Deutsch gilt als „schwierige“ Sprache und politisch korrektes Deutsch ist noch schwieriger: Es gibt nicht viele Deutschsprecher, die diese Sprachform ‒ politisch inkorrekt ausgedrückt ‒ „beherrschen“. Zum Beispiel wimmelt es in dem am 14. März 2018 abgeschlossenen „Koalitionsvertrag“ zwischen Union und SPD von „Fehlern“: Da steht auf derselben Seite politisch korrekt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer neben inkorrektem „Unternehmen mit mehr als 45 Mitarbeitern“, Bürgerinnen und Bürger neben Soli-Zahler, und im Kapitel „Miete“ kommen nur Mieter und Vermieter vor. Kurzum: Das politische Spitzenpersonal der Republik ist unfähig, „geschlechtergerechtes“ Deutsch korrekt zu schreiben ‒ und das nach über dreißig Jahren einschlägiger staatlicher Regelungen.
Richtig gendern mit Hilfe des Duden?
Sprachratgeber für politisch korrektes Deutsch gibt es durchaus: Zuletzt, im Oktober 2017, erschien im DUDEN-Verlag das Büchlein „Richtig gendern“ (120 Seiten, 12 Euro), das allerdings nur verhalten gekauft wird: In der Bestseller-Rangliste von Amazon steht es auf Platz 12 516 (Stand: 11.5.2018), und ein unzufriedener Leser fragt: „Warum sollen wir überhaupt gendern, und das auch noch richtig?“. Die Antwort auf diese Frage gibt der DUDEN in einer Neuerscheinung (53 Seiten, 8 Euro) mit dem Titel: Eine Frage der MORAL. Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen.
Der Autor, Anatol Stefanowitsch, wird vom Verlag als „Sprachwissenschaftler und Blogger“ vorgestellt, der „populärwissenschaftlich über die Schwerpunktthemen Sprachpolitik und sprachliche Diskriminierung [schreibt]“. Über diese Themen schreiben viele, aber Stefanowitsch ‒ und das ist fast ein Alleinstellungsmerkmal ‒ schreibt in einem perfekt politisch korrekten Deutsch, fehlerfrei, ohne Umständlichkeit und leicht lesbar: Die Kritiker/-innen, Politiker/-innen, Befürworter/-innen usw. stören im Text nicht (beim Vorlesen wäre das anders), und als Linguist vermeidet Stefanowitsch kompliziertere Genderkonstruktionen wie „Wer einmal lügt, dem oder der glaubt man nicht, und wenn er oder sie auch die Wahrheit spricht“.
„Stelle andere sprachlich stets so dar, wie du wollen würdest, dass man dich an ihrer Stelle darstelle“
Neben dem politisch korrekten Deutsch beherrscht Stefanowitsch auch das normale Deutsch. In einem sprachwissenschaftlichen Aufsatz schrieb er 2006: „Bei traditionellen Methoden [der Sprachdatenerhebung] wie der Introspektion, bei der Daten vom Forscher selbst erzeugt werden oder der eklektischen Sammlung von Daten, bei der der Forscher sich passend erscheinende Daten einzeln aus Texten zusammensucht, gibt es keine Garantie, dass der Forscher auf die relevanten Daten stößt.“ (Hervorhebung vom Autor, H.B.)
Der Forscher kann hier normalsprachlich auch „Forscherin“ bedeuten, es handelt sich um das sogenannte „generische Maskulin“, eine Eigentümlichkeit der indogermanischen Sprachen, die besagt: Eine Personengruppe, bei der das natürliche Geschlecht (Sexus) der Einzelnen unbekannt oder irrelevant ist, hat in der Regel das grammatische Geschlecht (Genus) Maskulin. Ein deutschsprachiges Kind, das in der Ferne reitende Personen sieht, wird deshalb sagen: „Ich sehe Reiter“, und diese Reiter können dann aus der Nähe Männer sein, Frauen oder Männer und Frauen.
Für Stefanowitsch ist politisch korrekte Sprache eine „Frage der Moral“, und diese Moral ‒ ich würde „sprachliche Höflichkeit“ vorziehen ‒ fasst er in folgender „goldenen Regel“ zusammen:
„Stelle andere sprachlich stets so dar, wie du wollen würdest, dass man dich an ihrer Stelle darstelle.“
Schon Adolph Freiherr von Knigge (Über den Umgang mit Menschen, 1796) hat eine ähnliche Regel aufgestellt: „Setze Dich in Gedanken oft an anderer Leute Stelle und frage Dich selbst: Wie würde es Dir unter denselben Umständen gefallen, wenn man Dir dies zumutete?“. Allerdings erkannte Knigge auch die Grenzen eines solchen Hineinversetzens: „Mit sehr empfindlichen, leicht zu beleidigenden Leuten ist es nicht angenehm umzugehn“.
Der Umgang mit dieser Personengruppe scheint mir bei den Beispielen für politisch inkorrekte Sprache, die Stefanowitsch erörtert, eine große Rolle zu spielen. Sie betreffen hauptsächlich
(1) frauendiskriminierende Sprache
(2) abwertende Bezeichnungen für Personen(gruppen).
