Tichys Einblick
DIE ITALIENISCHE LEKTION

Ein vereintes Europa wird schwächer

Diejenigen, die Europa zu einem einheitlichen Nationalstaat machen wollen, sollten sich Italien ansehen, um zu sehen, wohin das führt. Die von oben verordnete Nationalstaatsgründung wurde auf dem Apennin von den Bürgern einstmals stolzer und selbstständiger Regionen nie richtig akzeptiert.

© Getty Images

Sowohl die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der französische Präsident Emmanuel Macron plädieren für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa. Was genau das bedeutet, machen die beiden indes nicht explizit klar. Der Impetus lässt jedoch keinen Zweifel: Der Wunsch ist es, einen globalen Machtblock zu schaffen – mit einer eigenen Armee, Regierung, Flagge, Haushalt, Steuern und Schulden.

Das sieht stark nach einem europäischen Äquivalent der Vereinigten Staaten von Amerika aus und führt am Ende zu einem neuen Nationalstaat. Der Haupttreiber für die Formulierung dieses Ziels ist eine Frustration, die sowohl die Deutschen als auch die Franzosen seit dem Zweiten Weltkrieg umtreibt: Sie waren und sind abhängig von der Barmherzigkeit und den Launen der USA.

Der Wunsch ist aus deutscher und französischer Sicht durchaus nachvollziehbar. Dabei wird übersehen, dass Europa als Nationalstaat vielleicht schwächer ist als die Gesamtheit der vielen Nationalstaaten, aus denen es sich jetzt zusammensetzt. Dass das nicht nur eine theoretische Möglichkeit ist, lehrt im Kleinen die Entwicklung Italiens im 19. Jahrhundert – sozusagen die italienische Lektion.

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Italien kann man nämlich als eine Art Mini-Europäische-Union verstehen. Ab 1861 schlossen sich, teilweise auch aus Frustration über den Einfluss der starken Nachbarländer, viele Regionen zum Königreich Italien, dem ersten Nationalstaat, zusammen. Aber dieses vereinte Italien war immer ein schwacher Staat. Der Schriftsteller Massimo d’Azeglio wurde erster Ministerpräsident und wird heute noch mit dem an König Vittorio Emanuele II. adressierten Satz zitiert: „Wir haben Italien gegründet, jetzt müssen wir Italiener schaffen.“ Genauer kann man die Schwierigkeiten einer von oben verordneten Nationalstaatsgründung nicht auf den Punkt bringen. D’Azeglio wusste, dass es nicht so einfach ist, Menschen unter einer Flagge zu vereinen, selbst wenn sie mehr oder weniger dieselbe Sprache sprachen.

„Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern“, sagt Tancredi zu Fürst Salina in Giuseppe Tomasi di Lampedusas berühmtem Roman „Der Leopard“. Die Venezianer, Mailänder, Römer, Sarden, Sizilianer handelten genau in diesem Geist. Sie passten sich der neuen Realität des vereinigten Staates Italien an, änderten sich aber grundsätzlich nicht.

Keine Begeisterung für „das Italien“

Die Venezianer fühlten (und fühlen) sich weiter als Venezianer, Sarden als Sarden, Neapolitaner als Neapolitaner, Florentiner als Florentiner, Sizilianer als Sizilianer. Sie lehnten es einfach ab, für „ihren“ (künstlichen) Staat eine Begeisterung zu entwickeln. Und sie wollten und wollen nicht für ein vermeintliches Gemeinwohl leiden, weil dieses allgemeine italienische Interesse in ihren Augen nicht existiert.
Kein Wunder, dass Italien einen Krieg nach dem andern verlor. Ohne Kampfgeist kein Kampf. Die britischen Soldaten rieben sich die Augen, als sie die Italiener während des Zweiten Weltkriegs aus Ägypten vertrieben und deren Positionen eingenommen hatten. Sie fanden die schönsten Uniformen und noch nicht abgeschickte Briefe, in denen sich die italienischen Soldaten über den Mangel an Mamma-Pasta und die Wärme ihrer süßen Mädchen beklagten. Die britischen Soldaten, die groben Uniformstoff tragen mussten und von Corned Beef lebten, hatten so etwas noch nie gesehen. Sie kämpften für Königin und Vaterland und waren bereit, dafür zu sterben. Kein Jammern, aber Kampf!

