Der Regierende Bürgermeister bekommt zu spüren, dass auch Windschnittige, die schon vorab für die eigene Wiederwahl sorgen (er einigte sich mit innerparteilichen Kontrahenten darauf, am 2. Juni in den Vorstandswahlen ohne Gegenkandidaten auftreten zu können) in der „Schlangengrube SPD“ (Hannelore Kraft 2014) Gefahr laufen, gebissen zu werden.
Die eigenen Parteifreunde machen ihrem Unmut über die von ihm fortgeführte Politik des Berliner Laissez-Faire Luft, wie die Berliner Zeitung berichtet. Nachdem sich der ehemalige Chef der Staatskanzlei, Björn Böhning, ins Bundesministerium für Arbeit und Soziales verabschiedet hat, geht er mit sechs bekannten Berliner SPD-Mitglieder(innen) mit einem „Zukunftspapier“ an die Öffentlichkeit. Das neueste Umfragebarometer kann Müller und Genossen nicht freuen: 18 Prozent.
Zuwanderungskritik nun auch aus der Berliner SPD ?
Bemerkenswert ist die Offenheit, mit der diese vorerst wenig glorreichen Sieben (die Berichterstattung in den Medien war verhalten) stellenweise ganz ohne Parteisprech, die tiefsitzenden Probleme der Hauptstadt samt Ursachen nennen. Unter der Überschrift : „Das Heft des Handelns“ heißt es, dass sich „viele Eltern Sorgen um die Qualität der Schulen ihrer Kinder machten, und man den Mut haben müsse, ehrlich zu sagen, was in Berlin los sei“, ohne das „Kleinklein einer tristen Verwaltungslogik oder …blumige Worthülsen“. Es sei Klaus Wowereit zu verdanken, dass Berlin sich zur Welt geöffnet habe. ABER : „der „frische Wind“ habe eine Dynamik entfacht, die Berlin stark verändert habe. Lange sei diese Veränderung fast wie ein Selbstzweck bejubelt und gefeiert … und zu spät erkannt worden, daß …der Zuzug von Hunderttausenden UND der Rückzug des Staates… eine zunehmend polarisierte Stadt hinterlassen habe.“
„Unsicherheit, Verrohung und Verwahrlosung in der Stadt müsse der Kampf angesagt werden.“
„Viele Menschen hätten ihre materielle Sicherheit verloren…. Und zugleich erlebten sie, wie der Ton von Leuten bestimmt werde, mit deren Lebensstil ihre Wirklichkeit nichts zu tun habe.“ „.. die Berliner müssten endlich erfahren, wohin die SPD mit der Stadt wolle. Wie das Berlin aussehe, von dem die Sozialdemokratie träume…“ „Eine Stadt, die sich nicht nur aus ihrer hippen Mitte heraus definiere, denn …es seien die Menschen mit den eher durchschnittlichen Einkommen, die Berlin Tag für Tag am Laufen hielten…es sei nicht spießig, für saubere Straßen, Plätze und Parks einzutreten.“
„Damit sich auch die sicher fühlen könnten, …die sich kein Haus mit Zaun und Alarmanlage oder ein Taxi leisten könnten..“
In dieses Horn glauben auch, wie die Morgenpost berichtet, die Berliner Grünen stoßen zu müssen, die angesichts riesiger Müllhalden nun nach größeren Abfalltonnen rufen: Außerdem seien nicht die Berliner schmutziger, sondern die Verpackungen umfangreichern geworden. „… Sperrmüll auf Straßen und Gehwegen oder Spritzen auf dem Spielplatz seien eine „Enteignung des öffentlichen Raums, die die Grünen „ so nicht hinnehmen könnten“, so deren Vorsitzender Werner Graf. Allerdings zeugt deren Vorschlag, vermehrt auf die Parkreinigung durch die Berliner Stadtreinigung BSR zuzugreifen, nicht eben von hippem, vielfältigem Einfallsreichtum.
Nix können, das aber vielfältig
Alltagsheld kauft den Grünen mal locker den Schneid ab: Politikerschnauze zieht immer weniger, Stefan von Orlow macht mit seinem in der BZ kommentierten Aufruf zum „Aufheber“ zu werden, den kompletten Offenbarungseid dieser Stadt in Sachen Verantwortung mit Händen greifbar. Eine Stadt, die sich aus ihrer hippen Mitte heraus definiert, kann nix, aber das vielfältig.
Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich gänzlich ungeniert, also beweihräuchert man sich weiter aus dem Rathaus heraus in vielfacher Weise: Mit der be Berlin Hauptstadtkampagne rücke man „die besondere Vielfalt Berlins in den Fokus“. Diese gründe sich, und da schließt sich gleich die nächste Aktion „Freiheit Berlin“ an, wie auch das „Miteinander, das Kunterbunte, das Kreative, das Verrückte” auf dem großen Wert der Freiheit. Auch das „Normale“ vergisst man nicht zu erwähnen, es fuße ebenso auf der Freiheit.
Vier von fünf Berlinerinnen und Berlinern assoziierten ihre Stadt mit Freiheit. Diese vier oder fünf normalen Bürger hätten wahrscheinlich auch andere Assoziationen parat gehabt, die aber den Werbefachleuten sicher nicht so gut in ihre Kampa gepasst hätten.
