Die politische Tektonik in Europa ist in Bewegung geraten. Bewegungen statt Parteien bestimmen in Zukunft Wahlen. Aus Angst vor der Bewegung der Welt lassen sich Wähler von Stimmungen bewegen, setzen auf charismatische Figuren – so vorhanden. Das ist auch eine Reaktion auf den Vertrauensverlust in das politische Establishment und den Niedergang der demokratischen Diskurse in Parlamenten und Parteien.
I.
Symptom 1: Die alte Tante SPD kann nicht mehr. Das Vertrauen in die gerade frisch gewählte Vorsitzende Nahles ist ernüchternd. Nur drei Prozent der Befragten halten sie „auf jeden Fall“, nur weitere 17 Prozent der Befragten für „eher“ die Richtige. Selbst unter SPD-Wählern ist es nur nur gutes Drittel, das auf sie setzt (Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov).
II.
Symptom 2: Nein, eine linke „Volkspartei“ wolle sie ganz sicher nicht gründen, beteuert Sahra Wagenknecht. Ihre Gegner im eigenen Lager kapieren nicht, dass der Begriff Volkspartei diskreditiert ist. Mit ihm ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Wagenknecht weiß das natürlich.
III.
Was sie im September gründen will, ist eine „Bewegung“. Einer Bewegung dürfen sich alle anschließen, auch die Mitglieder anderer, ja, aller anderen Parteien. Das ist der Unterschied. So wirkt die Bewegung allein schon über ihre Präsenz und über die Stimmung, die sie erzeugt, in alle Parteien ein, so lange, bis die Bewegung selbst zu Wahlen antritt. Klar, dass Lafontaine / Wagenknecht beteuern, dies sei nicht ihre Absicht. Glauben muss man das nicht. Ist ja kein Zufall, dass die neue Bewegung ein Dreivierteljahr vor der Europawahl aus der Taufe gehoben wird.
IV.
Deutschlands europäische Partnerländer – von Frankreichs Macron über Österreichs Kurz bis Italiens movimento cinque stelle – sind weiter. In Deutschland hat Wagenknecht den Diskurs über die Zukunft der Parteiendemokratie eröffnet. Keine Bewegung ohne eine Figur an der Spitze, die nicht über das eigene Lager hinaus strahlt. Das ist bei Sahra Wagenknecht der Fall. Ihre persönliche Ausstrahlung übertrifft die ihrer Partei bei weitem. Sahra Wagenknecht ist weniger eine radikale als eine radikal unabhängige Politikerin. Schon das macht sie zur Rarität in der überwiegend konsenssüchtigen politischen Klasse.
V.
Längst ist sie nicht mehr die Propagandistin der kommunistischen Plattform. Sie stellt sich als Erbin Ludwig Erhards dar und propagiert einen reformierten Kapitalismus durch mehr Wettbewerb und funktionierende Märkte. Zugleich gewinnt sie Sympathien im bürgerlichen, liberal-konservativen Lager. Die Sympathie, die sie dort erntet, ist Ausdruck des Missvergnügens am Zustand der politischen Kultur dieses Landes. Ihre persönliche „Marke“ ist wie geschaffen für eine „Bewegung“ als Sehnsucht, das alte verbrauchte Funktionärstum loszuwerden. Sie bewegt sich instinktsicher zwischen Popularität und Populismus.
VI.
Was bisher über die Linie dieser Bewegung zu erfahren ist, ist mit der alten links-rechts-Dimension nicht zufassen. Klar: Reichensteuern, Regulierung der Wirtschaft lockt links Respekt vor Tradition und Identität und ein Nein zu ungezügelter Zuwanderung wirbt rechts. Aber täuschen wir uns nicht. Die Deutschen sind weltanschaulich nicht gefestigt genug, nicht freiheitsliebend genug, nicht liberal genug, um sich von Angst vor neuem Sozialismus schrecken zu lassen.
VII.
Merkel hat ihre Partei bis zur Unkenntlichkeit entkernt. Die CDU besteht nur noch aus ihr. Das ist zum Beispiel daran zu merken, dass ihr unseliger Befehl, an den Grenzen niemanden abzuweisen, der das Zauberwort „Asyl“ spricht, bis heute nicht zurückgenommen worden ist, auch von Seehofer nicht. Der Mann hat nichts in der Hose. Da Merkel selbst keinen Kern besitzt, abgesehen von ihrer Unbelehrbarkeit, sie ist die Unbeweglichste von allen, auch wenn sie das Land nachhaltig bewegt hat. Doch ihre Anhänger verhalten sich bei Wahlen noch immer so, als sei Merkel keine Parteichefin sondern die Chefin Deutschlands. Führerin wir folgen dir, wir wissen zwar nicht mehr weshalb und wohin, aber wir tun es. Doch, wohin wissen wir: Bewegung am Ort nennen wir Strudel. Er zieht alles hinab auf den Grund.
VIII.
Die vom Wandel der Welt Verunsicherten und Bewegten setzen lieber auf die Autorität von Personen als auf rationale Diskurse. Sie folgen lieber Stimmungen statt Programmen. Davon hat auch Merkel so lange profitiert, bis sie die Grenzen zerstörte, und damit auch das Mantra ihrer Macht, das doch lautet: Alles unter Kontrolle.
Autorität verspricht mehr Sicherheit. Das ist die Kehrseite der Krise der westlichen Demokratien. Ihr höchster Wert, die Autonomie des Individuums droht unter die Räder zu kommen. Die Sehnsucht nach starken Staaten enthält eine gefährliche Ambivalenz. Wir brauchen weder einen grünen Bevormundungsstaat noch einen Polizeistaat, in dem Sicherheit alles ist. Freisein heißt: beweglich bleiben.