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Dieses Verhalten hat sich bis heute nicht geändert. Dass Politiker, wie es in anderen Ländern gelegentlich geschieht, auch dann wiedergewählt werden, nachdem sie Kosten gesenkt und Steuern erhöht haben, würde in Italien niemals passieren. Zurückschneiden bedeutet politischen Selbstmord. Unter anderem deshalb ist die Staatsverschuldung auf über 130 Prozent des italienischen Nationaleinkommens angestiegen. Karrieren wie die von Maggie Thatcher in Großbritannien, Mariano Rajoy in Spanien oder Mark Rutte in den Niederlanden sind in Italien gänzlich unvorstellbar.

Die Italiener lehnen es einfach ab, ihre privaten Interessen einem vermeintlich transzendierenden, längerfristigen Interesse der Nation unterzuordnen. Sie fühlen sich zu wenig mit Italien verbunden. In den über 150 Jahren seines Bestehens hat es Italien deshalb nie zu dem politischen Gewicht der nur wenig größeren Länder Frankreich und Großbritannien gebracht.

Das italienische Beispiel sollte man also im Auge behalten, wenn man über die „Vereinigten Staaten von Europa“ nachdenkt. Denn wenn die Europäische Union zu einer politischen, militärischen und wirtschaftlichen Einheit würde, könnte dort das Gleiche wie in Italien geschehen.

Wollen die Deutschen Steuererhöhungen akzeptieren, um eine europäische Staatsverschuldung zu reduzieren, die nicht von ihnen verursacht wurde? Es wäre erstaunlich. Werden holländische Soldaten unter einem griechischen Befehlshaber für eine europäische Regierung sterben, die von einem Belgier geführt wird? Kaum denkbar.

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Italien bietet noch mehr Lehren für ein Einheitseuropa. Das unternehmerische Norditalien zahlt der Regierung in Rom seit Jahrzehnten überhöhte Steuern, die diese im passiven Süditalien übermäßig ausschüttet. Dies hält das relativ arme Süditalien am Leben, macht dort aber Eigenanstrengungen überflüssig. Und gleichzeitig wird die Wettbewerbsfähigkeit der norditalienischen Unternehmer geschwächt. Diese Transferunion schwächt jeden; Spanien hat Italien zum ersten Mal seit 1861 in relativer Kaufkraft überholt.
Transferunion schwächt jeden

Es besteht kein Grund für die Annahme, dass weitere Transfers innerhalb der EU und insbesondere in der Eurozone nicht die gleiche Schwächungswirkung entfalten sollten, wie man das innerhalb Italiens gesehen hat. Unter dem Deckmantel der Solidarität verarmen am Ende Arm und Reich.

Eine weitere Konsequenz: Wie die Italiener werden die Bürger der Nordländer versuchen, Steuern zu umgehen, und in Krisenzeiten keine Steuererhöhungen akzeptieren. Sie werden nicht für die EU und die Eurozone leiden wollen, genau so, wie die Italiener nicht für Italien leiden wollen. Ein Schuldenaufbau und der Verlust der bürgerlichen Moral werden die Folge sein.

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Dies führt zu einer wirtschaftlichen Stagnation. Und diese wiederum hat zu einem abnehmenden Vertrauen in das Heimatland geführt, welches in einer niedrigen Geburtenrate resultiert. Italien hat eine Fertilitätsrate von 1,34 Kindern pro Frau. 2,1 Kinder pro Frau wären nötig, um einen Bevölkerungsrückgang zu vermeiden. Im vergangenen Jahr sind zudem 153.000 junge Leute ausgewandert – überwiegend nicht in die EU, sondern in die USA, die Schweiz und nach Brexit-Großbritannien.

Alles in allem ist der italienische Einheitsstaat also kein großer Erfolg. Der Bürgersinn ist wenig ausgeprägt, die Staatsverschuldung hoch, der internationale politische und militärische Einfluss gering. Kein Wunder, dass die Wirtschaft stagniert und das Land demografisch schrumpft.

Es wäre schön, wenn Angela Merkel und Emmanuel Macon ihre italienische Lektion lernten. Denn wenn die starken Nationalstaaten Europas durch die schwachen Vereinigten Staaten von Europa à la Italien ersetzt würden, dann wäre es vielleicht weise, gar nicht erst danach zu streben.


Dieser Beitrag ist in Ausgabe 07/2018 von Tichys Einblick erschienen >>

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