Die vermeintlichen Retter der Menschheit, die als nicht-staatliche Organisationen, kurz NGOs, die Aura der guten Menschen für sich gepachtet zu haben scheinen, sind zu effizient funktionierenden Unternehmen geworden. Es hat sich eine zielstrebig agierende Meinungs-Industrie entwickelt, deren Agitation und Kampagnen Themen der Medienberichterstattung ebenso prägen wie die politische Agenda und die Meinungsbildung in Teilen der Bevölkerung, die nach Orientierung suchen und dabei den Widerspruch zwischen der eigenen guten Absicht, einer naiven Zustimmung und dem Verzicht auf freiheitliche Rechte nicht erkennen. In einer strategisch geschickten Verpackung werden offenbar sogar Forderungen akzeptabel, die als Programm einer Partei zu deren Niedergang führen würden. Beispiele: Freut euch über den Wertverlust von Autos, mit denen ihr nur noch begrenzt fahren dürft.
Der Ausstieg aus der individuellen Mobilität wird vorbereitet. Wir machen die Limonade teurer, damit die Konsumenten, deren Haushaltsbudget etwas knapp bemessen ist, auf Billigprodukte ausweichen müssen. Stellt eure Geschmacksnerven um, weil euch ein gesetzlich vorgegebener Einheitsbrei verordnet wird. Genuss wird zum Zeichen politisch unkorrekten Verhaltens erklärt. Die konsequente Umsetzung des BMI (Body Mass Index) kann auf Individualität, die mit Ausgrenzung geächtet wird, keine Rücksicht nehmen. Sogar romantische Vorstellungen einer Nahrungsmittel-Erzeugung finden Beifall, obwohl deren stringente Umsetzung in die Tat eine Reduktion der Weltbevölkerung voraussetzen würde. NGOs markieren Zeitgeist-Themen. Der Glaube, emphatische Idealisten würden sich mit Hilfe karger Spendengelder selbstlos an der Rettung von Menschheit, Umwelt und der Welt insgesamt verausgaben, trügt. Es sind reflektierte Unternehmer mit klar definierten Geschäftsmodellen in einem hart umkämpften Markt.
Das Prinzip der Skandalisierung
Bei diesen Organisationen der Zivilgesellschaft, positioniert neben den staatlichen Institutionen und der Wirtschaft, leiten sich charakterisierende Bezeichnungen aus dem ab, was sie angeblich nicht sind. „Non-Governmental-Organizations“ gehören nicht zur Regierung, obwohl sie in vielen Feldern deren Agenda beeinflussen, in deren Gremien direkt beratend tätig sind und nicht zuletzt staatliche Gelder beziehen. Auch der Begriff „Non-Profit-Organizations“, also NPOs, verzerrt die Realität. Es ist auch bei diesen Organisationen eine wirtschaftliche Notwendigkeit, das Verhältnis von Kosten und Umsatz positiv und damit profitabel zu gestalten. Lediglich die Verwendung des Gewinns von der Investition bis zur Verteilung kann auf ein spezielles Wirtschaftsmodell schließen lassen. Weder staatliche Ferne noch altruistisches Wirtschaften sind also Charakteristika.
In ihrem Diskussionspapier „Brauchen wir NGOs?“ vergleichen der Wirtschaftsethiker Prof. Dr. Ingo Pies und Dr. Vladislav Valentinov zivilgesellschaftliche Organisationen (ZGO) mit Unternehmen. Sehr grundsätzlich sind die Unterschiede nicht. Gravierend ist allerdings ein Unterschied. Während Unternehmen Güter für Geld anbieten und dabei mit ihrer Konkurrenz im Wettbewerb stehen, produzieren ZGO ein öffentliches Gut, das zumeist ein spezialisiertes Nischenprodukt ist. In der Sache gibt es also wenig Konkurrenz. Groß ist dagegen die Konkurrenz bei den Ressourcen Mensch und Geld. Mitglieder und Sympathisanten müssen gewonnen werden und der Wettbewerb im Kampf um Spendengelder ist intensiv. In beiden Fällen ist die öffentliche Aufmerksamkeit der bestimmende Faktor.
