Die EU-Kommission schlug Ende 2017 eine Reform des Asylrechtes vor. Nun muss man dazu wissen, dass es im Prinzip eine nationale neben/unter einer EU-Ausländer- und Asylpolitik gibt – eben das deutsche Asylrecht und diverse EU-Richtlinien zum Asylrecht (Qualifikationsrichtlinie, Aufnahmerichtlinie, EU-Migrationsagenda usw.). Mitgliedstaaten sind danach verpflichtet, EU-Richtlinien innerhalb gesetzter Fristen in innerstaatliches Recht umzusetzen.
Wer nun darauf hofft, dass die EU explizit eine Verschärfung des Asylrechts erarbeiten würde, wird enttäuscht, denn primär geht es hier um die rechtsverbindliche Verteilung von Zuwanderung auf EU-Ebene, nicht um Maßnahmen der Begrenzung. Werden die Pläne der Kommission in die Tat umgesetzt, bedeutet das für Deutschland nicht etwa weniger, sondern mehr Zuwanderung. Wenn also der Bundestag suggeriert, er würde beispielsweise das nationale Asylrecht verschärfen oder sonst wie nivellieren, dann geht es hier lediglich darum, nationales Recht den EU-Vorgaben anzugleichen. Mehr dürfen die gar nicht. Dazu allerdings bräuchte es kaum noch ein Parlament, sondern lediglich noch juristische Handwerksmeister und Gesellen.
Konkret geht es unter anderem darum, dass Zuwanderer in jenes europäische Land verteilt werden sollen, in dem bereits Angehörige des Bewerbers leben: eine Massenanziehung gewissermaßen. Ole Schröder, der parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, kommentierte die Pläne der EU schon im Januar so: „Wenn jeder der über 1,4 Millionen Menschen, die seit 2015 in Deutschland Asyl beantragt haben, zur Ankerperson für neu in der EU ankommende Schutzsuchende wird, reden wir über ganz andere Größenordnungen als bei der Familienzusammenführung.“ Das Ende also der sowieso schon implodierten EU-Dublin-Verordnung.
Gestern nun meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass die Europäische Kommission in Sachen Zuwanderung noch keinen Grund zur Entwarnung sehe, obwohl die Zahl irregulärer Zuwanderer in der Europäischen Union insgesamt weiter rückläufig sei. Hier sind zunächst zwei Formulierungen beachtlich: zum einen der Passus „irregulär“, zum anderen eine neue Schreibweise, wenn man über Jahre fast schon manisch von „Flüchtlingen“ sprach und nun durchgängig von „Zuwanderern“ die Rede ist.
Am Mittwoch legte die EU-Kommission einen Bericht vor mit der Überschrift: „Migrationsdruck macht weitere Reform des europäischen Asylsystems notwendig.“ Dort heißt es konkret: Die Lage aufgrund des Migrationsdrucks sei nach wie vor instabil, „wie die seit Kurzem wieder steigende Zahl der über die östliche und die westliche Mittelmeerroute nach Europa kommenden Migranten zeigt.“ Zuwanderung richtet sich also nach den Jahreszeiten? Ab Frühling wird es mehr? Dem Bericht zufolge müssen die noch bestehenden Lücken bei der Ausstattung der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache gefüllt, Fortschritte bei der Rückkehr/Rückführung erzielt, die Neuansiedlung vorangebracht und die Migranten auf den Migrationsrouten besser geschützt werden.
Nun müssen diese Lücken wirklich gigantische sein, wenn selbst noch die Kanzlerin der Zuwanderung in ihrem Redebeitrag zu Generalaussprache vor dem Bundestag der Kommission das Wort redete und eine Aufstockung der Frontex-Mitarbeiter der Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache forderte. Daran ist ja für sich genommen auch zunächst nichts auszusetzen. Aber wir erfahren gleich, dass es sich bei dieser Aufstockung hier lediglich um eine Finte handelt. Der Erste Vizepräsident der Kommission, Frans Timmermans, drängt bereits darauf, dass es schon im Juni diesen Jahres abgemachte Sache ist: „Diese Reform kann nicht warten. Ich hoffe, dass der Europäische Rat im Juni zu einer Einigung gelangen wird.“
Man drängelt zu Recht. Ahnt man doch, dass, wenn die EU-Pläne zur Neureglung der Zuwanderung speziell in Deutschland die öffentliche Diskussion erreichen oder gar bestimmen sollten, eine kritische Grenze der Belastbarkeit des Wohlwollens der Deutschen endgültig überschritten sein könnte bis tief in die Mitte der Bevölkerung hinein. Da müssen Nägel mit Köpfen gemacht werden.