Zu (1) begnüge ich mich mit einem sprachpraktischen Hinweis: Der Versuch, das sprachkorrekte Genderdeutsch in der Alltags-, Zeitungs- oder Literatursprache durchzusetzen, muss scheitern, weil es sich hier um einen Eingriff in das grammatische Sprachsystem handelt, der die Verständlichkeit stört und viele Sprecher überfordert.
Aus Zigeunerschnitzel wird Paprikaschnitzel
Bei (2) handelt es sich um lexikalische Probleme, die man mit der Regel „Ersetze X durch Y“ bzw. „Vermeide X“ grundsätzlich lösen kann: Politisch inkorrektes Zigeunerschnitzel würde dann durch Paprikaschnitzel ersetzt, Mohrenapotheke durch Morgenland-Apotheke o.ä., Fußgänger durch zu Fuß Gehende (für die Fußgängerunterführung liegt noch kein Ersatzwort vor) usw. Daneben gibt es für Stefanowitsch Unwörter wie Umvolkung, Volksverräter, (jemand) entsorgen, die man nicht sagt und die es zu „bekämpfen“ gilt ‒ „notfalls mit weitreichenden zensurartigen Maßnahmen“.
Bei diesem Kampf gegen das Böse („rechte Bewegungen und Parteien mit […] menschenverachtendem Gedankengut“) zählen empirisch-sprachliche Argumente nicht. Zum Beispiel der tatsächliche Gebrauch der Redewendung jmd. entsorgen. Wer Zeitung liest, dem ist diese Metapher seit Jahren bekannt; sie bedeutet „eine Führungsperson auf finanziell und sozial schonende Weise ablösen“. In diesem Sinne schrieb die ZEIT über den früheren CSU-Generalsekretär Dobrindt: „Er wurde als Verkehrsminister entsorgt“ (Nr. 13/2015); der baden-württembergische Ministerpräsident Oettinger wurde „nach Brüssel entsorgt“ (30/2010), und ein Ex-Europaminister wurde „diskret entsorgt“ (46/2010). Normale Arbeitnehmer werden übrigens nicht „entsorgt“, sondern „entlassen“, „freigesetzt“ oder „gefeuert“. Man muss schon sehr empfindlich sein, um den Gebrauch von jmd. entsorgen als „bewusste Verrohung“ zu interpretieren.
Es geht um Diskriminierung, ob verbal aber vor allem, non verbal
Stefanowitsch richtet seine „Streitschrift“ an uns, die „Mehrheit“, die nicht weiß, was es jeweils bedeutet, sprachlich diskriminiert zu werden. Prototypisch für diese Mehrheit steht der „körperlich nicht beeinträchtigte heterosexuelle weiße Deutsche ohne Migrationshintergrund, der keiner religiösen Minderheit angehört“. Er sei „schon deshalb vor Diskriminierung geschützt, weil unsere Sprache kein Vokabular für eine solche bereitstellt“.
Stimmt das? Lassen wir einmal beiseite, dass es für Deutsche durchaus Schimpfwörter gibt, zum Beispiel Nazi(s), das zum internationalen Grundwortschatz über Deutschland gehört, oder Biodeutscher, das an nicht arisch erinnert. Vor allem übersieht Stefanowitsch, dass man eine Person kommunikativ nicht nur durch Reden herabwürdigen kann, sondern auch durch Schweigen: Ein Chef, der durch den Betrieb geht, ohne die Mitarbeiter eines Wortes zu würdigen, ist viel unbeliebter als einer, der ab und zu lospoltert.
Eine solche Diskriminierung durch Ignorieren erleben die „Deutschen“ tagtäglich; denn sie sind für die regierende Klasse sprachlich gesehen „Luft“ und werden nicht beim Namen genannt: In den Wahlprogrammen 2017 von CDU, SPD, Grünen und Linken kommt das Wort Deutsche auf 550 Seiten nur fünfmal vor, davon zweimal in einem geschichtlichen Zusammenhang (vgl. Tichys Einblick 14. 8. 2017: Die Deutschen ‒ was heißt das?). Nun sind diese Deutschen ja „die Wähler“, werbetechnisch „die Kunden“ ‒ aber im politisch korrekten Diskurs gibt es sie nicht.
Auch das deutsche Volk, das laut Grundgesetz die „verfassungsgebende Gewalt“ ausübt, gilt als politisch inkorrekter Ausdruck. Ich vermute, dass die Bundeskanzlerin in ihrer bisherigenAmtszeit diese Formulierung nur viermal verwendet hat, nämlich bei der Vereidigung: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohl des deutschen Volkes widmen […] werde“. Zum Vergleich: In den Reden des US-Präsidenten Trump kommt „das amerikanische Volk“ (the American people) laufend vor; auch sein Vorgänger Obama verwendete diese Bezeichnung häufig und verabschiedete sich mit den Worten: „Ich glaube an das amerikanische Volk“ (I believe in the American people).
Wie oft in den öffentlichen Reden der US-Präsidenten the American people vorkommt, könnte übrigens Stefanowitsch genau ermitteln: Er ist Anglistik-Professor (FU Berlin) und Spezialist für „Korpuslinguistik“, d.h. die sprachwissenschaftliche Auswertung großer digitalisierter Textmengen. Allerdings hat er diese Kompetenz in seiner Streitschrift nicht genutzt. Aber vielleicht ist das auch „eine Frage der Moral“.
Helmut Berschin ist Professor em. für Romanische Sprachwissenschaft