Viele Prominente hätten sich mit ihren individuellen Freiheitsbekenntnissen und -geschichten angeschlossen, darunter Michael Michalsky, Mo Asumang, und Olivia Jones. „International stehe die deutsche Hauptstadt für Individualität, Weltoffenheit und Innovation.“, so be Berlin. Der Modemacher Michalsky, der sich grade eine 500-Quadratmeter-Villa in Berlin-Dahlem gekauft hat, assoziierte diese erstmal, wie die Süddeutsche zu berichten wusste, mit den Nazis und ließ sie „spirituell reinigen“, bevor er einzog.
Man setzt Freiheit mit Weltoffenheit, Vielfalt und Toleranz gleich und formuliert kesse Sprüche wie „Berlin kann Freiheit“. Freiheit bedeute: „jede Frage stellen zu dürfen“ und sei laut (eines der „Freiheitszitate“, die be Berlin im Stadtbild platziert) Rosa Luxemburg: „immer die Freiheit des Andersdenkenden“ – nur innerhalb der Linken, meinte das Luxemburg, was regelmäßig vergessen oder unterschlagen wird.
Freiheit mit Freizeit verwechselt
Mehr Freiheit ! Oder kann man sich etwa in Berlin zuviele Freiheiten herausnehmen? In der Möchtegerne-Metropole passiert genau das, was die glorlosen Sieben von der SPD anprangern: „der Ton wird von Leuten bestimmt, mit deren Lebensstil die Wirklichkeit der Berliner nichts zu tun hat.“
Zitat RgB Müller: „Offenheit und Toleranz leben Berlin und Brüssel jeden Tag aufs Neue.“ Aber seine Partnerstadt gibt z.B. Tipps, wie man Einbrüchen vorbeugt.
Paris versucht, Menschen zu motivieren, ihre Stadt sauber zu halten, und der Lord Mayor Londons hat eine Initiative „On Side Youth Zones“ für Jugendliche in London aus der Taufe gehoben, die „in fünf neuen Jugendzentren in Stadtteilen mit starker sozialer Benachteiligung Zuversicht in die Zukunft verbreiten soll“, indem dort jeden Abend „mindestens 20 Aktivitäten veranstaltet werden, die junge Leute weg von der Straße und raus aus ihren Betten kriegen soll“.
Blumiges Lob für eine besonders schillernde Vielfalt spart man sich. Alleine 2017 starben dort 80 Menschen bei Messerangriffen, wie der Guardian berichtete: Bei der Suche auf den Webseiten anderer Städte nach Vielfalt findet man eher Ergebnisse zur Biologischen und zur Offenheit „Öffnungszeiten“ – Zufall ?
Berlin, Deinem Bürgermeester kann det noch eejal sein: noch funktioniert die Stadt leidlich.
Die Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH komponiert seit 2008 die Begleitmusik für die Party, die Berlin immer noch glaubt, mit vollen Händen geben zu können. „be Berlin“ist bei vielen prominenten Veranstaltungen aktiv dabei. Ganz gleich, ob Berlinmarathon, Musik-Festival, Food-Market, Fashion Week, Science Slam oder Lichtfestival – überall heißt es: be Berlin – sei Berlin. Viele schöne Titel, keine einzige Veranstaltung, die über ein geselliges Zusammensein und die Kontemplation von Exponaten und Exponenten hinausgeht. Und das ist auch verständlich, zu mehr als einem gemeinsamen Ringelreihen bei Musik und Häppchen wäre eine völlig durchgevielfältigte Gesellschaft schon sprachlich kaum in der Lage. Wie bei jedem guten Stehempfang säuselt man sich mal ein internationales „Hi“ entgegen oder schweigt sich mit gefülltem Glase tunlichst an; Immer lächeln, lächeln….das ist der Kern des heutigen Berlin, und nirgendwo wird das so peinlich augenfällig wie in den Plakatslogans der gedungenen Image-Kampagnen seiner „spin-doctors“.
PR und Party
Reim Dich oder ich fress Dich, Hauptsache es klingt irgendwie cool, und „weil es halt geht“, wehrt sich keiner. Die Möchtegernmetropole stürzt sich verdurstend auf das einzige Motto, das man sich dort ohne Rot zu werden noch ans Revers pinnen kann: „Freiheit“ .
Unfreiwillig entlarvend : die reimlosen Sprüche der Berliner Eigenwerbung, keine Beständigkeit, kein Halt nirgends:
„sei Stadt sei Wandel sei Berlin“
„Selten Staunen und sich oft Wundern“ – „weil es geht in Berlin.“
Eine Aussage, die nicht nur viele Nutzer der bröselnden Berliner Infrastruktur sofort unterschreiben.
Selbsterklärend:
„In angesagten Stadtteilen wie Schöneberg, Kreuzberg oder Friedrichshain tanzen Graffiti an den Fassaden.“
“ Jeder ist ein Künstler“ – „weil es geht in Berlin.“ Opfer illegaler Graffitis sehen es kaum ebenso locker wie Joseph Beuys .
„Feiertage können wir nicht . Aber tagelang durchfeiern.“ Weil es geht in Berlin“.
Eine Ansammlung von Käffern, die zu einer Großstadt zwangsverheiratet wurden. Deren Verkehrsgesellschaft BVG der Kundschaft wie ein Zechbruder entgegenlallt: „Weil wir Dich lieben!“ Und die dann damit wirbt, dass nur in deren Fahrzeugen Betrunkene in friedlicher Eintracht neben dem grau melierten Poeten von nebenan Platz nähmen.
Denn nur dort träfe „dicht“ auf Dichter“.