Ganz sicher gibt es den eintausend und einen völlig unverdächtigen Grund, warum ich heute ausnahmsweise Illner schauen und aufschreiben soll. Einer ist aber definitiv falsch, ich bin kein harter Hund. Ich bin schon 53 Jahre alt. Und die vergangenen zwanzig Jahre sind in der rückblickend obszönen Geschwindigkeit ihres Vergehens Beweis genug, dass auch die kommenden zwanzig Jahre viel zu schnell vorbei gehen werden. Neulich auf dem Hundespaziergang sprach ich darüber mit einem, der es schon hinter sich hat. Der 73-Jährige hatte eine gute Erklärung parat, die mir so plausibel erschien, dass ich fast enttäuscht war, nicht längst darauf gekommen zu sein: Die Zeit vergeht schneller, weil der prozentuale Anteil eines Zeitraumes an der Gesamtlebenszeit mit jedem Tag, mit jeder Sekunde sogar, schwindet.
Ist das nicht toll erklärt? Wenn sie also 40 Jahre alt sind, dann waren die vergangenen zwanzig Jahre die Hälfte Ihrer Lebenszeit. Wenn Sie 60 Jahre alt sind, waren die vergangenen zwanzig Jahre nur noch ein Drittel ihres Lebens. Die Zeit geht also nicht nur gefühlt schneller herum, das Erlebte in dieser Zeit muss mit einer wachsenden Übermacht des Erlebten zuvor in Konkurrenz treten. Eine Zeitmaschine ins Altenheim?
Also bin ich in zwanzig Jahren, die sich wie viel weniger Jahre anfühlen werden, wenn alles gut geht, 74 Jahre alt. Und dann könnte er an die Tür klopfen: der Ernstfall, der Pflegefall. Und dieser Fall der Fälle wird nun in einem 75-minütigen „maybrit illner spezial“ diskutiert unter der Headline: „Ist die Pflege noch zu retten?“ Wie gruselig, oder? Sie kennen das: Auf den Straßen sind immer mehr dieser privaten weißen Pflegedienstkleinwagen mit den infantilen bunten Aufdrucken unterwegs, gefahren meist von mittelalten Damen, aus der Ferne so charmant, wie das Fräulein Rottenmeier aus Heidi, im schlimmsten Falle sogar im Doppelpack. Und die verschwinden dann hinter Haustüren, hinter denen Ihr Nachbar verschwand, dem die letzten zwanzig Jahre auch viel zu schnell durch die Lappen gingen.
Die im Schatten muss man nicht sehen
Gerade noch ein paar blitzschnelle letzte Gedanken an Pflegeversicherung, an Asylbewerber, welche nun bald diese seltsamen Rottenmeiers ablösen sollen, wenn die selbst Pflegefälle geworden sind und schon ist wieder eine Stunde vorbei, Klaus Kleber hat ans Wetter weitergereicht, und Illner kommt. Zu Gast sind der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Katja Kipping, die Bundesvorsitzende der Linkspartei. Nur die beiden. Den Rest erledigen betroffene Zuschauer. Sie stellen heute die Fragen.
Illner eröffnet mit einer Erkenntnis, die ungefähr so geht: Wenn in Kitas los wäre, was in Altenheimen los ist, dann würden längst alle auf die Barrikaden gehen, „dann wäre der Teufel los“.
Erste Fragestellerin ist Bettina Michel, die Tochter von Ex-Schalke Manager Rudi Asssauer. Der arme Kerl hat schon seit Jahren Alzheimer und wird liebevoll zu Hause gepflegt. Jens Spahn würde seinen Beruf nicht aufgeben wollen, aber er würde jede freie Minute für die Eltern reservieren, wenn die erkranken. Aber, meint er, man müsse darüber sprechen, bevor die Situation eingetreten ist. „Zwei Drittel der Pflegefälle werden zu Hause gepflegt“, wenn das auf einmal nicht mehr so wäre, würde die Pflegeversicherung komplett zusammenbrechen, weiß der 38-Jährige. Katja Kipping ist fast gleich alt.
