georg Elser wurde 42, Stauffenberg 37 und mein Großonkel 45 Jahre alt. Allen gemeinsam ist: Sie waren Deutsche. Jeder auf seine Art. Und alle gemeinsam in ihrer Zeit.

Aber was bedeutet das nun alles für die Deutschen im 21. Jahrhundert? Heute rufen welche „Widerstand!“. Welche, die nicht weiter voneinander entfernt stattfinden als zwischen Bierkiste und feuilletonistischem Elfenbeinturm. Und die doch so nah beieinander liegen in ihrer Hilflosigkeit, Ohnmacht und tiefen Bedeutungslosigkeit im Wortsinne. Welche, die ihre Worte besser wägen sollten.

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