Seit dem 18. April 2018 liegt dem Verfassungsgericht in Karlsruhe ein politisch hochbrisanter Eilantrag vor. Worum geht es? Etwa 50 wahlberechtigte Staatsbürger haben Gültigkeit der Bundestagwahl angefochten. Das war am 20.11.2017. Die Wahlprüfung ist ein Grundrecht. Es wird Art. 41 der Verfassung garantiert. Der Einspruch gegen die Wahl ist beim Bundestag unter dem Aktenzeichen 193/17 anhängig.
In das Berliner Parlament sind 709 Abgeordnete eingezogen. Das Hohe Haus hat in normaler Besetzung aber nur 598 Plätze. Es ist also total überfüllt. Bei der Wahl sind 46 sog. „Überhangmandate“ entstanden, so viele wie nie zuvor. Sie wurden ausgeglichen, aber nicht durch 46, sondern durch 65 sog. „Ausgleichsmandate“ – auch das ein absoluter Rekord. Doch niemand ist befugt, in das Wahlergebnis einzugreifen, es nachträglich zu verändern, zu verbessern oder irgendwie „auszugleichen“, ohne dass die Wähler das letzte Wort haben. Den 65 Abgeordneten, die lediglich ein nachgeschobenes Ausgleichsmandat bekleiden, sind also gar nicht durch eine basisdemokratische Volksentscheidung der Wahlbürger verfassungsrechtlich legitimiert. – Man glaubt es nicht, aber im Deutschen Bundestag gibt es 65 „blinde Passagiere“!
Die Wahlprüfung ist ein Grundrecht
Die 50 Staatsbürger, die bereits gegen die Gültigkeit der Bundestagwahl Einspruch eingelegt haben, machen dagegen Front. Es kann nicht hingenommen werden, dass an der Wahl der Bundeskanzlerin 65 Abgeordnete teilgenommen haben, die gar keine gewählten Abgeordneten sind. Auch kann es nicht hingenommen werden, dass sie an der nachfolgenden parlamentarischen Willensbildung teilnehmen. Mit ihrem Eilantrag haben die 50 Beteiligten des Wahleinspruchs (WP 193/17) sofortige Abhilfe verlangt und Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt, die 65 „blinden Passagiere“, die lediglich ein nachgeschobenes Ausgleichsmandat bekleiden, so lange von allen Abstimmungen im Bundestag fernzuhalten, bis die Streitfrage in der Hauptsache entschieden wurde.
Aber was soll, das heißen: Der Bundestag ist zu groß? Der Bundestag kann und darf nicht zu groß sein. Ist er zu groß, ist er auf Betreiben des Parlamentspräsidenten – unverzüglich – auf die gesetzliche Mitgliederzahl zu verkleinern. Ein zu großer Bundestag ist rechtlich ein zwingender Grund für seine sofortige Verkleinerung. Daran führt kein Weg vorbei. Schäuble ist der „Zweite Mann“ im Staat. Er hat im Parlament für Recht und Ordnung zu sorgen. Er muss dem Skandal so schnell wie möglich ein Ende setzen, dass sich im Bundestag 65 „blinde Passagiere“ tummeln, die gar keine gesetzlichen Abgeordneten sind. Darüber kann man nicht eine ganze Legislaturperiode lang mit Achselzucken hinweggehen. Schäuble muss handeln oder zurücktreten.
Es kann nicht sein, dass schon an der Kanzlerwahl 111 Mitglieder des Bundestages mitgewirkt haben, von denen 46 sog. „Überhangmandate“ bekleiden, die allgemein missbilligt werden und die von den „Verfassungshütern“ in Karlsruhe am 25.7.2012, (BVerfGE 131, 316) gedeckelt wurden. Insbesondere kann es nicht sein, dass weitere 65 Abgeordnete – ohne unmittelbares Zutun der Wähler, d.h. ohne gesonderte Nachwahl, auch über den Mandatsausgleich – ein nachgeschobenes Ausgleichsmandate erhalten. Schon gar nicht kann es sein, dass der Ausgleich größer ist als der Überhang.
Und wer es ganz genau wissen will, dem kann geholfen werden: Im führenden Kommentar des Bundeswahlrechts, von Wolfgang Schreiber (BWahlG 9. Aufl. 2013) hält Karl-Ludwig Strelen fest, Ausgleichsmandate seien Zusatzmandate (vgl. § 6, Rdnr. 29); Abgeordneten würden grundsätzlich gewählt (vgl. § 1, Rdnr. 5); ein nachträglicher Bonus sei ausgeschlossen (vgl. § 1, Rdnr. 17); es dürfe keine staatliche Instanz zwischen Wähler und Gewählten stehen, die in das Wahlergebnis eingreift (vgl. § 1, Anm. 29); und der Wähler müsse das letzte Wort haben (vgl. § 1, Rdnr. 15).
