Tichys Einblick
Gestörte Wahrnehmung

Münster: „Psychisch gestört“, Fall damit abgehakt?

Schreiben Medien eine Gewalttat einem islamischen Hintergund zu, ertönt der Ruf nach Integration. Täter, die als psychisch gestört erklärt werden, sind Gegenstand der Statistik.

© John MacDougall/AFP/Getty Images

Ist das nicht irre? In seinem Bestseller „Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen“, schreibt der Psychiater und Theologe Dr. Dr. Manfred Lütz: „Wenn spektakuläre Straftaten psychisch Kranker passieren, werde ich manchmal von Fernsehsendern interviewt. Nach angemessener Würdigung des Einzelfalles weise ich dann stets darauf hin, dass, statistisch gesehen, psychisch Kranke weniger Straftaten verüben als Normale. Mein Fazit: Hüten Sie sich vor Normalen! Damit das Leben der Normalen nicht ganz so langweilig ist, begehen diese Mord und Totschlag, überfallen andere Leute, führen Kriege und tun andere schlimme Dinge.“

Wenn der Täter nicht paßt
Münster: Nachahmer des islamistischen Terrors
Schon wenige Momente nach dem Anschlag in Münster wussten die Medien zu berichten, dass der Täter „psychisch gestört“ war. So kurz nach der Tat für mich eine erstaunliche Erkenntnis, vielleicht auch der medialen Eingebung geschuldet, dass kein „geistig Normaler“ jemals auf die Idee käme, mit einem Kleinbus in eine Menschenmenge zu fahren, um sich danach sofort zu erschießen. Dem muss jedoch widersprochen werden, politisch motivierte Terroristen begehen solche Straftaten in voller geistiger Zurechnungsfähigkeit, insofern man den immer mehr um sich greifenden militanten Fanatismus religiöser Prägung als „normal“ bezeichnen muss. Das einst „Unnormale“ wird auch in Europa zunehmend zum „Normalen“ umdeklariert. Radikalisierungen an allen Fronten ist der Preis der Globalisierung mit offenen Grenzen und dem Rückbau der Nationalstaaten. Flüchtlingsströme, ständig umherziehende Arbeitnehmer, zunehmende Einsamkeit und Terroranschläge sind die Kehrseite der neuen bunten Vielfalt.

Welchen tatsächlichen Motivationshintergrund Jens R. zu seiner Tat führte, ist bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt amtlicherseits gegenüber der Öffentlichkeit noch nicht kommuniziert worden. Die Annahme geht bisher von einem Amoklauf aus.
Schauen wir uns deshalb die in diesem Zusammenhang immer wieder medial verbreitete „Persönlichkeitsstörungen bzw. –erkrankungen“ einmal etwas näher an.
Was versteht man unter einer „psychischen Erkrankung“? Hierzu zählen entsprechende Diagnose-Klassifikationssysteme (ICD-10 WHO oder DSM-V), beispielsweise hirnorganische Schädigungen, Psychosen, Depressionen, Schizophrenie, Substanzmissbrauch durch Drogen, Medikamente und Alkohol oder Persönlichkeitsstörungen, so eine antisoziale Persönlichkeit, Borderline oder Angststörung.

Statistisch gesehen sind psychisch erkrankte Personen tatsächlich nicht gefährlicher als der Durchschnitt der Bevölkerung. Aber jeder kennt den Spruch: „Im statistischen Mittel war der Teich nur 1,10 Meter tief, trotzdem ist die Kuh darin ertrunken“. Denn es gibt Personen mit Störungen und Erkrankungen, von denen tatsächlich deutlich mehr Gefahren ausgehen. Dabei ist die häufigste unnatürliche Todesursache der Suizid; 90 Prozent dieser Menschen gelten als psychisch krank. Andere Personen fallen nie als Gewalttäter auf, sie schädigen sich selbst, vereinsamen, verwahrlosen, verletzen sich oder erkranken aufgrund ihrer Lebensweise daran und sterben.
Außerdem werden psychisch erkrankte Menschen häufiger Opfer von Gewalttaten. Nach einer schwedisch-amerikanischen Studie über einen Untersuchungszeitraum von acht Jahren war fast ein Viertel der in Schweden ermordeten Menschen psychisch krank. Die Wissenschaftler Crump und Sundquist konstatierten für die Getöteten ein vermindertes Gefahrenbewusstsein aufgrund ihrer krankheitsbedingten kognitiven Einschränkungen.

