Mein Großonkel wurde in Plötzensee am Schweinehaken aufgehängt. Sein Sohn – mein Onkel – hatte Jahre später nicht die Kraft, aufgetauchtes Filmmaterial anzuschauen, welches die Nazis von dieser und anderen Hinrichtungen gemacht haben sollen. Mein Großonkel war Beteiligter und Opfer des Nationalsozialismus. Über sein Leben und Sterben wurde ein Bestseller geschrieben, der auch verfilmt wurde.
Mein Onkel war Opfer. Er wurde in Sippenhaft genommen, in ein Strafbataillon versetzt, inhaftiert und gedemütigt. Depressionen, Verstörungen, Psychopharmaka und die tägliche Mühe, den gebrochenen Rücken immer wieder zu strecken und gerade zu halten, wurden seine Begleiter für den Rest seines Lebens.
An meinen Onkel musste ich denken, als der Spiegel-Autor Georg Diez in seiner aktuellen Kolumne mit erhobenen Fäusten zum Widerstand aufrief. Ein Schreiber kämpft an prominenter Stelle gegen die Bedeutungslosigkeit an, gegen den Verlust von Deutungshoheit, die einmal mit diesem Magazin und seinen Kolumnisten verbunden gewesen sein mögen. Diez spricht von einer Geisteshaltung, die man einüben könne. Ein Diez’sches Widerstand-Training.
Diez fordert zum gewalttätigen Widerstand gegen Rechte und die AfD auf. Ja, er baut sich eine Notbremse ein, wenn er im Ungefähren bleibt, aber wir dürfen sicher sein, so will er es gelesen haben, wenn er schreibt:
„Der Abend im Berliner Dom endete mit einem Aufruf, der wie ein Echo im Raum widerhallte, es war in gewisser Weise schockierend, vor allem wegen des Rahmens. Es war der Aufruf zum bewaffneten Widerstand, konkret gegen Hitler, abstrakt gegen andere Ungerechtigkeit. Die Berliner Bürger gingen danach hinaus in den sonnigen Sommerabend.“
Dazu muss man nun wissen: Diez besuchte eine Lesung im Berliner Dom, über die er später schreibt und mit folgendem Satz einleitet: „Ich war vor ein paar Wochen bei einer Veranstaltung zum Widerstand gegen das Hitler-Regime.“ Also konkret war er bei einer szenischen Lesung unter anderem mit den Schauspielern Martina Gedeck und Matthias Brandt mit dem Titel „Widerstand in Berlin“. Und wie nun kleine aufgeregte Kinder nach einem Kung-Fu-Film auf der nächtlichen Straße noch ein paar Kampfbewegungen nachspielen, hatte auch Georg Diez im Dom deutlich zu tief inhaliert und beim Verlassen der Kirche wohl überall Hakenkreuzfahnen gesehen, sich spielerisch weggeduckt und den Untergrund gesucht. Dorthin wollte er, wo es nun abzutauchen gilt, vor den neuen Nazis in Deutschland.
Die Veranstaltung im Dom wurde im Vorfeld so angekündigt: „Dank ihrer Briefe, Tagebucheinträge, Berichte und Flugblätter begreifen wir heute, wie mutig und entschlossen sie damals waren, aber auch welche existentiellen Nöte und Ängste sie persönlich auszuhalten hatten.“ Ich kenne solche Briefe, ich kenne auch Filmmaterial und ich erinnere persönlich die oft stundenlangen Monologe meines Onkels. Georg Diez möchte sich nun in eine Reihe stellen mit diesen stillen Helden, mit diesen Männern und Frauen, die sich unter Einsatz ihres Lebens einer mordenden Ideologie entgegenstellten. Diez schreibt seine Kolumne, die nun wie die Briefe der anderen klingen sollen.
Diez unterstellt den Besuchern der Veranstaltung, es wäre diesen so gegangen wie ihm selbst: „Dieses Interesse ist nicht nur historisch. Es stellen sich gerade in Deutschland viele Menschen die Frage, wie sie sich wehren können gegen den Rechtsbruch und die Barbarei unserer Zeit.“ Sätze, die klingen sollen, wie die Briefe der Verfolgten selbst. Die Sehnsucht des Georg Diez nach dem letzten Gefecht. Die Traurigkeit des Nostalgikers, in die falsche Zeit hineingeboren zu werden. Georg Diez auf der verzweifelten Suche nach irgendetwas Heldenhaftem – in Georg Diez.
