Eigentlich sollte jedem vernünftigen Menschen klar sein, dass eine europäische Währungsunion, wenn sie überhaupt funktionieren kann, und das ist an sich schon sehr zweifelhaft, vollständig dysfunktional bleibt, solange Griechenland und Italien Mitglieder einer solchen Währungsunion sind. Zu stark ist in diesen Ländern der Widerstand der Wähler gegen jede echte Reformpolitik, die auch auf Kosten etablierter Interessen geht, zu sehr ist Politik hier gleichbedeutend mit Patronage traditioneller Art, der es etwa primär um die Versorgung von Klienten im Staatsapparat, aber auch um den Schutz ihrer Interessen vor der Justiz und den Steuerbehörden geht.
Sicher, um Griechenland ist es ruhig geworden, da es kaum noch gegenüber kommerziellen Geldgebern, sondern fast nur noch gegenüber den anderen EU-Staaten und der EZB verschuldet ist. Auch in Italien hatte sich die Lage beruhigt, da die EZB durch ihre Politik des billigen Geldes die faktische Belastung des Haushalts durch Zinszahlungen trotz einer Rekordverschuldung stark nach unten gedrückt hatte. Gerade diese Politik wird nun aber in Italien als Aufforderung verstanden, sehr viel mehr von Brüssel, von Frankfurt und vor allem von Berlin zu verlangen. Die Wohltaten, die Salvini und di Maio über ihrem Land ausschütten wollen, nicht zuletzt in Form stark gesenkter Steuern – Steuern zahlen war in Italien wie in Griechenland immer schon besonders unpopulär – könnten den Staat nach seriösen Schätzungen 100 Milliarden Euro im Jahr, wenn nicht noch mehr kosten. Dass ein plötzliches Wirtschaftswachstum diese Kosten kompensieren wird, ist sehr unwahrscheinlich.
Bleiben nur zwei Möglichkeiten: die explizite und noch umfangreichere Monetarisierung der italienischen Schulden, d. h. die EZB kauft noch mehr italienische Anleihen und verzichtet auf die Rückzahlung des Kaufbetrages bei Fälligkeit, oder finanzielle Transfers aus Nordeuropa, also in aller erster Linie aus Deutschland und aus den Niederlanden, in deren Genuss dann aber wohl auch die anderen Mittelmeerländern kommen müssten, so dass hier rasch Summen von 150 oder 200 Milliarden im Jahr zusammenkämen. Als dritte Möglichkeit gäbe es freilich auch noch die Einführung einer italienischen Parallelwährung in Form von Steuergutscheinen, wie sie die neue Regierung offenbar erwägt. Faktisch liefe das auf eine weitere Erhöhung der Staatsschulden hinaus. Würde das Beispiel Schule machen, und warum sollte es das nicht, würde sich auf diese Weise der Euro freilich ohnehin auflösen, denn es läge dann für Länder wie Finnland oder die Niederlande nahe, auch eine Parallelwährung einzuführen, um den eigenen Ausstieg aus dem Euro vorzubereiten. Deutschland wird dazu freilich der Mut fehlen.
Deutsche Vorschläge für eine Reform der EU?
Es rächt sich jetzt, dass Deutschland nie ein eigenes Konzept zur Eindämmung der Eurokrise – von einer Lösung kann man wohl nicht sprechen, weil es sie bis auf weiteres nicht geben wird – entwickelt hat. Ob nun auf dem Umweg über die EZB oder über Transferleistungen, Deutschland wird so oder so für einen großen Teil der Schulden des Südens und vielleicht auch Frankreichs aufkommen müssen. Wichtig wäre dann aber, wenigstens eine Gegenleistung zu verlangen. Vorschläge gäbe es dafür schon. So müsste die Aufsicht über die Einhaltung des Fiskalpaktes der EU-Kommission, die in den letzten Jahren zu einem unparteiischen Urteil fast nie fähig war und fast immer nur die Interessen des Südens vertreten hat, entzogen werden, wie das sogar Wolfgang Schäuble schon einmal vorgeschlagen hat. Stattdessen müsste diese Aufgabe ein Expertengremien übernehmen, dessen Mitglieder von den Eurozonenstaaten nominiert werden. Die größeren Staaten, die mehr Wirtschaftskraft besitzen, könnten dann auch mehr Mitglieder nominieren. Ebenso wichtig wäre es, die Bankenaufsicht der EZB vollständig zu entziehen und einer eigenen unabhängigen Behörde zu übertragen, da die EZB die angeschlagene Banken ja durch ihre Geldpolitik auch am Leben hält, in diesen Dingen also kaum neutral sein kann. Auch die Verfassung der EZB selber müsste eigentlich geändert werden, da in deren Aufsichtsgremien heute die Stimme Maltas formal genauso viel Gewicht hat wie diejenige Deutschlands oder Frankreichs.