Fahrlässige Kategorisierung
Einheits-Tätermerkmal: psychisch gestört
Der bayerische Polizeipsychologe Dr. Schmalzl führt im Ratgeber „Grundwissen Eigensicherung“ drei Faktoren für erhöhte Gewaltdelinquenz auf: Schizophrenie, Psychopathie und Substanzmittelmissbrauch (Drogen, Alkohol, Medikamente). Außerdem verweist er auf Personen mit manisch-depressiven Psychosen und affektiven Störungen, die sich in Aggressionen entladen können. Ist diese Erkrankung mit einer Alkohol- oder anderen Drogenabhängigkeit verbunden, steigt die Wahrscheinlichkeit für eine gewaltkriminelle Handlung um ein Vielfaches. Aus zahlreichen Untersuchungen geht hervor, dass Personen, die den drei vorgenannten Gruppen zugeordnet werden, durch gesteigerte Häufigkeit sowie Intensität von Gewalthandlungen auffallen. Nach einer finnischen Studie ist die Wahrscheinlichkeit, als Schizophrener für ein Tötungsdelikt verurteilt zu werden, achtmal – nach einer australischen Untersuchung sogar zehnmal – höher als für den Durchschnitt der jeweiligen Bevölkerung. Nach amerikanischen Studien beträgt in den USA der Anteil an gewalttätigen Verhaltensweisen bei Schizophrenen 8 %. Kommt noch Drogenmissbrauch hinzu, sind es 30 % – gegenüber 2 % bei der übrigen Bevölkerung. Überhaupt ist zu sagen, dass eine hohe Anzahl der Delikte mit Substanzmissbrauch einhergeht. In Deutschland wird jede vierte Gewalttat unter Alkoholeinfluss begangen.

Eine noch größere Gefahr geht jedoch von antisozialen Personen und Psychopathen aus. Während von Alkoholabhängigen ein elffach erhöhtes Risiko ausgeht, geht von Personen mit einer dissozialen Störung ein zwölffaches Risiko dafür aus, wegen Mordes oder Totschlags verurteilt zu werden. Für den kanadischen Kriminalpsychologen Prof. Robert D. Hare gibt es einen Grund für die Gewaltbereitschaft von Psychopathen:

„Der auffälligste – aber keineswegs einzige – Ausdruck von Psychopathie besteht in abscheulichen und kriminellen Verletzungen der gesellschaftlichen Regeln.“
Es ist nicht überraschend, dass viele Psychopathen Verbrecher sind. Vielen von ihnen gelingt es allerdings, dem Gefängnis zu entgehen. Mit Charme und chamäleonartiger Anpassungsfähigkeit schlagen sie eine breite Schneise der Verwüstung durch die Gesellschaft und lassen zerstörte Leben hinter sich.“

In Deutschland wird die Zahl der Psychopathen auf eine halbe Million geschätzt. „Die Chance, dass Sie es in Ihrem Leben schon einmal mit einem Psychopathen zu tun hatten, liegt bei genau 100 %.“, sagt der Tübinger Hirnforscher Niels Birbaumer. Nur die Hälfte davon fällt strafrechtlich auf bzw. landet im Gefängnis. Die anderen 50 % sind in bevorzugten Berufen sehr erfolgreich. Also nicht jeder Psychopath ist kriminell und nicht jeder Kriminelle ein Psychopath. Die bevorzugten legalen Berufe sind Firmenboss, Anwalt, Medien-Berichterstatter (Radio, Fernsehen), Verkäufer, Chirurg, Journalist, Polizist, Geistlicher, Koch oder Beamter. Zur Gewichtung – der Anteil soll in einer Bevölkerungspopulation ca. 4 % betragen. Es gibt also durchaus Karrieren, die andererseits für Menschen mit solchen Persönlichkeitsstörungen förderlich sind.
Narzissmus ist dem gegenüber allgegenwärtig ausgeprägt, in der die überzeichnete Individualisierung immer mehr voranschreitet. Der Hallenser Psychotherapeut Hans Joachim Maaz spricht sogar von einer narzisstischen Gesellschaft. Ein wenig aufpassen sollte man schon, Narzissten verunglimpfen gern „Normale“ als „Psychopathen“ oder „Querulanten“, wenn diese sich nicht entsprechend manipulieren lassen. Ein beliebtes Spiel im Alltag.

