„Ohne eine stabilitätsorientierte Geldpolitik und die Durchsetzung adäquater Haftungsregeln werden Milliardenlasten auf die nachrückenden Jahrgänge abgewälzt und die ohnehin wenig nachhaltige Generationenbilanz der deutschen Politik weiter unterminiert.“
In einem am 22. Mai in der FAZ erschienenen Aufruf warnen 154 Wirtschaftsprofessoren, zu denen auch der Verfasser dieses Beitrag gehört, vor den Gefahren der derzeit diskutierten Reformmaßnahmen für die Europäische Währungsunion. Es ist ein Aufruf, der in Politik und Wissenschaft national wie international Aufmerksamkeit erregte, wenn auch mit unterschiedlichen Reaktionsmustern. Wenige Tage vor den heftigen euro- und europakritischen Äußerungen aus Italien und nur einen Monat vor dem 70. Jahrestag der deutschen Währungsreform hat der Appell aber zumindest die Erinnerung an die Einhaltung marktwirtschaftlicher Prinzipien von Haftung und Verantwortung geweckt und die Politik dazu ermuntert, sich für den Erhalt der Währungsunion nach geltendem Recht einzusetzen.
Im Kern geht es bei den aktuell verhandelten Reformmaßnahmen für die Europäische Währungsunion um die Überführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in einen Europäischen Währungsfonds (EWF), die Vergemeinschaftung des Einlagensicherungsfonds, die Etablierung eines (weiteren) Investitionsfonds zur Stabilisierung und Unterstützung struktureller Reformen und die Einführung eines europäischen Finanzministers mit Fiskalkapazität. Die Unterzeichner des Aufrufs, weisen mit Nachdruck auf die schwerwiegenden ordnungspolitischen Kollateralschäden dieser Pläne hin. Anstatt Strukturreformen voranzubringen und die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) wieder auf einen angemessenen Kurs zu lenken, würden mit solchen Weichenstellungen Fehlanreize für die zentralen Akteure geschaffen und durch eine Haftungs- und Transferunion die Grundlagen von Wachstum und Wohlstand in ganz Europa unterminiert.
Kurioserweise wurde in der Ökonomen-Zunft durchaus Kritik an dem Aufruf laut, auch wenn keine spezifische inhaltliche Auseinandersetzung erfolgte, sondern im Wesentlichen mit „Totschlagargumenten“ hantiert wurde. Wenn man, wie Michael Hüther vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft, die Auseinandersetzung mit dem Szenario einer Haftungsunion ablehnt, weil damit die Existenzfrage für den Euro gestellt würde, dann sollte man sich überlegen, ob man (noch) die richtigen Fragen stellt. Ob es sich um „simple Schwarz-Weiß-Malerei“ handelt, wie Jan Pieter Krahnen von der Goethe-Universität Frankfurt formulierte, darüber kann sich jeder verständige FAZ-Leser ein eigenes Bild machen. Auch die Kritik von ifo-Präsident Clemens Fuest, dass der Aufruf keinen Plan enthalte, wie man die Ausweitung der Solidarhaftung verhindern könne, geht ins Leere. Übrigens hat Hans-Werner Sinn, sein Vorgänger im Amt, den Aufruf unterschrieben.
Eher kurios zu nennen ist dagegen die Anmerkung eines Ökonomen-Kollegen, nach dessen Einschätzung der Aufruf nichts taugen könne, weil er selbst ja nicht unterschrieben habe. Mit etwas Häme wurde von einigen Kritikern zudem angemerkt, dass in der Liste der Unterzeichner vor allem „Altvordere“ zu finden seien, während man wichtige Ökonomen der jüngeren Generation vermisse. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass der nachwachsenden Ökonomen-Generation die Fähigkeit abhandengekommen ist, ökonomische Probleme in einem ordnungstheoretischen Kontext zu analysieren, wie sie die Wirtschaftspolitiker alter Schule noch haben; oder die jüngeren Kollegen haben Angst, sich so klar zu positionieren, um nicht von der Futterkrippe der Drittmittel und vom Einfluss auf die Politik abgeschnitten zu werden.
Umso wichtiger ist es, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was derzeit auf der europäischen Ebene insbesondere zwischen dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der Bundeskanzlerin Angela Merkel verhandelt wird. Es geht um nicht weniger als die Rettung des ins Wanken gekommenen Euro-Systems durch eine Haftungs- und Transferunion, bei der Deutschland mit seinem Vermögen die Fehlkonstruktion Euro retten soll. Geht man den mit großem Charme vorgetragenen Vorschlägen des französischen Präsidenten auf den Leim, wird Deutschland zwangsläufig für alle heutigen und zukünftigen Schulden Südeuropas mithaften, was sehr teuer werden dürfte.