Kommt es insgesamt zu einer Umgestaltung der europäischen Verträge, wäre es auch wichtig, das Wahlrecht für das europäische Parlament nach dem Prinzip „one person one vote“ zu reformieren. Je mehr Macht das Parlament beansprucht – und sein Machtwille ist bekanntlich unbegrenzt – desto skandalöser ist es, dass z. B. ein Luxemburger als einzelner Wähler mehr als 10mal mehr Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlamentes hat als ein deutscher. Zugleich wäre es ratsam, das Parlament in zwei Kammern aufzugliedern. Die zweite Kammer, das „Oberhaus“, sollte dann aus delegierten Vertretern der nationalen Parlamente bestehen, die nach einem – die kleinen Länder weiter begünstigenden – Schlüssel entsandt würden, der der Zusammensetzung des bisherigen Parlamentes in etwa entsprechen könnte.
Eine solche zweite Kammer, die eventuell nur bei besonders gewichtigen Vorhaben wie z. B. beim Haushalt und anderen strukturell wirksamen Maßnahmen ein Vetorecht hätte, hätte den großen Vorteil, dass Mitglieder nationaler Parlamente, die nur als Delegierte in Brüssel präsent sind, nicht so ausschließlich auf die Karte permanenter Zentralisierung setzen würden, wie es die meisten Mitglieder des EU-Parlamentes tun, weil sie in den nationalen Parlamenten Rivalen sehen, die um jeden Preis ausgeschaltet werden müssen. Die deutschen Abgeordneten gehören hier übrigens oft zu den größten Fanatikern des Zentralismus. Der kurzfristige Kanzlerkandidat der SPD, ein gewisser Martin Schulz, an den sich der eine oder andere noch in seiner Rolle als Präsident des EU-Parlamentes erinnern wird, war hier ein besonders unrühmliches Beispiel.
Indes, der Bundesregierung fehlt, wie gesagt, jeder Mut, eigene Reformvorschläge einzubringen. Sicherlich wären diese kontrovers und namentlich mit Widerstand aus Frankreich, das von jeher seine nationalen Interessen in der EU extrem robust, um nicht zu sagen rücksichtslos vertreten hat – gelegentlich auch mit dem verstecken oder offenen Hinweis darauf, das Deutschland ja eine düstere Vergangenheit habe im Gegensatz zur Grande Nation, die immerhin einmal wahrhaft große Europäer wie Napoleon oder Ludwig XIV. hervorgebracht hat -, muss man jederzeit rechnen. Aber wenn man gar kein eigenes Konzept hat, dann steht man nur als der ewige Bremser da, der zwar seine Brieftasche schützen will, aber sonst keinerlei Ideen hat. Damit haben es die Briten schon mal versucht. Das endete dann bekanntlich im Brexit; eine solche Option haben wir leider nicht. Durch das reine Bremsen gerät man gegenüber den scheinbar so idealistischen Plänen des französischen Präsidenten, die in Wirklichkeit eben doch stark auf französische Interessen zugeschnitten sind, in eine auf Dauer wenig aussichtsreiche reine Defensivposition.
Die Parteien finden keinen Ausweg aus ihren eigenen Märchenerzählungen
Das Problem liegt allerdings auch darin, dass deutsche Politiker, namentlich diejenigen, die der CDU angehören, ihren Wählern über den Euro immer nur Märchen erzählt haben. Angeblich werde damit der deutsche Wohlstand gesichert. Kosten für Deutschland würden hingegen nie entstehen. Sicher, der Euro stellt wie der Ökonom Daniel Stelter und andere dargestellt haben, eine Art gigantische Subvention für die deutsche Exportindustrie dar; nur die Kosten für diese Subventionen tragen am Ende die Deutschen selber, sei es durch eine geringere Kaufkraft einer – gemessen an der deutschen Wirtschaftskraft – unterbewerteten Währung, sei es durch zinslose und womöglich am Ende verlorene Kredite an die Südländer (Traget II Salden, mittlerweile knapp eine Billion Euro). In Zukunft kämen dann wohl noch direkte Transferzahlungen von rapide wachsendem Umfang hinzu.