Der Zwang, öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren, macht die Organisationen anfällig für zwei Risiken, die Pies und Valentinov als „media biases“ und „mission creep“ bezeichnen. Im Gegensatz zu Unternehmen, deren Verhalten und deren Güter-Produktion nicht medien-, sondern primär marktorientiert sind, ist bei den ZGO die Medienorientierung ein stark ausgeprägter und damit in vielen Fällen auch die Organisation und deren Aktivitäten bestimmender Faktor. Sie kann so prägend sein, dass sie zu einer Erosion der eigentlichen Mission führt. Pies und Valentinov fassen diese den Organisationen immanenten Risiken eindrucksvoll zusammen. „Ein „media bias“ kann dazu führen, dass ZGO nicht jene gesellschaftlichen Missstände skandalisieren, die besonders reformbedürftig sind, sondern vielmehr auf solche Themen setzen, die sich leicht skandalisieren lassen, weil sie für mediale Aufmerksamkeit sorgen. So kann es dazu kommen, dass ZGO ihre ursprüngliche Programmatik (und das inhaltliche Anliegen ihrer Mitglieder) schrittweise so anpassen, dass das Existenzinteresse der Organisation ein Übergewicht erhält. („mission creep“)“. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür hat Martin Rücker, Geschäftsführer von Foodwatch in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau geliefert. Gefragt, was er davon halte, wenn die Regierung Höchstwerte für Zucker- und Salzanteile in Lebensmitteln festlegen würde, bezeichnet er solche Re-zepturvorgaben als bevormundend, hyperaktiv und unangemessen. Vor dem Hintergrund der seit Jahren gewohnten Agitation von Foodwatch, die sich wesentlich auf die angeblich die Gesundheit und das Leben erhaltende Reduzierung von Fett, Salz und Zucker konzentriert, erscheint die Aussage zunächst irritierend. Für den Unternehmer Rücker ist dagegen die Position verständlich. Traditionell ist Foodwatch mit den Angriffen auf Salz, Zucker und Fett in Lebensmitteln erfolgreich in der Wahrnehmung und damit auch bei der Spendenakquise. Staatlich verordnete Höchstwerte würden dagegen eine Situation schaffen, die es nicht zulässt, weiter spendenwirksam Stimmung gegen die Lebensmittelwirtschaft zu machen.
Die Lüge als Geschäftsgrundlage
Widersprüche haben bei Foodwatch System, wenn das Ziel der Wirtschaftlichkeit nicht gefährdet werden soll. Die Lüge gehört dabei zur Geschäftsgrundlage. Oliver Huizinga, Leiter Recherche und Kampagnen, sagt bei dem Trendfrühstück am 22. Februar 2018, einer Veranstaltung des Tagesspiegels in Berlin, wissentlich die Unwahrheit. Vom Autor dieses Beitrages mit dem Vorwurf konfrontiert, dass Foodwatch im Interesse einer ausschließlich auf Nahrungsmittel und deren einzelne Bestandteile konzentrierten Agitation das Thema der zunehmend mangelnden Bewegung in unserer Gesellschaft, und hier speziell bei Kindern und Jugendlichen, gezielt vermeidet, antwortet er mit der Aussage, dass es dazu keine Daten und Erkenntnisse gibt, die ein Defizit der Bewegung erkennen lassen. (Seine Aussage ist in einem Mitschnitt der Podiumsdiskussion dokumentiert.)
