Kann da etwas Gutes herauskommen, wenn sich vornehmlich vergleichsweise ältere Herren der Öffentlich-Rechtlichen ausgerechnet in einem Kloster in Klausur begeben um dort neue junge Formate zu entwickeln? Wir waren nicht dabei, aber es könnte so gewesen sein: „Lasst uns doch mal was Verrücktes machen. Irgendwas so youtube-mäßiges für die Generation Y.“ Schließlich besteht der Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen auch darin, alle Bevölkerungsgruppen mit Information, Bildung und Unterhaltung zu erreichen. Der Altersdurchschnitt der Zuschauer des Ersten und des ZDF liegt allerdings im Moment bei knapp über 60 Jahren. Rentner-TV also.
Und weil die, die sich da im Kloster treffen, per Zwangsgebühren Millionen bewegen können, lassen sie sich ihre Bemühungen um „Inhalte für 14-29-Jährige“ etwas kosten. Eingebettet in ein modern klingendes „Content-Netzwerk“ namens „Funk“ legten sie 2016 satte 45 Millionen in eine Kriegskasse für ein Jugendnetzwerk, der die WELT allerdings später eine „traurige Bilanz“ bescheinigte. Über dieses Konglomerat aus mittlerweile rund 60 verschiedenen Video- und Audioformaten, die ARD und ZDF über Youtube und Facebook verbreiten, schreibt die Zeitung im September 2017, ein Video über eine 91-jährige Turnerin, das die Tagesschau gepostete hatte, hätte mehr Zuschauer erreicht, als alle bisherigen Funk-Videos zusammen.
Folge drei von Rabiat lief nun am Montag um 22:45 Uhr mit dem Titel „Türken, entscheidet Euch!“ Und gleich vorweg gesagt, was „Rabiat-Reporterin“ Gülseren Ölcüm da in einer Art Selbsterfahrungstripp quer durch die türkische Community in Deutschland und bis hinüber in die Türkei abgeliefert hat, ist ein echter Glücksfall, den man von dieser Klostergeburt nicht hätte erwarten dürfen: Authentisch, ehrlich und mit einer interessanten Auswahl an Gesprächspartnern.
Gülseren Ölcüms Gegenüber sind allesamt Deutsch-Türken oder Türken. Irgendwelche Betroffenheitspolitiker einheimischer Herkunft kommen nicht vor. Und das ist ein echter Gewinn. Keine Claudia Roth und kein Heiko Maas, der etwa den kleinen Wulff gibt, wenn er medienheischend bekundet: „Zuwanderer gehören zu Deutschland.“ Erdogan, Integration, Multikulti aus Sicht jener Menschen, die es am intensivsten betrifft: Deutsch-Türken eben. Ein intimer Einblick, der auch mal bis an die Schmerzgrenze geht, wenn Ölcüm mit sich hadert, warum ausgerechnet sie ins Risiko geht, Erdogan öffentlich zu diskutieren, wenn ihr Gesprächspartner reihenweise absagen, offensichtlich aus Angst. „Mittlerweile verfluche ich echt den Tag, wo ich dieses Thema angeboten habe.“, sagt Ölcüm einmal in die Kamera.
Diese Angst war bisher allenfalls zu erahnen, hier wird sie konkret greifbar vorgeführt. Auch das eine Stärke des Films. Am Ende bleiben Gespräche mit türkischstämmigen Menschen in Deutschland, mit einem Boxer, einer Erdogan-Anhängerin mit Fernsehkanal, einem Politikwissenschaftler, der Familie Ölcüms, einer Musikerin, einer Beauty-Youtuberin, einer Integrationsbeauftragten und einem Filmemacher mit Großmutter. Ölcüm diskutiert mit ihnen, warum die Debatte innerhalb dieser türkisch-stämmigen Gemeinschaft um Erdogan immer schärfer wird.
Orte als stumme Augenzeugen dieser Geschichten werden besucht: Die Fabrik, wo der Großvater in den 1960er Jahren gearbeitet hat, der karge Mönchengladbacher Spielplatz, wo die Kinder von der türkischen Mutter betreut wurden, die auch nach 50 Jahren in Deutschland kaum deutsch spricht.
Ölcüm besucht die Youtuberin Nihan Sen zu Hause. „Ich bin nicht deutsch, zumindest nicht zu hundert Prozent, aber ich bin auch deutsch. Ganz türkisch bin ich aber auch nicht: Also was bin ich eigentlich?“, fragt Sen. Man müsste auch akzeptieren, dass es ein anderes „deutsch sein“ gibt. Ist das die Antwort auf die Aufforderungen an diese Gruppe, sich endlich zu entscheiden? Der Film vermittelt aus intimer Perspektive heraus, dass das eben nicht geht, dass es aber dennoch eine starke Loyalität zu Deutschland gibt, als fester Teil der Identität.
„Hast Du eine Identitätskrise?“, fragt Ölcüm? „Natürlich, Du nicht?“, fragt Sen zurück. „Ich fühle mich manchmal so alleine damit.“, antwortet Ölcüm. Darüber könnte man jetzt aus rein deutscher Perspektive sicherlich einiges sagen. Aber deshalb bleibt nicht weniger authentisch, was die beiden jungen Frauen da miteinander besprechen. „Ich glaube wir sind so ein Hybrid oder so, irgendwie so was Neues.“, sagt Ölcüm zum Schluss dieses Gesprächs.