Nicht vergessen darf man auch die Enteignung der Sparer durch stark negative Realzinsen. Aber all das können die Politiker ihren Wählern nicht offen darlegen, weil sie ihnen zu lange das genaue Gegenteil erzählt haben. Und da deutsche Politiker in ihrer biederen Art oft viel geschickter sind beim Verbreiten von „fake news“ als ein Mann wie Trump, der mit seinem seltsamen Haarwuschel auf jeden europäischen Normalo sofort wie ein unseriöser Verkäufer von Gebrauchtwagen oder wie ein Vertreter wirkt, der einem an der Haustür wertlose Produkte andrehen will, haben die Deutschen in ihrer Mehrzahl ihren so brav und unbedarft wirkenden Politikern – die Kanzlerin verkörpert diesen Typus ja perfekt – geglaubt und tun es immer noch. Das wird jetzt, wo die Illusionen sich langsam in Luft auflösen, immer mehr zum Problem.
Die Grünen können damit noch am leichtesten umgehen; ihren Wählern ist das eigene Land, das sie meist nicht besonders mögen, überwiegend gleichgültig, solange sie für dessen Niedergang privat keinen allzu hohen Preis zahlen. Und da sie sich bewusst nicht mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigten – das wäre irgendwie nicht Bio und sehr uncool – , sehen sie diese Gefahr nicht. Die Linkspartei und die SPD können ihren Wählern immer noch erzählen, am Ende würden die „Reichen“ für alles die Rechnung begleichen, auch wenn die Wähler der SPD das wohl schon nicht mehr so recht glauben, sonst gäbe es mehr davon. Aber was macht die CDU, deren Wähler oft der Mittelschicht angehören? Wenn das Euromärchen endgültig auffliegt, und die neue italienische Regierung könnte dafür mehr tun als es Tsipras je vermochte, ist die Partei, die sich immer als Europapartei inszeniert hat und der wir ja eigentlich auch den Euro mit all seinen Fehlern in aller erster Linie verdanken, vermutlich ruiniert, noch viel stärker als heute die vor sich hinsiechende SPD. Deshalb wird es eine Stunde der Wahrheit mit Blick auf das Schicksal des Euro so bald nicht geben. Man wird alles tun, um das zu vermeiden, auch wenn das heißt, dass die Regeln für die monetäre Staatfinanzierung des Südens unter dem Druck der italienischen Regierung noch mehr gelockert werden und die Inflation der Vermögenspreise etwa bei den Immobilien komplett außer Kontrolle gerät. Pech für Sparer und Mieter, aber gut ein paar Verlierer gibt es halt immer, wird man sich in Berlin sagen.
Freilich könnte es auch in Deutschland eines Tages eine wirklich populistische Revolution geben, ähnlich wie in Italien, allerdings eher nicht von rechts; die AFD ist zu radikal, um je mehr als maximal 20 % der Stimmen zu gewinnen, namentlich angesichts der deutschen Vergangenheit, die einen deutschen Salvini als Minister undenkbar erscheinen lässt, aber sehr wohl von links. Wenn der Sozialstaat erodiert und Wohnungen in größeren Städten vollends unerschwinglich werden, wenn die Betriebsrenten immer kleiner und die Lebensversicherungen weitgehend wertlos werden, könnten selbst deutsche Wähler ungemütlich werden. Die eine oder andere Kommunalwahl wie jüngst in Freiburg, die gegen einen erfolgreichen und kompetenten Bürgermeister, der den Typus des arrivierten, verbürgerlichten Grünen verkörperte, von einem komplett unbekannten halblinken Populisten gewonnen wurde, ist hier vielleicht doch ein Menetekel. Die etablierten Parteien sollten sich jedenfalls nicht zu sicher sein, dass sie für die desaströse Entscheidung, sich auf das Experiment des Euro einzulassen, und für ihre anhaltende komplette Ratlosigkeit in Fragen der EU-Politik keinen Preis bezahlen müssen, der am Ende sehr viel höher sein wird als die Stimmen, die man an die „bösen Rechtpopulisten“ von der AfD verliert. Zu einem Problem müssten linke Parteien in Deutschland freilich ihre Einstellung verändern, wenn sie wieder eine Chance haben wollen, Wahlen zu gewinnen, zur Politik der offenen Grenzen, die jede Kontrolle von Immigration ablehnt.