Hatten Sie gestern auch Gänsehaut beim Abspielen der Nationalhymne? Also bei der mexikanischen? Waren Sie auch für den Moment ein Mescalero, jedenfalls, wenn es darum ging eine klammheimliche Freude einzugestehen über den Sieg der El Tri, die anschließend von sich behaupteten, sie hätten das Spiel ihres Lebens abgeliefert?
Lachte die Fußballwelt gerade noch über ein ausschweifendes Fiestagate der mexikanischen Nationalspieler im Vorfeld der WM, verloren die braven Jungs von Jogi Löw ihr Auftaktmatch nicht etwa glücklos, sondern über weite Strecken planlos.
Unter anderem die Morgenpost weidete sich im Vorfeld des deutschen Auftaktspiels noch ausgiebig an allem, was mexikanischen Fußball so schlecht macht, sprach über eine fettleibige Bevölkerung einer der „unsportlichsten Nationen der Welt“. Mexikos größtes Problem seien zuckerhaltige Getränke. Was nun allerdings auch nicht zu einem weiteren Problem der mexikanischen Mannschaft werden sollte, war der viel gerühmte Teamgeist der deutschen Elf.
Aber nicht nur der fehlte auf dem Platz, noch offensichtlicher war die Abwesenheit irgendeines Erfolgshungers. Die satten deutschen Weltmeister waren noch auf der Suche nach einem irgendwie gearteten Wohlfühl-Ambiente. Dabei könnte man denken, dass mit Spanien ein weiterer Favorit viel größere Probleme hat als Deutschland, aber die Spanier begeisterten trotz kurzfristigem Trainerwechsel vor Beginn der WM mit einem endspielwürdigen Spiel gegen Portugal, das unentschieden ausging.
Selbst Mannschaften wie Nigeria, die ihr Auftaktspiel zwar verloren, begeisterten mit gutem Fußball. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nannte vor dem Spiel der Deutschen die Pfiffe gegen Özil und Gündogan eine „Höchststrafe“, die zu „empfindlichen Störungen“ geführt hätte. Michael Ballack denglischte während des Spiels gegen Mexiko per Twitter mit fünf Ausrufezeichen: „The balance in the team is not right!! No team spirit, hunger or enough Desire! Löw ist gefordert !!!!!“ Und Ex-BVB-Profi Barbaresz Sergej brachte es noch deutlicher auf den Punkt, als der twitterte: „ZUviele gute spieler , bilden IMMER noch keine gute mannschaft.“ Gavin Karlmeier von Radio 1LIVE spottete: „Gleich Autokorso, aber rückwärts.“
Was ist los mit der deutschen Nationalmannschaft, die dank Angela Merkel nur noch „Die Mannschaft“ heißt? Auf Merkel jedenfalls soll es laut Bild-Zeitung zurückzuführen sein, dass die Mannschaft ihre Nationalität verloren hat, so wie „Das Auto“ seinen Volkswagen-Bezug. Die Bundeskanzlerin soll in Rio in der Kabine den WM-Sieg von 2014 mitgefeiert und zwischen den schwitzenden Nationalspielern nur noch von „Der Mannschaft“ gesprochen haben. DFB-Manager Bierhoff hatte aufmerksam hingehört und der DFB also Folge geleistet und sich u.a. auf Frankreich berufen, die ja auch „nur“ „La Mannschaft“ sagen würden. Und auch im arabischen Raum hieße es „El Mannschaft“.
Von so einen Erdbeben ist Deutschland weit entfernt. Nationaltrainer Jogi Löw erklärte lapidar: „Ich bin enttäuscht“. Für ihn hätte die Niederlage sogar noch größer ausfallen können. Allerdings fügte er auch an: „Der Start hat nicht geklappt, ich bin aber überzeugt, dass wir eine Reaktion zeigen können.“
Aber an welcher Stelle haben die Seismografen des DFB und seiner Entourage versagt? Warum hapert es an der von beispielweise Michael Ballack attestierten fehlenden Balance? Verordnen jedenfalls lässt sich so ein Feintuning nicht. Positive Gefühle schon gar nicht. Und wer ernsthaft bezweifelt, dass es diese Achse der Begeisterung vom zwölften Mann hinüber zur Elf wirklich gibt, versteht nichts von Fußball. Besagter Zwölfter allerdings hatte im Vorfeld bei den letzten beiden Testspielen mit anhaltenden Pfiffen überdeutlich gemacht, was zu ändern ist. Der Kommentar des DFB dazu war so läppisch wie ungenügend, als sich ausgerechnet Herr Bierhoff gegenüber der Presse empörte: „Ihr beendet es doch nicht. Ihr bringt es doch jeden Tag wieder, weil ihr keine Themen habt.“ Löw sprach von „zwei Herzen in der Brust“ und der der DFB mahnte: „Wir müssen das Maß wahren.“
Dieses „Wir“ allerdings ist nicht das kleinste Problem. Es muss etwas Verbindendes geben. Es gibt im Fußball keine Hierarchien, die etwa den DFB autorisieren, dem zwölften Mann irgendetwas zu verordnen. Nun ist der DFB längst nicht mehr der einzige Souffleur in dieser dissonanten Kakophonie, die den Fans in den Ohren hängt. Der deutsche Fußball wird schon seit Jahren politisch aufgeladen, er soll Integrationswerkzeug sein, er soll Identifikationsmodell sein, aber bitte nicht zu sehr. Und schwarz-rot-gold nur als Folklore, um Gotteswillen nicht mit einem irgendwie geratenen Bekenntnischarakter. Er darf Kitt sein, aber kein Superkleber in den eingezäunten mit Merkel-Pollern umstellten Public Viewings. Jeder soll ins Fußballstadion, aber bitte keine Pyrotechnik und keine AfDler.
Das „Wir“ liegt geknebelt und gewindelt in der Wiege, über die sich im Falle des Sieges dann wohlwollend Mutti beugt und die heilige Raute schlägt und dem Volk huldvoll erklärt: „Wir und die wir, die schon länger hier leben, sind Weltmeister!“ Fragt sich nur, was wird, wenn „Wir“ verlieren. Denn Verlieren bleibt die Kür des „Wir“-Gefühls: Erst in der Niederlage wird die wahre Qualität dieses „Wir“ erkennbar. Oder eben: Verdammt zu siegen.