Die Kunst strategischen Denkens besteht darin, einen Plan zu haben, der auch dann noch funktioniert, wenn die anderen den Plan durchkreuzen wollen. Um unser strategisches Denken zu schulen, gibt es hier ein paar Fingerübungen mit Beispielen aus der Politik. Dabei geht es nicht um eine moralische Wertung, wie sie mit dem Bild des Geheimagenten verbunden ist. Es geht vielmehr darum, systematische Fehler der Entscheider als solche zu erkennen: Der größte Fehler eine Regierung wäre ja, sich (wenn auch unbeabsichtigt oder in sogar in bester Absicht) zu verhalten wie ein Geheimagent einer fremden Macht, der den größtmöglichen Schaden anrichten möchte. Das ist der Maßstab. Kommen wir ihm nahe?
Und nun zum spielerisches Gedankenexperiment:
Wir versetzen uns dafür in die Situation eines Geheimagenten, der es geschafft hat, unerkannt in eine Führungsposition der feindlichen Regierung zu gelangen. Wir wollen dem Gegner maximal schaden. Was tun? Die naive Vorgehensweise besteht darin, unsinnige Entscheidungen zu treffen, die dem anderen schaden. Wir ruinieren die Staatsfinanzen, zerstören die Infrastruktur und schaffen interne Konflikte. Fertig.
Besonders klug ist das aber nicht. Denn wahrscheinlich wird man dadurch enttarnt; wenn nicht, dann halten einen die anderen Regierungsmitglieder für einen Dummkopf und die Wähler wollen einen nicht mehr. Dann ist die Karriere als Top-Agent schnell vorbei.
Eine gute Strategie berücksichtigt daher diesen Effekt. Es ist viel geschickter, viele gute Entscheidungen zu treffen und damit eine überzeugende Reputation aufzubauen. Nur wenn sich die Gunst der Stunde bietet, stellt man in wichtigen Grundsatzentscheidungen die Weichen falsch. Und zwar so, dass die Entscheidung niemals auf die Absicht zurückverfolgt werden kann, dem Land zu schaden.
Fingerübung 1: Angriff auf die Infrastruktur des Gegners
Ein rein hypothetisches Beispiel. Man möchte gern die Atomkraftwerke abschalten, um einen wichtigen Teil der Infrastruktur zu destabilisieren. Äußert man diese Ansicht mit offenem Visier, dann wird man als Atomkraftgegner verortet und die Wähler können entscheiden, ob sie einen dafür wählen oder nicht. Wurde man gewählt, dann können die Befürworter eine Bewegung gegen die Gegenbewegung aufbauen und versuchen, das Abschalten zu verhindern. Was nicht so schwer sein dürfte, wenn die Alternativen unzuverlässige Windkraft auf hässlichen Stängeln und Solaranlagen sind, die in einem nördlichen Land mit ziemlich wenig Sonne aufgebaut werden sollen. Vergessen wir nicht, die Entscheidung sollte ja absichtlich unsinnig sein, um dem Land zu schaden.
Der strategische Agent arbeitet daher anders. Er gibt sich als Kernkraftbefürworter aus. Dann führt er die Bewegung der Befürworter an. Jetzt wartet der Agent. Er wartet auf ein Ereignis, das das Abschalten gerechtfertigt erscheinen lässt. Fukushima. Klick und aus. Keine Gegenbewegung zum Abschalten mehr möglich, denn der Kopf der Befürworter hat ja gerade selbst die Kernenergie abgeschafft. Und niemand kann die Absicht dahinter mehr zurückverfolgen, denn die Stimmung ist gerade so schön Abschalt-Trunken. Schon ist die Infrastruktur des Landes empfindlich geschwächt und der Agent wird noch als Held gefeiert.
Nun denken Sie natürlich an die Kanzlerin. Die sieht sich vielen Vorwürfen ausgesetzt; in der FAS schreibt Patrick Bahners am 18.10. 2015 über eine „wachsende Entfremdung zwischen der seit 10 Jahren regierenden Kanzlerin und einer Mehrheit der Leute, deren Beruf die kommentierende Begleitung der Politik ist.“
Diese Frage vermag die Spieltheorie nicht zu beantworten. Ihr geht es um eine Modellierung von Entscheidungssituationen. Dieses Denkmuster des “Als-ob” ist in der Wirtschaftstheorie durchaus verbreitet und ist keine Unterstellung der Motive des anderen im wörtlichen Sinn, sondern eher eine abstrakte “Rationalisierung” des Verhaltens, das man beobachtet.
Die strategischen Überlegungen der Spieltheorie stellen sich hier auf keine Seite. Aber es ist zumindest bemerkenswert, dass ein befremdlicher Satz von Motiven zu der gleichen Verhaltensweise führen würde wie die, die wir tatsächlich erlebt haben. Das heißt aber nicht, dass auch genau diese Motive vorgelegen haben müssen.