Unterstellt man, dass Huizinga während der vergangenen Jahre keine Kenntnis von zahlreichen Studien zum Rückgang der Bewegung in einer zunehmend inaktiver werdenden Gesellschaft gehabt hätte, ist seine im Februar getroffene Aussage dennoch eine Lüge. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er mit seinem Team an einer Kampfschrift gegen Coca-Cola, die am 4.4.2018 präsentiert wurde. Darin zitiert wird auch die KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts. In dieser Studie wird mit eindrucksvollen Zahlen auf das Defizit der Bewegung bei Kindern und Jugendlichen eingegangen. Rund 75 Prozent der Mädchen und 70 Prozent der Jungen zwischen 3 und 17 Jahren erreichen nicht die empfohlene Mindest-Bewegung von 60 Minuten pro Tag. Je älter desto inaktiver ist der Nachwuchs. Diese alarmierenden Ergebnisse der renommierten Studie müssen offenbar in der Foodwatch vorliegenden Fassung geschwärzt gewesen sein. Aber es gibt auch eine andere Erklärung: Foodwatch hat für das Geschäft mit der Angst erkannt, dass bei komplexen und sehr differenziert zu betrachtenden Themen die einfachen Behauptungen die erfolgreichsten sind, auch wenn sie nicht der Realität entsprechen. Der dramatische Rückgang der Bewegung für die Gesundheit der Menschen passt einfach nicht in das Konzept der „Essensretter“.
Sitzenbleiber interessieren nicht
Die undifferenzierte Betrachtung mit einer konsequent unsachlichen Behauptung im Interesse der Skandalisierung ist ein Prinzip. Foodwatch und eine Truppe von Claqueuren unterschiedlichste Kompetenz laden zu einer Pressekonferenz am 2. Mai ein, um Maßnahmen gegen „Fehlernährung“ zu fordern und der Bundeskanzlerin einen Offenen Brief zu übergeben. Interessant ist, dass in der gesamten Einladung das Wort Bewegung im Zusammenhang mit einer angeblichen Adipositas-Epidemie fehlt. Die Komplexität des Lebensstils passt nun einmal nicht in das Wirtschaftsmodell von Foodwatch. Die Systematik, mit der hier Tatsachen negiert und Behauptungen aufgestellt werden, ist beeindruckend.
Bei publikumswirksamen Kampfparolen möchte auch der kabarettistisch orientierte „TV-Arzt“ Dr. Eckart von Hirschhausen nicht fehlen. Herr von Hirschhausen, der erste Fernsehluft bei Jürgen von der Lippe in der Kuppelshow „Geld oder Liebe“ schnuppern konnte, erkannte schon damals den Erfolg der Medienpräsenz. Er hat ein gutes Gespür für Reichweite entwickelt und weiß, wie man sich anbiedert, um Geschäfte zu machen. Er schreibt über wirksame Wunder, über Glück, Leber, Liebe und den Magen Bücher, um sie medial perfekt zu vermarkten. Natürlich gibt es auch die Hirschhausen-Diät. Kein Trendthema wird ausgelassen. Die Addition von medialem Goodwill drängt sich für das Unternehmen Foodwatch und den Unternehmer Hirschhausen geradezu auf. Hirschhausen macht Influencer-Marketing für seine Bücher und Diätprogramme und fordert gemeinsam mit Foodwatch, das Influencer-Marketing der Lebensmittelunternehmen zu stoppen. Das Timing passt. Aktuell hat er zur diesjährigen Diätsaison das altbekannte Intervallfasten wieder entdeckt und vermarktet es als individuelle Erfolgsstory, da es ihn angeblich zu einem Leichtgewicht gemacht hat.
Alle publizieren eifrig mit. Auch der Spiegel möchte den Anti-Zucker-Trend nicht verpassen. Süß sells. „Süße Sucht“ heißt die Titelgeschichte in der Ausgabe am 7. April 2018. Spiegel-Redakteur Jörg Blech entwickelt eine fantasievolle Theorie, um angebliche Kausalbeziehungen zu gestalten. Alles macht der Zucker: Adipositas und Diabetes, er verlängert die Wartelisten für Spendernieren, macht blind und ist verantwortlich für rund 40.000 Amputationen im Jahr. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Fettstoffwechselstörungen sollen durch Zucker entstehen und man sieht nach regelmäßigem Genuss auch frühzeitig alt aus. Die Aneinanderreihung von Behauptungen, Vorurteilen und Meinungen ist rekordverdächtig.