In den politischen Diskussionen zur Währungsunion wird häufig darauf verwiesen, dass Deutschland als Nettoprofiteur der Währungsunion mit hohen Exportüberschüssen, kräftigem Wirtschaftswachstum und niedrigen Arbeitslosenquoten Zugeständnisse machen und insbesondere auch gemeinsame Investitionsprojekte kofinanzieren sollte. Bei näherer Betrachtung lösen sich allerdings die genannten Wohlstandsgewinne infolge der hohen Exportüberschüsse potentiell in Luft auf. Der aufgrund eines für die deutsche Volkswirtschaft massiv unterbewerteten Euro und der Nullzinspolitik der EU künstlich aufgeblähte Exportsektor generiert Überschüsse, die zum großen Teil in den Target-2-Salden der deutschen Bundesbank landen. Wer mit Studenten das sogenannte „magische Viereck“ der Wirtschaftspolitik bespricht und „außenwirtschaftliches Gleichgewicht“ thematisiert, gerät daher regelmäßig in Erklärungsnot. Das Doping durch die EZB ging mit einer Erhöhung der deutschen Exportquote um rund 60 Prozent einher und hat Deutschland wie keine andere große Wirtschaftsnation vom Erfolg der Exportaktivitäten und damit auch von einer aggressiven Handelspolitik à la Trump oder China abhängig gemacht.
Schon einmal verlor Deutschland Auslandsvermögen in der Größenordnung von einer Billion Dollar, als deutsche Banken vor der Finanzkrise wenig werthaltige US-Immobilienanleihen kauften. Mit diesen sogenannten „Kreditersatzgeschäften“ spekulierten sich insbesondere mehrere Landesbanken in den Ruin. Die anhaltende Schwäche des Bankensektors in Deutschland dürfte auch auf diese substantiellen Vermögensverluste zurückzuführen sein, während insbesondere die US-amerikanischen Großbanken wieder in voller Blüte stehen.
Der extrem hohe negative Target-Saldo Italiens von über 400 Milliarden Euro beruht aber nicht nur auf Exortgeschäften. Wie sich im Zuge der Diskussionen um die Regulierungsbildung in Italien gezeigt hat, kommt es auch zu einer Kapitalflucht in den Norden, weil dort die Euro-Guthaben bei einem Austritt Italiens aus der Währungsunion sicher wären. Davon profitieren Anleger, Immobilienbesitzer und der Staat in Deutschland – auch diese neue Blase ist dann eine Folge der Konstruktionsfehler des Euro und der Nullzinspolitik der EZB. Für letzteres hat EZB-Chef Mario Draghi übrigens kaum eine stichhaltige Begründung mehr, nachdem die Inflationsrate im Euro-Raum zuletzt auf 1,9 Prozent gestiegen ist und die EZB selbst für dieses und das nächste Jahr jeweils 1,7 Prozent erwartet – außer man vergegenwärtigt sich, dass es eigentlich um die Stabilisierung maroder Banken und Staatshaushalte in den überschuldeten Südländern der Euro-Zone geht.
In diesem Kontext passt auch die angesichts der aktuellen Diskussionen um die Flüchtlingspolitik in der Öffentlichkeit in Deutschland kaum beachtete Nachricht, dass Griechenland nach der Auszahlung der letzten Rate von 15 Mrd. Euro zum Aufbau eines finanziellen Puffers den Rettungsschirm ESM verlassen und in Zukunft eigenständig am Kapitalmarkt operieren wird. Dieser Exit veranlasste Bundesfinanzminister Scholz u.a. zu der Anmerkung, Deutschland gebe „unsere Kraft, unseren guten Namen und noch lange nicht unser Geld“ zur Stabilisierung des kriselnden Landes. In fast allen Medien wurden zudem kritiklos über die Zinsgewinne des Bundeshaushalts in Höhe von 3 Mrd. Euro aus den (tatsächlich mit eigenem Geld stabilisierten) Griechenlandanleihen schwadroniert. Niemand will anscheinend verstehen, dass die vereinbarten Schuldenerleichterungen faktisch ein weiteres Hilfsprogramm mit hohen impliziten Finanzhilfen bedeuten. So soll die Schuldenrückzahlung aus dem zweiten Hilfsprogramm erst 2033 beginnen und damit zehn Jahre später als geplant; zudem erhält Griechenland die Zinsgewinne der von der Europäischen Zentralbank angekauften Anleihen. Völlig fraglich ist darüber hinaus, ob und wie sich Griechenland in Zukunft am Kapitalmarkt tatsächlich refinanzieren können wird.
Das Problem Griechenland erscheint aber verglichen mit einer eventuellen krisenhaften Zuspitzung in Italien und den geplanten strukturellen Weichenstellungen für die Währungsunion vergleichsweise harmlos. Sorge bereitet vor allem, dass die Bundeskanzlerin offensichtlich bereit ist, in ihrer aktuell angeschlagenen Verfassung dem französischen Präsidenten weitreichende Zugeständnisse zu machen. Die Zustimmung zu einem Euro-Budget mit diffusen Verwendungszwecken und ohne klare Governance sowie das eigene Plädoyer für die Weiterentwicklung des ESM zu einem Europäischen Währungsfonds und die Vollendung der Bankenunion nähren die Befürchtungen, dass der Zug in Richtung Haftungs- und Transferunion leider abgefahren ist. 70 Jahre nach der Einführung der D-Mark ist damit auch Ludwig Erhards und Walter Euckens Erbe endgültig abgeschrieben und vergessen – allen Sonntagsreden zum Trotz. Ohne eine stabilitätsorientierte Geldpolitik und die Durchsetzung adäquater Haftungsregeln werden Milliardenlasten auf die nachrückenden Jahrgänge abgewälzt und die ohnehin wenig nachhaltige Generationenbilanz der deutschen Politik weiter unterminiert.
Professor Dr. Alexander Eisenkopf, ZEPPELIN-Lehrstuhl für Wirtschafts- und Verkehrspolitik