Ölcüm im Gym von Profiboxer Ünsal Arik. Der hat sich gerade etliche Feinde gemacht mit seiner Haltung gegen Erdogan. Täglich kommen dutzende Mails mit rüden Beschimpfungen. Aber, wie er sagt, auch ebenso viele Mails, die ihm danken, dass er anspricht, was sich andere nicht trauen, öffentlich zu sagen, „weil sie ihre Familie schützen wollen, weil sie Angst haben in die Türkei zu reisen usw.“
Diese Angst ist greifbar im Film. „Erdogans Arm ist verdammt lang.“, wird Arik später noch sagen. Ja, das sind tolle Aufnahmen, wenn Ölcüm dem völlig verschwitzten Arik die Tapes der Boxhandschuhe löst, während sie in interviewt. „Ich will auch unseren deutschen Freunden – wir leben schon seit über 60 Jahren hier – zeigen, nicht jeder Türke ist ein kleiner Unterstützer von der türkischen Regierung.“, sagt der Boxer.
Auch mit der Erdogan-Verteidigerin Esma Akkus spricht Ölcüm. Die beiden reden zwar freundlich miteinander, finden aber keinen Konsens. Erstaunlich hier, wie sich Akkus über den öffentlich-rechtlichen Mainstream in Deutschland aufregt, aber eben aus einer ganz anderen Perspektive, als es deutsche Medien-Kritiker sonst tun. „Mittlerweile fühle ich mich gezwungen, die Partei des Präsidenten Erdogan vehement zu verteidigen. Ich komme gar nicht mehr dazu, irgendetwas zu hinterfragen oder zu kritisieren.“, sagt Akkus.
Ölcüm fragt, sie bekommt Antworten. Sie schafft es, in einem so persönlich auf ihre eigene Situation zugeschnitten Format, nichts zu bewerten, das überlässt sie dem Zuschauer. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist das nicht selbstverständlich. Nein, was hier zu sehen ist, ist kein Belehrfernsehen.
Ölcüm spricht auch mit Serap Güler (CDU), Staatssekretärin für Integration in NRW. Was in diesem Gespräch auffällt, ist die Diskrepanz zu anderen öffentlichen Auftritten: Mit Ölcüm ist auch Güler viel entspannter, offener. „Die aktuellen politische Debatten führen dazu, dass man sich wieder die Frage stellt: Wo gehöre ich eigentlich hin? Das ist ja eigentlich das Fatale an diesen Diskussionen“, beschreibt Güler, was mit den Deutsch-Türken passiert ist, seit Erdogan der starke Mann am Bosporus ist.
Gut, das mag die eine Seite sein, wenn man echte Erfolgsgeschichten herausstellen will. Aber auf der nicht erzählten Seite steht eben auch eine Meldung des Statistischen Bundesamts, dass 48 Prozent der Türken, die in Deutschland leben, so genannte „Nichterwerbspersonen“ sind. „Die große Mehrheit der Inaktiven aber ist schlicht nicht an einem Job interessiert”, kommentiert dazu das Magazin Focus.
Gülseren Ölcüm sieht sich selbst als „ziemlich offener Mensch“, hat aber heute in der türkischen Community das Gefühl, dass immer weniger so sind. Das ist ein Alarmsignal, weil es bedeuten kann, dass sich Integration in der Rückwärtsbewegung befindet. Nun ist der Fokus dieser Sendung auf die angespannte Lage seit Erdogan gerichtet. Wünschenswert wäre hier eine Fortsetzung, wo Ölcüm einmal die Haltung der Deutsch-Türken gegenüber der Zuwanderung thematisiert. Also auch die Frage anschneidet, wie hier Muslime auf Muslime schauen, wie viel Chancen hier einer Integration gegeben wird, von Menschen, die diese Integrationsanstrengungen aus eigenem Erleben kennen.
Am Ende geht es noch einmal zurück an den Boxring zu Ünsal Arik. Direkt darauf angesprochen, würde er sich für die türkische Staatsbürgerschaft entscheiden. Aber er steht eher auf dem Standpunkt: „Du bist doch der Mensch, der du bist, egal, welches Papier du besitzt.“ Dann grinst er und sagt: „Wenn man taktisch clever denkt, behält man die deutsche (Staatsbürgerschaft), weil man für nichts ein Visum braucht. Mit dem türkischen Ausweis kann man nicht einmal nach Amerika einreisen.“
Den Öffentlich-Rechtlichen ist mit dem Format „Rabiat“ etwas Besonderes gelungen. Aber es lag weniger an den Bemühungen dieser Sendeanstalten, als viel mehr an einer sympathischen Gülseren Ölcüm und diesem Ausnahmetalent, auf die Leute zuzugehen und locker über ein wichtiges Thema zu sprechen, ohne dabei den ernsten Hintergrund aus dem Auge zu verlieren und spannende Einblicke in eine sonst dem deutschstämmigen Zuschauer verschlossene Welt zu geben.
Nein, man muss nicht mit jedem Standpunkt einverstanden sein, das wäre sogar mehr als merkwürdig, denn vieles hat ja aufgeregt. Aber hier wurde es vor einem Millionenpublikum in aller Offenheit besprochen. Eine wichtige, eine gute Sendung. Eine, die aktuell noch in der Mediathek und auf Youtube nachzuschauen ist.