Dimitris Avramopoulos, Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft weiß um diese Gefahr für sein Vorhaben und drückt ebenfalls auf die Tube. Und er macht das ganz geschickt, wenn er zunächst vorgibt, es ginge ihm um Grenzsicherung (siehe Merkel): „Aus diesem Grund fordere ich die Mitgliedstaaten auf, dringend Grenzschutzbeamte und Ausrüstung für die Operationen der Europäischen Grenz- und Küstenwache bereitzustellen und ihre Zusage zu erfüllen, im Juni eine Einigung über unsere Asylreform zu erzielen. Wir haben absolut keine Zeit zu verlieren.“
Viel interessanter sind sowieso die Zahlen, die der neuste Bericht der Kommission zum Migrationsdruck mitliefert:
Zwar hielt der 2017 beobachtete Abwärtstrend auf der zentralen Mittelmeerroute an, aber seit März 2018 sei die Zahl der Neuankömmlinge auf den griechischen Inseln und dem Festland erheblich gestiegen. Auch die Stabilisierung der Situation auf der Westbalkanroute sei alles andere als beruhigend, wenn in den vergangenen Monaten wieder verstärkte Migrationsbewegungen über Albanien, Montenegro und Bosnien und Herzegowina zu verzeichnen seien. Auch sei die westliche Mittelmeerroute zum neuen HotSpot geworden, wenn dort schon jetzt über 20 Prozent mehr Migranten eintreffen würden als im Vergleichzeitraum 2017 (Randnotiz: Auch im EU-Bericht ist der Begriff „Flüchtling“ offensichtlich ersetzt worden).
Wie folgsam Angela Merkel bereits geworden ist, wird hier auf erschreckende Weise deutlich: Wesentliche Teile ihrer jüngsten Generalansprache klingen tatsächlich, wie direkt aus diesem EU-Papier adaptiert und vorgetragen. Man könnte es auch wohlwollender Schützenhilfe nennen, aber will man das? Nein, denn wenn der Haushalt der Bundesrepublik Deutschland besprochen wird, geht es um Geld. Um Ausgaben. Und wie heißt es noch in dem Papier der EU? „Die Mitgliedstaaten müssen dringend mehr Ressourcen bereitstellen, wenn die Agentur ihre laufenden Operationen fortsetzen oder in der Lage sein soll, neue Operationen durchzuführen.“ Die Mitgliedstaaten? Oder vornehmlich Deutschland? Und was ist das für eine Aussage, dass die Hälfte des operativen Bedarfs zur Grenzsicherung schlicht fehlt? Man stelle sich hier bitte einen Deichgrafen vor, der seiner ängstlich versammelten Grafschaft erzählt: Klar, die Flut kommt, aber keine Sorge ihr Lieben, die Hälfte der Deiche steht doch schon.“
Die zuständigen Behörden der EU heißen „Agenturen“ und sie betreiben ein „Außengrenzenmanagement“ – allein schon das Wording entlarvt das fehlende Wollen und Tun dieser Truppe. Die Bundeswehr ist in einem desolaten Zustand? Das relativiert sich schnell, wenn man sich nur den Zustand der Grenztruppen der EU anschaut. Demgegenüber ist die Bundeswehr ein Musterheer.
Aber dieses EU-Papier lobt sich auch selbst, wenn es erfolgreiche „Notevakuierungen“ beschreibt. Konkret heißt das dort: Migranten werden aus Libyen erst einmal nach Niger verbracht, um dann nicht etwa dort unterstützt und in irgendwelchen Mustersiedlungen nach wieder anderen neuen EU-Plänen neu angesiedelt zu werden, nein, sie werden von dort aus per Flugzeug nach Europa eingeflogen: „Von dort aus sollen sie in Europa neu angesiedelt werden.“ So wird quasi eine neue sichere Einwanderungsroute von der EU selbst neu aufgemacht. Und die Kommission feiert sich im Papier für diese tolle Idee. Dagegen etwas sagen? Wie denn, wenn die Bilder der Auffanglager in Libyen inflationär als „KZs“ in die Medien eingespielt werden?
Interessant am Rande: Der zunächst im Papier bestätigte und gelobte Türkei-Deal scheint ebenfalls zu implodieren. Aber nicht, weil etwa Erdogan zickt und schangelt, nein, die Asylverfahren werden laut Bericht von den Griechen – ergo der EU – verschleppt: „Die Inseln sind einem erheblichen Druck ausgesetzt, und die Asylverfahren kommen nur schleppend voran, was auch die Rückführungen in die Türkei verlangsamt.“
Um zum Schluss noch einmal zu verdeutlichen, wie sinnlos, wie sträflich unentschlossen und wie wenig ambitioniert die Bemühungen der EU zur Beendigung der illegalen Einwanderung wirklich sind, reicht es, den Bericht bis zum Ende zu lesen, wenn es dort heißt (man prahlt quasi noch damit!): „Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache hat 2018 die Organisation von 111 Rückführungen unterstützt.“ 111 Rückführungen? Nein, wirklich, diese Gemeinschaft ist längst keine mehr. Und Deutschland wird nicht nur die Zeche zahlen, sondern am Ende auch noch den schwarzen Peter bekommen, schließlich war es ja unsere Bundeskanzlerin, die das alles angestoßen hatte Ende 2015. Jene Bundeskanzlerin, die sich in ihrem Beitrag zur Generalaussprache zum Bundesdeutschen Haushalt gerade zum Steffen Seibert der EU-Kommission gemacht hat.