Versuchen wir ein zweites Experiment.
Fingerübung 2: Staatsfinanzen ruinieren, ohne entdeckt zu werden
Machen wir noch eine Fingerübung. Man will die Staatsfinanzen ruinieren. Das ist nicht so leicht, weil in jedem Gremium um jede kleine Million gerungen wird und es deshalb schwierig wird, wirklich unsinnige Dinge in großem Stil durchzuboxen. Abwarten ist auch hier daher die bessere Vorgehensweise. Abwarten, bis es eine Sondersituation gibt, bei der man nicht über Millionen spricht, auch nicht über Milliarden, sondern über Billionen. Gleich mehr als eine auf einmal. Das ist bei einem Bruttoinlandsprodukt in der gleichen Größenordnung so viel, dass man sein Ziel mit einem Schlag erreicht. Eine Zahlungsverpflichtung in dieser Größenordnung installiert man am besten zunächst als kurze, vorübergehende Lösung, über die man wegen der Dringlichkeit und Kurzfristigkeit im Parlament nicht zu diskutieren braucht. Dann wartet man auf die Fußball-Weltmeisterschaft und macht die Entscheidung permanent, und zwar zwischen Halbfinale und Endspiel der eigenen Mannschaft. Fertig. Besonders schön ist auch hier, dass die Wirkungen nicht sofort eintreten, sondern so zeitversetzt, dass man noch den ein oder anderen Coup landen kann. Zurückverfolgen zur bösen Absicht wird damit fast unmöglich.
In der realen Wirklichkeit gehört die Dolchstoßlegende zur deutschen Denktradition. Danach handeln die Regierenden heimlich im Auftrag einer fremden Macht. Die Dolchstoßlegende vom Deutschen Heer, das im 1. Weltkrieg unbesiegt, aber von den Politikern gemeuchelt wurde, hat zur Verachtung für das parlamentarische System in der Weimarer Republik und zum Aufstieg Hitlers wesentlich beigetragen. Deshalb sei hier vor Analogien unbedingt gewarnt. Die Spieltheorie, wie so oft in der ökonomischen Theorie, vereinfacht, sie schält bestimmte Kernprozesse heraus, um Verallgemeinerungen zu ermöglichen. Der bewusste Verzicht auf historische Bedingungen hilft, die Entscheidungsfindung zu verstehen und verfälscht die Motivation von Handelnden, die nicht im Denklabor, sondern in der Wirklichkeit reagieren.
Ich betone nochmals, dass hier nicht behauptet werden soll, jemand in unserer Regierung sei tatsächlich der Agent einer fremden Macht, denn das Verhalten kann auch aus anderen Gründen eine strukturelle Ähnlichkeit damit haben. Dennoch kann man aus dem Erkennen dieser strukturellen Ähnlichkeit lernen, zum Beispiel weil man damit Fehler eines Entscheiders bemerkt oder nach anderen Mechanismen suchen kann, die zu dem Verhalten geführt haben.
Noch ein Beispiel:
Fingerübung 3: Fernmeldegeheimnis abschaffen ohne ein Gesetz zu brechen
Natürlich könnte der eine oder andere Bürger aufwachen, weshalb es angeraten ist, zur Sicherheit alle Menschen möglichst gründlich zu belauschen, um auf Widerstand frühzeitig aufmerksam zu werden und gegensteuern zu können. Der strategisch ungeschulte Agent würde jetzt heimlich die Telefon- und Datenleitungen belauschen und noch ein paar Gesetze zum Lauschangriff erst brechen und dann ändern. Das könnte aber zu Gegenbewegungen oder gar zur Enttarnung führen. Der schlauere Agent sieht deshalb unschuldig zu, wie private Unternehmen die Menschen dazu bringen, ihre Informationen ganz freiwillig auf fremde Server hochzuladen und private Brief- und Fernmeldeeinrichtungen gründen. Jetzt stellt man sich dumm, weil man ja Neuland betritt, und tut so, als fallen diese Einrichtungen nicht unter die Regelungen zum Brief- und Fernmeldegeheimnis. Schon sind die Rechte der Bürger weg, ohne dass ein einziges Gesetz geändert werden musste. Das ist besonders geschickt, denn die Folgen des Nicht-Tuns lassen sich immer besonders schwer zurechnen. Somit bleibt noch genug Zeit für weitere clevere Schachzüge.
Wie gesagt, das sind natürlich nur rein hypothetische Beispiele.
Die Theorie des strategischen Denkens lässt sich bestimmt nicht sinnvoll in dieser reinen Form auf das echte Leben übertragen, sondern ist nur ein abstraktes Gedankenspiel. Fingerübungen der Spieltheorie geraten mitunter in Konflikt mit der Wirklichkeit. Ein Glück.