Schulen in Deutschland wurden bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich von einheimischen Kindern besucht, in der DDR bis in die 90er Jahre. Das Wort „Toleranz“ wurde im Unterricht nur als Fremdwort, bestenfalls als theoretische Konstruktion oder bei Lektüren besprochen, es gehörte nicht zum aktiven Wortschatz.
Das Schulklima wird verändert
In der schulischen Praxis ging es nicht um „Duldsamkeit“ gegenüber Mitschülern aus einem fremden kulturellen Milieu, sondern Konflikte wurden – nach der Klärung von Ursache und Anlass – mit Auflagen und mit „Behutsamkeit“, also sorgsam und umsichtig gelöst. Die Schüler von heute kennen eher den Inhalt von Toleranz als von Behutsamkeit, für die meisten migrantischen Schüler fehlt es im Vokabular, wie viele andere deutsche Begriffe auch.
Seit über 50 Jahren wird das Schulklima hierzulande verändert – und damit ist nicht nur die stärkere Gewichtung des Erziehungs- gegenüber dem Bildungsauftrag gemeint. Erst kaum merklich für die Gesellschaft, spürbar aber für die Lehrer, dann bei der Ausbildung beklagt von der Wirtschaft wegen der fehlenden Kenntnisse in Deutsch, Mathematik und der Pünktlichkeit…, schließlich von den Pisa-Ergebnissen belegt und durch den kürzlich veröffentlichten Bildungsmonitor der INSM aktualisiert, letztlich angekommen in den Universitäten.
Trotzdem gibt es immer noch mehr Rufe nach Toleranz gegenüber diesen Veränderungen als Schreie nach behutsamer Gegensteuerung. Dabei gibt es eine Reihe von belastbaren Indizien, die diese Richtung erheischen:
Ramadan, der islamische Fastenmonat. Die Verwirrung beginnt schon damit, wann er endet und somit, wann die Schüler islamischen Glaubens zum Fastenbrechenfest schulfrei haben. Manche nehmen dann gern gleich zwei Tage in Anspruch. Auch wenig Auffällige in Glaubensfragen lassen sich von den anderen anstecken und fasten vier Wochen lang. Da sie nur sehr spät und am nächsten Morgen sehr früh essen und trinken dürfen, kommen diese Schüler übermüdet zum Unterricht und sind auch am Tage wenig lern- und leistungsfähig. Zu diesem schulfreien Fest kommt noch ein gerüttelt Maß anderer hinzu, die den Unterrichtsrhythmus beeinflussen: das Opferfest, die jüdischen Feiertage Jom Kippur und Rosch Haschana, das um dreizehn Tage verschobene orthodoxe Weihnachten, daneben noch die christlichen Feiertage Fronleichnam, Reformations-, Buß- und Bettag. An diesen Tagen fehlen immer mehrere Schüler; es ist kein regulärer Unterricht möglich, denn für die Zurückgebliebenen kann es nur ein Notprogramm geben, um die Kontinuität nicht zu gefährden.
Das Kopftuchlied. Die Sportlehrer könnten ein Lied davon singen, würden sie denn Musik unterrichten. Oft ohne Vorankündigung sitzen in der 7./ 8. Klasse auf einmal Mädchen in der Klasse, deren Haare für die meisten Lehrer von nun an nicht mehr sichtbar sind. Es ist ihre freie Entscheidung oder die ihrer Eltern oder die ihrer Glaubenslehre. Die Schule lässt ihnen diese Freiheit, aber sie stößt an ihre Grenzen und damit beginnen die Schwierigkeiten. Im Sportunterricht werden sie augenscheinlich und behindernd: Nur in der Sporthalle und unter Mädchen und mit einer Sportlehrerin ist der Unterricht ohne Kopftuch möglich. Die Sportdisziplin Schwimmen kann nicht belegt werden oder nur unter entsprechenden Vorkehrungen. Oder es wird allem aus dem Weg gegangen, indem man sich vom Fach fernhält.
„Was willst du denn mal werden?“ Antworten auf diese Frage sind für viele Jugendliche ein Buch mit sieben Siegeln. Da langjährige Hartz-IV-Empfänger nicht mehr oder über keine spezifischen und aktuellen Berufserfahrungen verfügen, scheiden sie als berufliche Elternvorbilder aus. Ihre Rolle muss die Schule übernehmen, obwohl auch die meisten Lehrer keinerlei andere Berufsfelder in ihrem Werdegang kennen gelernt haben. Das Manko wird zumindest teilweise durch das Fach Wirtschaft/Arbeitslehre und durch zeitweilig vor Ort tätige Mitarbeiter der Arbeitsagentur und der so genannten Vertieften Berufsorientierung ausgeglichen. Betriebserkundungen und Praktika können eine gewisse Harmonisierung schaffen, die Weitergabe der beruflichen Stafette ist jedoch unterbrochen.