Kornelia Schmidt ist 58 Jahre alt (also plus zwanzig) und pflegt ihren an multipler Sklerose erkrankten Ehemann seit mittlerweile 25 Jahren. Eingespielt werden Bilder aus dem Garten der Familie, der Erkrankte im Rollstuhl, ein weißer Pudel springt fröhlich herum. Ihren Beruf gab die Ehefrau 2014 auf, um ganz für ihren Mann da zu sein. Aber auch, um die Bürokratie zu bewältigen rund um die Pflege ihres Mannes. Formular um Formular, Ordner um Ordner füllt sich, Hilfe gibt es keine, wenn es um das – neben der tiefen Zuneigung zum Erkrankten – vielleicht Wichtigste geht: die finanzielle Absicherung dieser herausragenden Pflegeleistung. „Abgelehnte Leistungen, Kämpfe mir der Kasse, Widersprüche im System. Dabei sparen pflegende Angehörige dem Staat sehr viel Geld.“ Kornelia Schmidt hatte irgendwann die Nase voll und gründete den Verein „Pflegende Angehörige“. Ihre Forderung: „Mehr Respekt und Hilfe.“
Die wissen, wovon sie sprechen
„Die Dinge werden bewusst verkompliziert“, weiß Frau Schmidt. Jens Spahn kann das so natürlich nicht stehen lassen, er weiß um Verbesserungen, weiß aber auch, dass die vielen Bausteine des Guten möglicherweise quantitativ zu viel des Guten geworden sind. „Der Überblick geht verloren.“ Frau Schmidt hat aber noch mehr auf der Pfanne für Herrn Spahn. Sie weiß, wie es besser und billiger wird und hat das mal für den Minister in einer Website zusammengefasst. Einsparungen? Da freut sich der Minister und will gerne schauen und sich zusammensetzen. Können Sie übrigens auch, hier.
Katja Kippings letzte zwanzig Jahre sind die Hälfte ihres Lebens, die kommenden zwanzig werden nur noch ein Drittel sein, die Zeit rennt ihr also davon, so wie jedem anderen auch. „Der Beruf der Altenpflege muss attraktiver werden: Bessere Bezahlung, weniger Stress.“, so das Rezept der Linken. Und sie bringt die Lohnersatzleistung ins Spiel wie bei der Kindererziehung in den ersten Jahren, so etwas könnte man doch auch für die Altenpflege einführen. Bei Babys wäre das allerdings besser planbar, weiß Spahn. Niemand wüsste doch heute, wann er morgen Pflegefall würde. Na gut, dass zumindest jeder älter wird, weiß auch ein Minister, der erreicht hat, wofür sonstige Bundesminister viel länger gebraucht haben. Die zweite Hälfte seines Lebens also optimal ausgefüllt.
Die Pflegeversicherung hatte vor fünf Jahren noch einen Jahresumfang von 24 Milliarden Euro. Heute werden bereits zwölf Milliarden mehr ausgegeben. Eine enorme Ausweitung, „die im Kern“, so Spahn, „das Ziel hatten, bei pflegenden Angehörigen zu helfen.“ Und, was wir anfügen wollen: Es steht zu befürchten, dass dieser Zuwachs nicht einmal linear berechnet werden kann. Spahn wehrt sich noch rasch gegen die Behauptung, es wäre in den letzten Jahren nichts passiert.
Ilse Biberti ist Zuschauergast Nummer drei: Sie hat ihre beiden Eltern zu Hause gepflegt. Aber sie hatte einen anderen Ansatz: „ich habe nie gesagt, ich ‚pflege’ meine Eltern. Sondern ich habe gesagt, ich lebe mit meinen Eltern und assistiere ihnen. Man sagt ja auch nicht, wenn man ein Baby wickelt, man würde es ‚pflegen’.“ Ihre Mutter hatte einen Schlaganfall, ihr Vater hat Alzheimer.
Nun sind drei pflegende Frauen zu Gast. Frauen, die sich jede für sich aufopfern. Aber gibt es eigentlich keine Söhne, die ihre Mutter oder Eltern pflegen? Doch, gibt es, aber bei den Herren ist es noch eher die Ehefrau oder Partnerin, die gepflegt wird. Gut, da hätte die Redaktion schon jemanden finden können. Andersherum wäre es auffälliger gewesen, aber das ist wieder ein anderes Thema.
Kipping und Spahn sind weit weg
Katja Kipping erinnert den einzigen Mann in der Runde an dessen Angriffslustigkeit, wenn es um Hartz4 geht; Herr Spahn müsse nun eben so angriffslustig sein, wenn es darum geht, für pflegende Angehörige eine Lohnersatzleistung durchzusetzen. „Und da müssen sie sich auch mit dem Finanzminister anlegen.“ Spahn lächelt, nickt zustimmend, sagt dann aber: „Ich habe lieber verlässliche Zusagen als haltlose Versprechen.“ Das ist die wahrscheinlich blumigste Umschreibung, zu sagen: Es gibt zwar weniger, aber das dann todsicher. Ob er sich in zwanzig Jahren noch an seine verlässlichen Zusagen erinnern wird? Vielleicht als Bundeskanzler, dann, wenn Frau Merkel längst in ein irgendeinem Nobelaltersheim beim Pralinen naschen von der Meissner Bonbonniere auf die vorbeifließende Spree schaut oder auf Kreidefelsen im Abendlicht?