Schäuble hat es nicht eilig
Seit der Wahl am 24. September sitzen 709 Abgeordnete im Bundestag – so viele wie nie zuvor. In keinem Parlament einer westliche Demokratie werden „blinde Passagiere“ geduldet und dürfen dort in der laufenden ja sogar der nächsten Legislaturperiode mitfliegen. Eine Reform des Wahlrechts war in der vergangenen Legislaturperiode trotz mehrerer Versuche nicht zustande gekommen. Auch Schäubles Vorgänger im Amt, Norbert Lammert, hat sich am Wahlrecht die Zähne ausgebissen. Angesichts „unabsehbarer Größenordnungen“ hat er – ohne jeden Erfolg – eine Begrenzung auf 630 Abgeordnete gefordert. Doch das würde das Problem überhaupt nicht lösen. Werden die Ausgleichsmandate gedeckelt, wie das Lammert vorgeschlagen hat, darf es ja nicht mehr als 15 Überhänge geben. Das hat das Verfassungsgericht am 25.7, 2012 (BVerfGE 131 316) so entschieden. Und wer will schon die Hand dafür ins Feuer halten, dass die sog. „Überhänge“ unter der zulässigen Obergrenze bleiben, wenn es keinen Ausgleich mehr gibt?
Das geltende Wahlrecht des Bundes – es ist das 22. Wahlrechtsänderungsgesetz in nur 19 Legislaturperioden – hat aber nicht nur eine Macke: die Aufstockungsmandate. Andere kommen hinzu. Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Und zwei Wahlen führen zu zwei verschiedenen Wahlergebnissen, weil beide Stimmen ja getrennt vergeben werden können. Der Bundestag besteht in normaler Besetzung aus 598 Mitgliedern. Es gibt aber nur 299 Wahlkreise. Deshalb können die Wähler auch dann nicht alle 598 Abgeordneten mit beiden Stimmen wählen, wenn sie beide Stimmen ohne jede Ausnahme im Verbund abgeben sollten, was ja die Splitting-Wähler, die beide Stimmen aufspalten, millionenfach gar nicht tun. Auch die Zahl der Wahlkreise ist also von vorneherein viel zu klein.
Die Zahl der Wahlkreise ist zu gering
Die 598 Abgeordneten gelangen auf zwei grundverschiedenen Wegen in das Parlament. Von ihnen werden 299 nach dem Prinzip der klassischen Direktwahl in 299 Wahlkreisen unmittelbar gewählt. Insoweit gilt also auch in Deutschland die Personenwahl in überschaubaren Wahlkreisen nach dem althergebrachten „Westminster-Modell“, das in Großbritannien seit 1429 in den Urkunden nachgewiesen werden kann. Doch 410 von den insgesamt 709 Abgeordneten, die 2017 in den Bundestag eingezogen sind, kommen über die 16 Landeslisten in das Hohe Haus. Weil die Zahl der 299 Wahlkreise und die Zahl der 709 Mandate nicht übereinstimmen, gibt es zwangläufig zwei sehr verschiedene, wie durch einen tiefen Graben getrennte Wege in den Bundestag. Dieses Verfahren wird deshalb im Schrifttum als „Grabensystem“ bezeichnet, verstößt aber elementar gegen den Grundsatz der gleichen Wahl.
Eine gewaltige Personalisierungslücke
Das Grundgesetz verlangt die unmittelbare Personenwahl. Die Zweitstimme ist also für sich allein genommen nicht verfassungskonform. Sie muss durch die Erststimme personell ergänzt, d.h. personifiziert und damit verfassungsrechtlich legitimiert werden. Bei mindestens 299 Abgeordneten ist das von vorne herein gar nicht möglich. Im Ergebnis entsteht also eine gewaltige Personalisierungslücke von mindesten 299 Abgeordneten. Sie werden nicht unmittelbar gewählt, wie es das Grundgesetz verlangt, sondern gelangen mittelbar über die Landeslisten der Parteien in das Parlament, was der in Art. 38 GG verbürgte Grundsatz der unmittelbaren Personenwahl nicht zulässt. Schon in seiner Nachrücker-Entscheidung v. 26.2.1998 (BVerfGE 97, 3127) hat das Gericht in Karlsruhe festgehalten: „Die bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“
Der Autor lebt in München und hat als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht. Zuletzt: „BWahlG Gegenkommentar“, zweite, aktualisierte und erweitere Auflage, 2018, ISDN 978-3-96138-053-4. Vgl. zur Person des Autors und zum Wahlrecht vgl. dessen Internetseite: www.manfredhettlage.de