Ich bin kein ausgewiesener Opernkritiker, sondern nur gelegentlicher Theaterbesucher. Anlässlich eines schon im Februar erstandenen Geburtstagsgeschenks, verschlug es uns in die letzte Vorstellung des Tannhäuser vor der Sommerpause in die Wiesbadener Staatsoper, ein ganz reizendes Rokokotheater. Da es klein ist, das Haus, geht Wagner auch mit kleiner Orchesterbesetzung, weil es da genauso dröhnt wie es der Wagner gern hatte.
Der Sängerkrieg auf Wartburg ist bekanntlich die künstlerische Selbsttherapie des Erotomanen Richard. Wegen seiner dauernden Eros-Besessenheit hatte der stets böse, böse Schuldgefühle. Im Stück fand er dafür verantwortliche Schuldige: den Papst, die Kirche und das Spießertum seiner Zeitgenossen. Ein Verständnis für den Katholizismus ging dem „Tonmeister“, wie man ihn früher ehrfurchtsvoll bezeichnete, völlig ab. Darauf versperrte ihm sein verschwurbeltes teutsch-germanisches Christentum den Blick. Ein einfaches Hinsehen auf die Stadtarchitektur im katholischen Europa hätte ihn belehren können, dass üblicherweise gleich hinter Kirche und Rathaus das Bordell lag, was den Weg zwischen Sünde und Absolution im Beichtstuhl ziemlich abkürzte. Die in Richards Opern bevorzugte Absolution ist dagegen so umwegig, wie es der Neurotiker braucht: Eine „reine“ Frau muss anstelle der Sünde her und hat sich für seine „Erlösung“ zu opfern. Das scheint auch dem Regisseur ganz einleuchtend, dass sich Tannhäuser nach dem anstrengenden Partyleben nach „Reinheit“ sehnt. Worin die nun eigentlich bestehen soll – darüber gibt die Inszenierung keine Auskunft.
Stattdessen transponiert man in der Staatsoper den Wagnerschen Wahn ins postmoderne Allerlei. Bei der Ouvertüre werden wir mit Videos von einer Papstansprache vom Balkon des Petersdoms unterhalten, die mit Videos von Orgien gegengeschnitten wurden (vermutlich mit adaptierten Material aus Pornokanälen). Ich frage mich, was die beiden Zehnjährigen in der ersten Reihe dabei denken -wahrscheinlich halten ihre Erziehungsberechtigten das für eine gute Vorbereitung auf den Sexualkundeunterricht…
Aber egal, es geht um den „immerwährenden Konflikt“ zwischen Sinnlichkeit und Macht, Freiheit und starrer philisterhafter Konvention. Die sympathisch gezeichnete Seite, der freie Eros, hüpft auf der Bühne in Gestalt zahlreicher Halb- und Ganznackedeis herum, kostensparend auf einem Bühneninterieur, das in etwa an die große Empfangshalle eines Messehotels erinnert: große lange braune Plastiksofas auf Rollen. Genau! So muss es im Venusberg bei der Liebesgöttin zuhause ausgesehen haben! In diesem konferenzpraktischen Lustsitzungssaal hängen außerdem noch ganz viele Hirschgeweihe an der Wand. (Aber die sind wahrscheinlich schon mal für den Sängerwettstreit in der großen Halle der Wartburg – weil dann die Bühne nicht umgebaut werden muss.)