Spahn muss theoretisch agieren, die drei Damen sind Praktikerinnen. Er ist der böse Politiker, die Damen sind die Heldinnen des Alltags, Pflegeexpertinnen. Zugegebenerweise keine einfache Rolle für Spahn, aber er stellt sich immerhin.
Ab geht’s ins Heim mit Maybrit Illner. Kein gutes, eines, wo misshandelt wird. Haus Dottendorf in Bonn und andere Horrorheime: Todesfälle, so genannte „gefährliche Pflege“. „Tausendfach und täglich wird die Würde der Pflegebedürftigen verletzt“, sagt der Einspieler. Nun ist auch ein männlicher Zuschauer da. Einer, dessen Mutter ins Heim kam. „Eine Pflegekraft für fünfzig Bewohner auf drei Etagen in einer kirchlichen Einrichtung in einer Zehn-Stundenschicht“, berichtet der Sohn. Unangenehme Fernsehmomente. Noch mehr, wenn es keine Lösungen für Schicksale gibt, die viele noch vor sich haben, die gerade so distanziert zuschauen, die heute noch mehr oder weniger neugierig auf ihre kommenden zwanzig Jahre blicken. Satt, sauber, trocken – oft ist nicht einmal das gewährleistet in den Heimen. Und da ist die nötige Zuneigung und Empathie noch in weiter Ferne.
Altenpfleger Martin Bollinger kommt dazu, die drei Damen wurden verabschiedet ins Publikum. Er weiß: „Die Pflegeschulen lehren etwas, dass mit der Realität nicht übereinstimmt.“ Für ihn Hauptgrund dafür, dass so viele irgendwann das Handtuch werfen würden. Eine fatale Desillusionierung wie in kaum einem Lehrberufszweig sonst. Hinzu käme noch die „Papierpflege“, was ursprünglich nur Arbeit belegen und kontrollieren sollte, wurde zum Mühlstein der Zeit. Der Arbeitszeit.
Pflegefeind Bürokratie
Bollinger wünscht den „Systemwechsel“, nur der könne die “Flickschusterei“ in der professionellen Pflege beenden. Die Vorwürfe werden dramatischer: Private Pflegeeinrichtungen wären an höheren Pflegestufen interessiert, weil die mehr Geld einbringen. Also je oller, je doller anschließend der Kassensturz. Den Rest kann man sich denken: ein Albtraum für Alte. Aber auch einer für eine kaputte Gesellschaft, die schon mit sich ringt, wenn es darum geht, Familie überhaupt zu denken, sich dann aber, was die Kapazitäten angeht, zu zwei Dritteln in der häuslichen Altenpflege auf die Institution „Familie“ verlassen will.
Nun werden bundesweit Pflegeeinrichtungen im Dutzend an private Investoren verkauft, die wollen Renditen, da muss jeder Cent ausgeschwitzt werden, da wird am Essen und der Arbeitsbekleidung gespart. All das empört Katja Kipping zu Recht. Aber wen nicht? Außer vielleicht diejenigen, die sich auf Kosten der Alten eine goldene Nase verdienen? Es ist wohl wie überall: Da, wo das Elend am größten scheint, kommt noch einer mit einer noch effektiveren und noch größeren Zitronenpresse.
Mit Alexander Jorde kommt der nächste männliche Pfleger an den Illner-Tresen und sagt, was ist. Er richtet den Appell an seine Kollegen, nur zu tun, wofür sie bezahlt werden, den Rest müsse der Betreiber der Einrichtung erledigen. Also mehr Leute einstellen. „Warum gibt es keine Personalschlüssel?“, fragt Illner den Minister. Der will ja. „Aber das muss erarbeitet werden. Das dauert.“ Und Spahn weiß, es muss natürlich auch Personen geben, die diese Stellen dann auch besetzen. Wie gut, dass Katrin Göring-Eckardt heute nicht eingeladen war, man ahnt, man weiß, wohin sie dieses Stichwort geführt hätte.
Und dann fällt dem Autor hier kurz vor Illner-Ende wieder ein – also kurz nachdem noch die polnische attraktive Pflegehilfe als kostengünstiger Hausengel vorgestellt wird – fällt ihm ein, dass die nächsten zwanzig Jahre nun schneller vergehen. Aber eben auch für Frau Göring-Eckardt. Und vielleicht trifft man sich dann wieder. Mit Gleitsichtbrillen-Blick auf die Spree. Und nebeneinander am wischfesten Resopaltisch. High Noon im Altenheim.