So macht sich der Spiegel-Autor zum Sprecher einer von ihm selbst erdachten neuen deutschen Widerstandsgruppe: „Sie haben demonstriert gegen die Toten im Mittelmeer und die Apathie, die Verhinderungspolitik, die Stumpfheit der herrschenden Politik. Sie haben demonstriert gegen die AfD, sie wollen die Rechtsverschiebung in diesem Land nicht hinnehmen.“ Widerstand! Die andere Seite der Bierkiste. Dort, wo am liebsten noch mit dem Füllfederhalter geschrieben wird. Die Infantilisierung der Debatte zum vermeintlich eigenen Vorteil.
Diez schreibt dabei, als hätte er bei Götz Kubitschek abgeschrieben: „Widerstand beginnt damit, dass man sich dem Drang der Masse genauso wenig beugt wie einem Denken der Homogenität, das die Verantwortung für eine imaginäre Gruppe, oft die Nation, über die Verantwortung für den Einzelnen stellt. Widerstand ist eine Geisteshaltung, die man einüben kann, Widerstand ist etwas, das man in sich trägt und auf einen wartet.“
Bei Kubitschek klingt das dann allerdings so: „Wir bewegen uns auf etwas zu, was wir den Vorbürgerkrieg nennen sollten, wohl wissend, wie groß das Wort vom „Bürgerkrieg“ ist, wie unvorstellbar die Angst und Zerrüttung, wenn eine echte Wolfszeit anbricht.“ (aus „Die Spurbreite des schmalen Grats“)
Georg Diez will Wolf sein. Will Bürgerkrieg. Diez will sogar Götz Kubitschek sein, aber selbst dafür fehlt ihm die Haltung. Sein Sofa-Widerstand stachelt nur, insistiert, will andere bewegen, aktiv zu werden, während sich Diez hinter seine Tastatur zurückzieht und vom Ideal einer „undogmatischen Menschlichkeit“ fabuliert, noch ganz aufgewühlt von den Briefen der anderen, aus der szenischen Lesung im Berliner Dom.
Nun ist der Widerstands-Begriff nach Georg Diez von rechts gekapert worden. Dabei gäbe es doch „in der gegenwärtigen politischen Situation, mit einer rechtsextremen Partei wie der AfD (…) eine andere Dringlichkeit, über Widerstand nachzudenken.“ Das ist die Entfremdung des Autors von den realen Verhältnissen. Hier kann einem der Träumer fast leid tun. Die Sehnsucht nach der finalen Tat, diese aber bitteschön nur angestachelt, nie selbst vollzogen. Hier möchte Diez dann auch Ulrike Meinhof sein, die allerdings ging für ihre Überzeugungen in den Untergrund und saß jahrlang isoliert in Stammheim, bis sie ihrem Leben ein Ende setzte.
Georg Diez sehnte sich schon 2010 nach so etwas wie einem ultimativen Erlebnis im Schützengraben. Dieser Gedanke hatte bei ihm durchaus auch eine sexuelle Komponente, wenn er von den „Wunden der Sehnsucht“ schrieb, wenn er über die Frage nachdachte, ob es „wohl mental möglich sei, während eines Feuergefechts zu masturbieren. Das wäre, zugegebenermaßen, der Mount Everest der Masturbation“ und wenn er über diese verstörenden Sätze des amerikanischen Autors Sebastian Junger („War“) schreibt, „solch ein Satz findet sich (…) nur da, wo es blutig ist und grausam, manchmal auch zärtlich und sogar schön.“
Es ist exakt diese Unernsthaftigkeit, diese kindliche Spielerei in kurzer Hose mit Holzgewehr, die den Blick in das Seelenleben des Autors freigibt. Dort, wo nichts Aufregendes mehr passiert, wo nie etwas wirklich Aufregendes passiert ist, wo die Urangst vor dem allzu groben Spielkameraden aus der Sandkiste der Kindheit sich immer wieder alptraumhaft Bahn bricht: Ach wäre doch Schlacht, ach wäre doch endlich Widerstand. Aber bitte nicht auf der Bierkiste, lieber im Stuhlkreis von dem aus dann ein paar viel Mutigere ins Gefecht delegiert werden können.
„Es sind Memes, es sind Fiktionen, die notwendig sind, um die Wirklichkeit zu verändern.“, schreibt Georg Diez. Und damit ist dann auch alles gesagt, wenn Georg Diez zu jenen gehören möchte, die davon träumen, die Wirklichkeit der anderen nachhaltig zu verändern. An der Tastatur. Im deutschen Größenwahn.