Und zum Ende des ersten Aufzugs schieben die Nackedeis hurtig wie Umzugspauschalisten die Rollmöbel von der Bühne. Sozusagen: „Alarm, die Uniaufsicht kommt gleich, Leute! Schnell alle Möbel wieder zurechtrücken und die Textilien vom Boden aufsammeln!“
Der eigentlich sehr renommierte Tannhäusertenor des Hauses hatte einen ganz schlechten Tag, zwischen Verzweiflungsschrei und Röcheln schaffte er gelegentlich nur ein kaum mehr hörbares Krächzen. Warum sie den armen Kerl am Saisonende noch durch diese Stresspartie jagen? Das verdient eine Gelbe Karte für den Teamchef! Im Prinzip würde es ja zum verlebten, ausgebrannten Image der Titelfigur passen, aber eine ordentliche stimmliche Performance wünscht man sich schon. Wir sind ja im Musik-, nicht im Sprechtheater. Dafür gab es aber einen ganz glänzenden Wolfram von Eschenbach, ein pausbäckiger braungelockter junger Ire, der auch den meisten Einzelapplaus am Ende einheimsen durfte. Venus: balkanische Schönheit, gute Stimme; Elisabeth: sehr blond – ein wenig mit dem eisigen Charme von Grace Kelly -, ton- und ausdruckssicher. Von der Frankfurter Neuen Presse hat sie noch ein Sonderlob bekommen, weil sie sich – vor ihrem „Liebestod“ hinter der Bühne – nicht zu gut dafür ist, einen „hüllenlosen Abgang“ hinzulegen. (Die von Richard erstrebte „Reinheit“ changiert so am Ende zu „Weg mit den ollen Klamotten und ab unter die Dusche“!)
Das Messehotel dient wie schon gesagt im zweiten Aufzug als Wartburgfesthalle. Da tritt der Chor diesmal – wir sind jetzt im Nostalgiedepartement der Postmoderne! – in mittelalterlichen bunten Gewändern auf, tadellose Teamleistung: das Theater erzittert mit Wagnerschem Bums. Da fällt mir allerdings beim Begrüßungschor wieder einmal auf, dass die melodische Invention des Meisters doch reichlich banal ist, wenngleich kaschiert durch die ausgesucht raffinierte Instrumentierung. Der Landgraf wird verkörpert durch einen riesigen koreanischen Bass in Hotelportiersuniform – mit eindrucksvoll dröhnender Tiefe. Überhaupt die Ostasiaten! Sie retten durch ihre Präsenz in Chören und Orchestern die bundesdeutsche Opernkultur.
Der letzte Akt wird beherrscht von einem großen Kreuz, das als eine Art Rampe dient, und nach Bedarf bestiegen oder bekniet wird. Die „Rom-Erzählung“ des vom Schicksal total fertiggemachten Tannhäuser wird von der knapp am Versagen entlangröchelnden Stimme des (kanadischen) Tenors malerisch illustriert (metaphorisch gesprochen). Der gelockte irische Wolfram darf noch mit Brillanz den Welthit an den Abendstern singen, die verzweifelte Elisabeth jammert eindrucksvoll über das Schicksal des Geliebten, aber Verfluchten, entledigt sich schließlich ihrer Hüllen und verschwindet zum Liebestod. Und Tannhäuser geht es nun echt ganz schlecht! Aber: Nach einigem Hin und Her und Wolframs treuem Beistand verkündet uns der Chor, dass er „von der Hölle heißem Brand“ doch noch erlöst sei – weil der dürre Stab des Papstes (wohlgemerkt: der Hirtenstab – ein Schelm, wer Böses dabei denkt!) doch entgegen seines erzürnten Fluchs „wieder grünt“.
Das Kurpublikum der Bäderstadt ist erstaunlicherweise total begeistert, nicht der Hauch von Skandal. Was haben wir doch in den letzten 20 Jahren für ästhetische Fortschritte gemacht! Der Subtext der Inszenierung – „Erotik macht frei“, wenn man es ein wenig locker-partywillig sieht, und wenn man die beruflichen Pflichten dadurch nicht zu sehr vernachlässigt -, wird heutzutage auch vom Kurpublikum samt Kurschatten akklamiert. Tosender Beifall – wir eilen zum Parkhaus, um möglichst rechtzeitig vor den Warteschlangen rauszukommen.
Einblick in die schlichte Geisteswelt des Regisseurs findet man hier virtuell auf Youtube – man muss allerdings zuvor sein Alter nachweisen – im Gegensatz zum realen Besuch (Wiederaufnahme am 9. März 2019).
Albert Christian Sellner lebt in Frankfurt am Main und publiziert als kulturell vielseitig interessierter Zeitgenosse Artikel und Bücher zu Themen, denen er sich schon sein ganzes Leben intensiv widmet.