Vorfreisprechung
Thüringen: Nach Sprengstoff-Fund ausbleibender Medienrummel - weil Täter von der falschen Seite?
Und ein weiteres Phänomen wird immer mehr bekannt: Personen, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (Post-Traumatic-Stress Disorder, PTSD) leiden. Nicht jeder entwickelt nach belastenden Situationen dieses seelische Verletzungsbild, da angenommen wird, dass im westeuropäischen und US-amerikanischen Kulturkreis etwa 60 % aller Menschen in ihrer Biografie mindestens ein Trauma erleben. Personen, die im Alltag ausgesprochen höflich sind, können „ohne Anlass“ plötzlich beispielsweise übermäßige Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit und/oder gewaltätige Wutausbrüche entwickeln. Es kann Reaktionen ergeben, die bisher überhaupt nicht zum Persönlichkeitsbild dieser Person gepasst haben. Ihr Gedächtnis macht bei Schlüsselreizen (Triggern) auch ein eher „problemloses“ Ereignis „passend“ und gleicht dieses mit dem real erlebten (traumatischen) Erlebnis ab. Es ist eine Mär, dass alle Flüchtlinge „traumatisiert“ seien, auch Zahlen wie „50 %“ kann man getrost als Märchen verorten, selbst wenn sie von einschlägigen Fachleuten genannt werden. Damit will man an unsere tief verankerte Hilfsbereitschaft im Unterbewusstsein appellieren. Personen, bei denen eine psychische Vorerkrankung oder Störung vorliegt, leiden nach einem traumatischen Erlebnis eher an einer PTSD als gesunde und stabile Menschen.

Was man nicht bedenkt: Bei jeder neuen Ausgabe der oben im Text angeführten diagnostischen Handbücher kommen immer mehr psychische Störungen dazu. Der Verdacht liegt nahe, dass man am Ende der Spirale für alles und jedes menschliche Verhalten eine Diagnose aufstellen kann. Die Pharmaindustrie steht dieser Tendenz vermutlich sehr aufgeschlossen gegenüber.

Zu Bedenken wäre auch, dass man zu allen Zeiten unliebsame Personen die Stigmatisierung „psychisch krank“ überhelfen wollte, um diese mundtot und unglaubwürdig zu machen. Der Fall Gustl Mollath dürfte noch in aller Munde sein, auch dass die Erstgutachten durch die spätere gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. Klemens Dieckhöfer zusammenfassend und sinngemäß als unwissenschaftliche Folklore abgetan wurden.

Psychische Erkrankungen und Störungen sind von Menschen aufgestellte künstliche Kategorien, die Beobachtungen beschreiben, die zur Verhaltensspanne der Menschheit in jeder Generation gehören. Wissenschaftler streiten sich darüber, ob psychische Auffälligkeiten zunehmen oder nur aufgrund einer ansteigenden Sensibilisierung durch Ärzte öfter als früher diagnostiziert werden.

Jeder zweite Arbeitnehmer fühlt sich von Burnout bedroht. „Burnout“ ist der Modebegriff für Führungskräfte währenddessen Mitarbeitern „nur“ eine Depression bescheinigt wird. Dabei ist beides mehr als nur ähnlich. Stress durch Überarbeitung, Existenzangst, Leistungsdruck und ein defizitärer Führungsstil durch Vorgesetzte können ursächlich sein. Das findet man auch in der Polizei.

Wir haben es aber auch zunehmend mit einer Spaltung der Gesellschaft und damit einhergehenden Entfremdung der Menschen zu tun. „Toleranz“ und politische Korrektheit, der opportunistische Druck angepasst zu sein, führt zu Frustrationen und macht innerlich einsam. Denk- und Sprechverbote durch eine selbsternannte kleine Elite, Ausgrenzungen und Entmenschlichungen des politischen Gegners führen zum Gefühlsstau, der sich destruktiv explosionsartig entladen kann. Das Ergebnis können Amokläufe sein, Suizid oder der erweiterte Suizid mit furchtbaren Folgen für viele Unbeteiligte. Es gibt Menschen, bei denen manifestiert sich der Energiestau seit Kindheit an.