Der Begriff Bewegung kommt in dem gesamten Beitrag nicht vor. Trotz einer Fülle von Studien zur Relevanz der mangelnden Bewegung für Übergewicht und Krankheiten wie beispielsweise Diabetes und des Herz-Kreislauf-Systems in der sitzenden Gesellschaft fehlt dieses Thema. Autor Jörg Blech müsste es eigentlich wissen. Er hat ein Buch geschrieben, in dem er fordert, die Menschen sollten sich nicht für krank verkaufen lassen, weil sie eigentlich gesünder wären, als man ihnen weismachen will. Und er hat ein weiteres Buch geschrieben, das die Heilkraft der Bewegung thematisiert. Klinische Studien, so Blech, beweisen, dass körperliche Bewegung hilft, Krankheiten wie Diabetes zu besiegen oder einem Herzinfarkt vorzubeugen. In seiner aktuellen Kampfschrift kein Wort darüber. Es passt nicht zur Anti-Zucker-Strategie.
Damit degeneriert er den Spiegel zum „Wachturm“ einer Organisation wie Foodwatch. Der Versuch der Missionierung ist gut abgestimmt: Die „Essensretter“ von Foodwatch fordern penetrant die Zuckersteuer und präsentieren am 4. April einen Agitations-Band unter dem Titel „Coca-Cola-Report“. Das weltweite Großkapital, so die Darstellung, treibt die Menschheit in Krankheit und Tod. Am gleichen Tag behauptet die SZ, eine Zuckersteuer würde Deutschland gut tun. An allen medialen Ecken stehen die Stimmungsmacher, die glauben machen wollen, staatlich verordnete Ernährung und paternalistische Konsumsteuerung wären keine Bevormundung, sondern die Rettung der Menschen vor ihren individuellen Bedürfnissen.
Gesunder Lebensstil interessiert nicht
Bei dem dicken Geschäft mit der angeblichen Verdünnung der Bevölkerung interessieren die Menschen weniger. Sonst würde über den aktuellen Lebensstil statt über Strafsteuern, Werbeverbote oder eine Lebensmittelampel gesprochen. Wer bei einer Ampel nur reichlich grün gekennzeichnete Produkte verzehrt und dabei ruhig auf dem Sofa sitzen bleibt, wird mit ziemlicher Sicherheit seine Körperform ausbauen. Wurde der Zucker zunächst vor allem als Kariesverursacher angegriffen, mussten die geschäftstüchtigen Experten erkennen, dass trotz aller Limos Karies bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland inzwischen nahezu verschwunden ist. Nun soll es das Gewicht richten. Die mit Strafsteuern angereicherte Limonade ist allerdings keine Lösung. Und eine Lösung wollen die Agitations-Unternehmer auch nicht. Ärzte beklagen beispielsweise zunehmend Haltungsschäden bei Kindern und Jugendlichen. Folgen des Limo-Konsums? Wohl eher Folgen einer primär sitzenden Lebensweise, bei der man zum Surfen oder zum Chat mit Freunden nicht einmal aufstehen muss. Wie sehr das Hecheln nach Trendthemen sogar Mediziner verwirrt, demonstriert Dr. Thomas Fischbach, der für den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte auch von der Foodwatch-Popularität etwas abhaben möchte. „Wenn ein Kind zu dick ist, bewegt es sich weniger“ stellt er fest. Hier werden Ursache und Wirkung vertauscht. Wenn ein Kind sich zu wenig bewegt, weil es nur noch virtuell unterwegs ist, wird es zu dick. Vor Ärzten, die Ursache und Wirkung vertauschen, sollte man sich hüten.
Unsere Gesellschaft leidet unter einem Bewegungs-Defizit. Wer aus seinem eigenen Geschäftsinteresse die öffentliche Aufmerksamkeit auf den angeblich alle Kilos und Leiden verursachenden Zucker konzentriert, versperrt den Blick auf das eigentliche Problem. Die Balance zwischen Kalorienaufnahme und einem adäquaten Kalorienverbrauch durch Aktivität ist notwendig. Diese ernährungswissenschaftliche Tatsache, sowohl einfach als auch unbestritten, erfordert verantwortungsvolle Aufklärung. Aber wie soll man damit Geld verdienen?
Detlef Brendel ist als Wirtschaftspublizist tätig und leitet eine Presseagentur. Er ist Autor des Buches „Schluss mit Essverboten“, in dem er sich u.a. kritisch mit der Bevormundung der Verbraucher beschäftigt.