Sprach- und Bildungsrückstände. Der schulische Kanon beinhaltet viele Lesestücke, die Wörter und Wendungen aus Märchen, Kinderliedern und der Bibel enthalten, auch feste Fügungen von Muttersprachlern sind unbekannt. Die Lehrer können nicht von einem Standardwortschatz in der Klassenstufe ausgehen, sondern müssen sich stündlich mühsam den Stand vieler einzelner Schüler erarbeiten und das Tempo so drosseln, dass möglichst alle den Text am Ende verstanden haben. Oder sie müssen ihn vorausahnend am Computer bearbeiten, die Verdichtung aufheben, Worterklärungen anfügen, so dass von dem ursprünglich vorgesehenen Sprachwerk nur noch Fragmente übrig sind. Und das, wenn es durchgängig gehandhabt wird, auch durch den Geschichts-, Biologie- und Musiklehrer. Die Schulbuchmacher haben sich umsonst mit der Suche nach dem treffenden Text und dem unterstützenden Layout befasst.
Aber bitte Respekt! Das Wort wird im Deutschen meist gebraucht, wenn man einem anderen Menschen ausdrücken will, dass man Hochachtung vor ihm empfindet, weil man seine Leistung oder Haltung in einem Lebensbereich für hervorragend hält. In der Schule wird mittlerweile dieses Wort bedeutungserweitert inflationär häufig gebraucht. Jeder fordert vom Gegenüber laufend Respekt ein, in dem Sinne, dass man ihn und sein Tun achten, dass man Rücksicht nehmen, dass man seine Worte und Handlungen dulden solle. Da fordert der Schüler, dass man Rücksicht auf die Fastenzeit nehmen, da mahnt er den Lehrer, dass er doch respektvoll reagieren solle, wenn er denn zu spät kommt, da wird darüber verhandelt, ob nicht auch der Täter Respekt verdiene. Kurse mit diesem Inhalt feiern Hochkonjunktur, ob sie nun Antigewalttraining heißen oder sich bloß mit Toleranz beschäftigen.
Schlag auf Schlag. Ruhig und entspannt verlaufen die Schultage selten, Vorfälle aller Art und gegen jedermann: Beleidigungen und Beleidigtsein, versteckte und offene Drohungen, Handgreiflichkeiten und Faustattacken, Schlagringe und Messer in den Taschen. Trotzdem sind Ranzenkontrollen stark limitiert, häufig dagegen die Einbeziehung von ansässigen Sozialarbeitern, Psychologen, zuständigen Polizisten; von Klärungsversuchen im Unterricht und in den Pausen, von Gesprächen mit den Eltern und der Jugendhilfe; von Einladungen zu Klassen- und Schulhilfekonferenzen bis zu Gerichtsterminen. Zeit, die beim Lernen fehlt und den „unbeteiligten“ Schülern und den Lehrern die Energie raubt.
Alles ist ehrenrührig. Ehre, wem Ehre gebührt, Gottes Ehre, die Ehre der eigenen Familie, von Vater, Mutter, Kind, Cousins, des großen Bruders, aber nicht der fremden Sippe. Meine Ehre, deine Ehre. Ehrenvolle Heirat, die Ehre der Jungfräulichkeit, die Unehre der Dirne. Keine Ehre, ehrlos. Ehre futsch, alles futsch. Bei seiner Ehre packen und mit dem Messer stoßen. Nicht aller Ehren wert die Gewalt im Klassenraum, auf dem Schulhof und auf der Straße. Geehrt werden nicht die Leisen, die es schwer haben mit dem Lernen, aber sich ernsthaft bemühen. Häufig falsch geschrieben: Geehrte Damen und Herren. Falsche Ehre. Unehrlichkeit. Üb immer Ehr (Treu) und Redlichkeit. Mit wem haben wir eigentlich die Ehre, Euer Ehren? …
Kulturelle Bereicherungen? Bunte Vielfalt? Zu vernachlässigende Randerscheinungen? Doch wohl nicht. Damit wir uns nicht missverstehen: Viel liegt auch an der Schülermischung aus Migration zusammen mit prekärer sozialer Lage.
Aktuell wird die Bevölkerung in Deutschland durch Flüchtlinge und Einwanderer sichtbar erweitert. Die Erwachsenen unter ihnen bleiben noch Monate und länger in den Aufnahmeeinrichtungen und damit für die meisten Bürger außer Sicht. Sofort in den Alltag treten die bis zu 300.000 schulpflichtigen Flüchtlingskinder ein, sie stoßen unvermittelt in den „Mikrokosmos“ Schule, verändern ihn weiter hinsichtlich Leistung, Verhalten und Atmosphäre. Das ist nicht mehr nur eine Herausforderung, es ist eine Belastung für jede Form von Duldsam- und Behutsamkeit.
Dr. Klaus D. Paatzsch hat als Lehrer für Deutsch und Geschichte und häufig als Klassenlehrer Jahrzehnte Erfahrungen mit migrantischen Schülern des 7.-10. Jahrgangs in Berlin-Moabit gemacht, zuletzt waren nur noch 2 nicht-migrantische Schüler in seiner Klasse.
Er beschrieb auch seine Empfindungen und Fragen zur Asylkrise als „gewöhnliches Gemüt“.
Weitere Beiträge in dieser Serie:
– Tomas Spahn: Das Plädoyer für humanen Kolonialismus 2.0
– Sebastian Richter: Finnland – nur 2,7% Asylsuchende aus Syrien
– Klaus Engel: „The German Dream“
– Alexander Pschera: Die letzten Franzosen
– Dr. Klaus Paatzsch: „Flüchtlinge in Not – Wir in Nöten“