Wir, die Gesellschaft, sind dabei nicht raus aus der Ursachenanalyse. Der profane Verweis darauf: „Täter war psychisch gestört, Fall erledigt“ geht regelmäßig fehl. Denn neben dem individuellen Versagen, verwehrt es uns den Einblick darauf, wie es kommen konnte, dass Menschen krank werden und andere Unschuldige mit in den Tot reißen.

Das linksgrüne Milieu schreit nach jedem Terroranschlag, wir sollten die Integration von Muslimen verbessern. Wo bleibt deren Schrei bei deutschen Tätern? Wie konnte es dazu kommen, dass ein Mensch keinen anderen Ausweg mehr fand, als durch ein schweres Verbrechen aus der Welt zu scheiden?

Zurück zu Münster. Unabhängig von den weiteren notwendigen Ermittlungen zu den Hintergründen, reicht es nicht, nur immer wieder auf den Täter zu verweisen. Es ist ganz offensichtlich, dass der Polizei u. a. Einrichtungen psychischen Auffälligkeiten bekannt waren. Wie sonst konnten die Medien bereits so kurz nach der Tat über diesen Umstand berichten? Damit ist der Fall keineswegs abgeschlossen. Wir dürfen jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen.

Prof. Müller, Jurist und Verkehrsrechtsexperte an der Sächsischen Polizeihochschule (FH) schreibt auf Facebook u. a. über den Fall Münster folgendes:

Es gibt mehr Möglichkeiten, auf psychisch labile Menschen einzuwirken, als man denkt. (…)Dieser Täter war strafrechtlich aufgefallen (u. a. durch Sachbeschädigung und Bedrohung) und hatte einen Suizidversuch hinter sich. Allesamt Möglichkeiten, auf ihn einzuwirken und letztendlich diese Tat zu verhindern.

Fast jeder, der eine von der Fahrerlaubnisbehörde angeordnete MPU absolvieren muss, begibt sich vorher zu einem Verkehrspsychologen, der ihn in ca. 6 – 10 Terminen mit seinen charakterlichen, psychischen und gesundheitlichen Problemen konfrontiert. Zudem hat man über diesen Weg die Chance, von allen involvierten Personen aus psychisch labile Täter zu erkennen und nach dem PsychKG einzuweisen bzw. einweisen zu lassen.“

Leider beherrschen bundesweit nur sehr wenige Polizeibeamte souverän die gesetzliche Meldepflicht gem. § 2 Abs. 12 StVG. Dabei sind die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung ein wirklich gut verständlicher und breit aufgefächerter Katalog der meisten Meldepflichten (psychische Erkrankungen auf den Seiten 73 ff.; kostenfrei abzurufen über den folgenden Link). Wer diese aber in seiner Aus- und Fortbildung nicht kennengelernt hat, muss ja beinahe zwangsläufig seine Meldepflichten ignorieren. Daher werde ich nicht müde, immer und immer wieder auf diese polizeiliche Bildungslücke hinzuweisen, die viel mehr Möglichkeiten staatlicher Intervention bietet, als die meisten Polizeibeamten, Staatsanwälte und Strafrichter glauben.

Sollten die Münsteraner Polizei, Verwaltungsbehörden und ordentliche Gerichtsbarkeit meine berechtigten Fragen zur behördlichen Zusammenarbeit hinsichtlich dieses ortsansässigen, polizeibekannten und von der Justiz mehrfach in Verfahren verschont gebliebenen Münsteraner Straftäters nicht beantworten können, ist wohl anzuregen, einen Untersuchungsausschuss des Landtages in NRW einzusetzen, der die komplexen Zusammenhänge aufklärt.”

Der Jubel darüber, dass es diesmal kein Islamist war, kommt verfrüht.


Steffen Meltzer ist Buchautor von „Schlussakkord Deutschland“. Der Text enthält Auszüge aus seinem Buch „Ratgeber Gefahrenabwehr“ (vergriffen). Eine Neuauflage erscheint Juli 2018.

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